Die Offenbarung der Zeit

Zu Raúl Ruiz’ Verfilmung von „Die wiedergefundene Zeit“ nach dem gleichnamigen Abschlussroman der „Recherche“ von Marcel Proust

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

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„Das ist eigentlich nur die Geschichte einer Person, die Marcel Proust ähnlich ist. Die Geschichte des Erzählers, der sich eine Frage stellt, nämlich: Bin ich ein Schriftsteller? Das ist ein Mann, der sich verliert – deshalb spricht man von der ,verlorenen Zeit‘ – in den Salons, in der mondänen Welt und in Frivolitäten. Und der suchend und entdeckend am Ende des Werks – und das ist die ,wiedergefundene Zeit‘ – die Offenbarung der Zeit hat, der Zeit, die alles transzendiert, d.h. die Offenbarung der Kunst. Und deshalb beschließt er am Ende zu schreiben. Das ist sein Weg. Das ist ein Aspekt. Es gibt natürlich andere. Aber es ist der Aspekt, auf den ich mich mit Raul Ruiz bei der Adaption gestützt habe“, sagt Gilles Taurand in einem Interview über die Verfilmung des letzten Bandes von Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, deren Drehbuch er und der Regisseur des Films, Raúl Ruiz (1941-2011), verfasst haben.

Obwohl wiederholt behauptet worden ist, die „Recherche“ sei nicht verfilmbar, haben sie sich wie andere Filmemacher – Percy Adlon in „Céleste“ (1981), Völker Schlöndorff in „Un amour de Swann“ (1984) oder Chantal Akermann in „La captive“ (2000) – auf dieses „Wagnis“ eingelassen und sich dabei genau an Prousts „Le temps retrouvé“ gehalten, die 1927, fünf Jahre nach seinem Tod, erstmals erschien.

Raúl Ruiz’ im Mai 1999 bei den Festspielen von Cannes uraufgeführte Verfilmung übertrifft allerdings die anderen mit ihrer Opulenz und Kühnheit. Der chilenisch-französische Regisseur hat zum einen weltberühmte Schauspieler wie Catherine Deneuve, John Malkovich und Emmanuelle Béart für seinen gut 160 Minuten langen Film gewonnen und ihn im Stil und der Mode um 1900 reich ausgestattet. Zum anderen ist sein Ansatz ist ein doppelter, wie es auch Reiner Niehoff in seinem Essay „Unverfilmbar? Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und der Film“ formuliert: „Ruiz’ Film ist […] nicht nur der Versuch, das Resümee der Recherche kinematographisch umzusetzen, sondern zugleich der Versuch, das Resümee der Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Proust-Verfilmung zu ziehen. Ruiz macht nicht nur einen Film über Proust, sondern auch einen Film über die Verfilmungen von Proust und über die Probleme und Chancen, die eine Verfilmung aufwirft und gewährt.“

Der Film beginnt in Prousts Schlafzimmer, wo sich der gealterte Autor, von seiner Haushälterin Céleste gepflegt, alte Fotografien anschaut und in Erinnerungen zu schwelgen beginnt. Autor und Erzähler sind jedoch nicht identisch. Der Letztere, gespielt von dem italienischen Schauspieler Marcello Mazzarella, ist während des gesamten Films weniger eine handelnde als vielmehr eine passive, neutrale Figur.

Der Zuschauer sieht ihn mit Gilberte in Tansonville. Es folgen das Goncourt-Pastiche, das in realiter eines von Proust ist, die Fahrt ins Paris des Ersten Weltkriegs, die Gespräche mit dem später an der Front gefallenen Saint-Loup, mit Baron Charlus und dessen gescheiterte Aussöhnung mit dem Musiker Morel, die Auspeitschung des masochistisch veranlagten Barons in Jupiens Männerbordell, die Rückkehr des Erzählers nach einem Sanatoriumsaufenthalt ins Paris der Nachkriegszeit, das Wiedersehen mit dem durch einen Anfall geschwächten Charlus, die Epiphanie auf dem Bürgersteig und in der Bibliothek der Guermantes sowie der von ihnen ausgerichtete „Bal de têtes“. Der Film schließt mit einer Sequenz am Meer von Balbec, die die Drehbuchautoren erfunden haben – und auch sonst gibt es weitere Erfindungen, aber auch Anleihen aus den anderen Teilen von Prousts Romanzyklus, etwa die Szene aus „Du côté de chez Swann“, in der die junge Gilberte eine Geste macht, die der Erzähler unanständig findet.

Die Erzählung wird immer wieder unterbrochen von Rückblenden, etwa in die Kindheit und Jugend des Erzählers, oder in die Erlebnisse mit den zahlreichen anderen Figuren, die im Roman auftauchen, um dann wieder zu verschwinden. Der Wechsel gelingt Ruiz mit Hilfe von Überblendungen, indem zwei Sequenzen schräg aufeinander gelegt werden, aber auch wenn das Geräusch eines Teelöffels oder ein vor langer Zeit gelesenes Buch Erinnerungen beim Erzähler auslösen.

Ruiz geht es nicht darum, sich an konventionelle Erzählmuster zu halten. Da die Narration bei Proust „praktisch ohne Bedeutung ist“, wie er in einem Interview mit den „Cahiers du cinema“ sagt, „genießt man beim Drehen eine große Freiheit“. Und er fügt hinzu: „Ich mag Digressionen: Der Film schweift ab, und wenn man dann die Hoffnung aufgegeben hat, findet man sich plötzlich auf bekanntem Terrain wieder.“

„Der Zuschauer kann sich fragen, woran er überhaupt ist“, erklärt Gilles Taurand seinerseits. „Aber das ist faszinierend. Wenn man die ,Recherche‘ liest, dann ist man desorientiert. Denn es ist eine wirkliche Reise. Und wenn der Film nicht den Eindruck eines fragmentierten, aufgelösten Raums vermittelt, dann ist er dem Geist von Proust nicht treu. Das war eine richtige Herausforderung, die ich faszinierend finde und die Raúl gelungen ist. Den Zuschauer verwirren, ihm seine normalen Bezugspunkte wegnehmen, das bedeutet, dass man ihn in die Position des Autors versetzt, der zu dechiffrieren, zu interpretieren versucht.“

Auf zweifache Weise gelingt es dem Film, den Zuschauer zu verwirren. Zum einen durch den ständigen Wechsel der Zeitebenen. Zum anderen durch die Digression beziehungsweise „Depotenzierung der zentralen Figur“ des Erzählers, die auf der Ebene der Handlung „als Entdramatisierung und Entschleunigung“ wiederkehrt, so Niehoff. Die Kamera im Film ist nicht statisch, sondern stets in Bewegung. Sie folgt dabei allerdings nicht dem Protagonisten, sondern geht quasi eigene Wege. Und so ist es nicht er, der die Handlung antreibt. Eher hört und schaut er, was andere sagen und tun. Es gibt nicht die eine Erzählung der Hauptfigur, sondern viele unterschiedliche – der Menschen, Dinge, Zeiten. Deutlich wird das an den übergroßen Gegenständen in Prousts Schlafzimmer wie einer Rose, Sanduhr oder Tür, aber auch an der buchstäblichen Verschiebung der Menschen, etwa des Erzählers an eine Leinwand in einem Restaurant, auf der Szenen aus dem Krieg gezeigt werden.

Ruiz’ Film wirkt dadurch beinahe irreal-märchenhaft. Und die reichen Kostüme, die glanzvolle Ausstattung und der intensive Einsatz des Lichts an bestimmten Stellen verstärken noch das Theatralisch-Kulissenhafte des Ganzen. Indem Proust zu Beginn des Films die Fotografien seiner Verwandten und Bekannten nacheinander mit einer Lupe betrachtet, gibt er damit gewissermaßen das zentrale Stilmittel auch der verfilmten „Le temps retrouvé“ an – das tableau vivant. Sie besteht aus lauter „lebenden Bildern“, die sich ständig bewegen und verändern. Niehoff resümiert: „Ruiz’ Konzept wird es im folgenden nicht sein, die Tiefen der Proustschen Erinnerung auszumessen – wie sollte das auch ohne die Vorgeschichten der anderen Bände der Recherche möglich sein? –, sondern ihr Bewegungsgesetz und das heißt: ihre Effekte des Schwebens und Schwellens, der Stauung, der Komprimierung und Verdichtung, der Entschleunigung, der Umverteilung und Inversion des narrativen Materials zu adaptieren.“

Ruiz gelingt es, die diversen Zeitebenen im Film so miteinander zu verschränken, dass sich die Zeit quasi verflüssigt und der Zuschauer das Gefühl bekommt, als würde sie sich aufheben. Zugleich kommt der Erzähler zu dem Schluss, dass er eben diese verflossene Zeit auf besondere Weise wieder lebendig machen kann: „Wenn die Erinnerung aufgrund des Vergessens kein Band hat knüpfen können zwischen sich selbst und dem gegenwärtigen Augenblick, bewirkt sie, dass wir plötzlich eine neue Luft atmen. Neu, gerade deshalb, weil es eine Luft ist, die wir früher schon geatmet haben. Diese reinere Luft, welche die Dichter vergeblich versucht haben, dem Paradies anzueignen. Denn die wahren Paradiese sind jene, die wir verloren haben. Dies war die Erklärung dafür, dass meine Todesängste in dem Moment aufhörten, in dem ich unbewusst den Geschmack der Madeleine wiedererkannt hatte, weil sich in diesem Moment mein bisheriges Wesen außerhalb der Zeit befand. Dieses Wesen existierte immer nur außerhalb des Handelns und des unmittelbaren Genusses. Nämlich jedes Mal dann, wenn das Wunder einer analogen Sinnesempfindung mich aus der Gegenwart entführte. Ich habe weder in Balbec noch während meines Zusammenlebens mit Albertine das Vergnügen empfinden können, dass erst nachträglich für mich wahrnehmbar geworden war. Ich musste mich bemühen, die Empfindungen als die Zeichen ebenso vieler Gesetze und Ideen zu deuten, und zwar indem ich versuchte, zu denken, d.h. das, was ich sinnlich empfunden hatte, aus dem Halbdunkel treten zu lassen, es umzuwandeln in ein geistiges Äquivalent. Und dieses Mittel, das mir das einzige zu sein schien, was war es anderes als das Schaffen eines Kunstwerks.“

Raúl Ruiz’ Verfilmung des letzten Bandes von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist ein in vielerlei Hinsicht sehr aufwendig gestaltetes, äußerst anspruchsvolles Werk. Wirkt seine Länge von über zweieinhalb Stunden auf den ersten Blick vielleicht abschreckend auf den Zuschauer, so wird er, wenn er sich denn darauf einlässt, einen sehr experimentierfreudigen Film entdecken, der seine 160 Minuten benötigt, um einem einen neuen, ziemlich aufregenden Zugang zu Proust und seiner „Recherche“ zu ermöglichen. Die Unterhaltung des Zuschauers liegt hier nicht in einer linear erzählten Handlung, sondern in Ruiz’ Spiel mit der Zeit. Es ist spannend zu beobachten, wie der Regisseur die „kinematographische Dimension“, die er bei Proust erkennt, auf der Filmleinwand umsetzt.

So „schwer“ der Film auch sein mag, die 2011 erschienene Ausgabe sei allen zu empfehlen, die sich intensiver mit „Le temps retrouvé“ auseinandersetzen wollen. Auf der DVD findet man neben Ruiz’ Film eine 2001 vom WDR produzierte Folge des „Kinomagazins“, das ein Gespräch mit dem Regisseur und dem Drehbuchautor Taurand enthält. Ein Booklet liefert noch ein Interview der „Cahiers du cinema“ mit Ruiz als auch einen informativen Essay des Germanisten Reiner Niehoff über die bisherigen Verfilmungen von Prousts „Recherche“.

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Titelbild

Raul Ruiz: Die wiedergefundene Zeit. DVD Nach Motiven von Marcel Proust.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
162 min, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783518135204

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