Hochkulturarroganz und Seriositätsidee

Rainald Goetz – vom Publizisten zum literarischen Medienbeobachter

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Beitrag geht der spezifischen Textidee nach, die der Schriftsteller Rainald Goetz (Jahrgang 1954) in seinem Prosa-Buch „Loslabern. Bericht. Herbst 2008“ entwickelt: Es müsste, so der Autor, eine „all-in-one-Literatur“ geben, einen „praktische[n] Theoretizismus des Erzählens und Beobachtens“, der alle Aspekte von Kultur und Kritik zusammenführt: „Erfahrung und Gedanke, Ereignis, Theorie, Erleben, Sache, Kommentar und Reflexion“.

Seit dem Ausgang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat sich Rainald Goetz als Beobachter und Kritiker des Feuilletons profiliert. Seine Internet-Diarien und seine Bücher des „Heute Morgen“-Zyklus (vor allem „Abfall für alle“, 1998/1999) sowie des Korpus „Schlucht“ (hier vor allem „Loslabern“, 2009) rezensieren quasi den Literaturbetrieb und die Protagonisten des Feuilletons. Sein Lieblingsgegner ist dabei „der leibhaftige Schirrmacher“, der sich – „Chef eines der wichtigsten Feuilletons einer der wichtigsten Tageszeitungen der Welt“ – den „Vorwurf der mangelnden Seriosität“ einhandelt. Dabei müssen sich Seriosität und Vitalität keineswegs ausschließen. Werner Weber, einst Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung, plädierte für die emphatische Kritik: „Recht haben oder Unrecht haben in der Kritik – darauf kommt es nicht an. Nur das eine ist sich der Kritiker schuldig, nur dies können die Mitstrebenden von ihm verlangen: daß er von Fall zu Fall – bestimmt durch Höflichkeit der Leidenschaft – deutlich sage, was er meint. Nicht in demjenigen was ich schreibe, liegt mein Verdienst oder meine Sünde als Kritiker; Verdienst oder Sünde liegen im Wie. […] Der Glücksfall jedes Menschen, der Sprache braucht, heißt vollkommene Deutlichkeit. Der Literaturkritiker aber, der ja über Sprache spricht, wird doppelt verzweifeln, wenn er die Deutlichkeit verfehlt. Hat er jedoch die vollkommene Deutlichkeit erreicht, dann ist er jenseits von Irrtum und richtiger Einsicht; dann ist er eine Stimme des Daseins, die zur Melodie der Zeit gehört und mithilft, diese Melodie deutlich und verständlich zu machen.“

„Agent eines anonymen Kollektivs“

Die Schriftsteller antworten mit eigenen Mitteln auf Kritik und ihre Urheber – Stifters berühmte Vorrede zu seiner Erzählsammlung „Bunte Steine“ (1853) ist ein markantes Beispiel dafür. Mehr als hundert Jahre nach Stifter betritt Rainald Goetz 1977 den großen Raum der öffentlichen Rede der Medien, und zwar zunächst als Kritiker. Er publiziert in der „Süddeutschen Zeitung“ Rezensionen und verfasst bald auch Beiträge für Zeitschriften wie „Kursbuch“, „Der Spiegel“ und „Spex“. Schließlich macht er den Ort der Kritik zum Raum der Fiktion und den Ort der Fiktion zum Raum der Kritik: 1983 erscheint bei Suhrkamp sein Romandebüt „Irre“ und rückt im dritten Teil, „Die Ordnung“ genannt, die Welt der Medien ins Zentrum der Darstellung. Dieser Teil stand im Vorfeld der Publikation im Hause Suhrkamp zur Disposition, und der Autor musste sich gegen die Skepsis seiner Verleger behaupten, wie Goetz im Rückblick resümiert: „Ich dachte wieder an Irre, wie Unseld mir damals, mit dem fertigen Manuskript, den dritten Teil ausreden wollte, der sich im Nachhinein als eine Art Programmschrift dieser von mir verfolgten Ästhetik herausgestellt hatte, ohne dass ich das damals wusste, ich war mir nur ziemlich sicher, dass Unseld sich in diesem Fall irrte, und wie froh ich heute bin, dass ich dabei geblieben war, daran doch festzuhalten.“

Als „sympathischer Punk“ war Goetz in den Verlag eingetreten. Die Bedenken gegen den dritten Teil seines Romans, der neben den ersten beiden nicht bestehen könne, führten zu dem Vorschlag, diesen doch auszukoppeln und später separat herauszubringen. Dahinter stand die Befürchtung eines internen Konflikts mit Hans Magnus Enzensberger, da Enzensberger im monierten dritten Teil als „Peinsack“ tituliert wurde. Einige Passagen, die ihn betrafen, wurden schließlich ganz herausgenommen, aber als Ganzes blieb das Kapitel erhalten, auch weil Goetz dort ‚sein ganzes Leben‘ zwischen zwei Buchdeckel gefasst sah.

Zu dieser „Identität“ von Literatur und Leben, die sich zum Teil der Welt der Medien – und zwar der Welt des sogenannten Literaturbetriebes – verdankt, entwickelte Goetz dann eine Theorie, und zwar gemeinsam mit dem Publizisten Michael Rutschky, Jahrgang 1943. In dessen Buch „Wartezeit. Ein Sittenbild“ (1983) ist diese „Theorie des Textentzugs“ publiziert worden als eine Idee oder ein poetologisches Konzept, wonach der Autor als „Agent eines anonymen Kollektivs“ fungiere. Ähnlich wie der Arzt, der seinem Patienten in der Anamnese Text entzieht, um diesen Text für einen nicht anwesenden Dritten, den „transzendenten Leser“ festzuhalten, entzieht der Autor seinen Kontaktpersonen Text, um diesen für eine anonymes Kollektiv, seine Leserschaft, aufzubereiten. Im Extremfall entzieht er auch der großen öffentlichen Rede der Medien Text, um diesen – in transformierter Form – wieder in die Medien einzuspeisen. So stellt „1989“, ein Großgedicht in drei Bänden (1993) und circa 1.600 Seiten, eine Art Mediencollage der Jahre 1989 und 1990 dar: Sie wurde den Medien abgeschöpft und ist in Buchfom wieder Teil der Medien geworden, getreu Andy Warhols Devise „and trying | to figure out what | was happening – and taping it all“.

Bald für seinen exzessiven Medienkonsum bekannt, wird Goetz „als besessener Leser des Feuilletons“ oder auch als „Zeitungsjunkie“ apostrophiert. Seine „Zeitmitschriften“ der späten neunziger Jahre, darunter prominent das Internettagebuch „Abfall für alle“, legen davon beredt Zeugnis ab. In den sogenannten Nullerjahren unseres Jahrtausends arbeitet er dann an einem Roman, an dessen formalen Vorgaben er offensichtlich scheitert. Das „Politprojekt“ möchte aus dem Zentrum der Macht erzählen, verrennt sich aber in der „Falschheit“ seiner Prämissen und in seiner „Produktionsmethode“: „Das Politprojekt war sozusagen meine Farbenlehre geworden, Ergebnisse falsch oder unbrauchbar.“ Fragmente daraus und Reflexionen über sein Scheitern publiziert Goetz in „Klage“, einem Blog, den er bei „Vanity Fair“ publiziert, und in seinem Bändchen „Loslabern“ von 2009. „Loslabern“ lässt sich als Erzählung aus der Welt der Medien lesen – Gegenstände sind die Frankfurter Buchmesse 2008, ein Empfang der „F. A. Z.“ und eine Vernissage zu einer Ausstellung Albert Oehlens –, oder man konsumiert „Loslabern“ als Medientheorie bzw. Poetologie des Schriftstellers. „Loslabern“ postuliert für sich selbst – und damit für uns – eine „maximale Ethik der Schrift“ und eine „Moral des Schreibens“. Als „Basis für ein richtiges Schreiben“ definiert der autornahe Erzähler im Buchmessengespräch „den Takt und die Tugenden der Geselligkeit“.

Im Buchmessentaxi wird er dann, laut Fiktion, von Eckhard Schumacher, dem Greifswalder Kollegen und Literaturwissenschaftler, zur Mitarbeit an einem Text + Kritik-Band eingeladen, und aus dieser Einladung heraus entwickelt er die Theorie einer „all-in-one-Literatur“, die Text und Metatext zugleich ist: „Und wie Eckhard Schumacher jetzt von der Zeitschrift TEXT und KRITIK redete […] und fragte, ob eventuell auch ich an einer der nächsten Nummern mitarbeiten würde, Interview oder so, war es mir schlagartig plötzlich klargeworden, dass die Idee doch eigentlich wäre, nicht an Text und Kritik mitzuarbeiten, sondern die eigenen Sachen gleich so zu schreiben, dass sie selber beides zugleich wären, text + kritik. Dass dann ein Buch eigentlich erst fertig und eine in sich ganze Sache wäre, wenn die Interviews, die man nachher dazu geben könnte, im Buch selber schon enthalten wären, das Buch selber die Antworten auf alle möglichen Interviewfragen geben würde, dass das dieser praktische Theoretizismus des Erzählens und Berichtens wäre, der mir immer vorschwebte, Handlung und Absicht ineinander verwickelt wie in echt, Erfahrung und Gedanke, Ereignis, Theorie, Erleben, Sache, Kommentar und Reflexion und was nicht noch alles, alles in allem kurz gesagt so miteinander vermengt, dass am Ende, das wäre das ultimative Buchideal, jeder Satz des Buches auf jede nur erdenkliche Interviewfrage eine mögliche und nicht falsche Antwort wäre, dass man zur Interviewanfrage immer sagen könnte, Interview, gerne, nehmen Sie einfach das Buch, zitieren Sie, was Sie wollen, Interview ist fertig und auch schon autorisiert.“

Bezogen auf unsere Fragestellung bedeutet dies, dass die Literatur von Goetz integrativ (und paradox) bereits mit ihrer Rezeption vereinigt wäre. Während wir also noch an einer Textsortenlehre arbeiten und Rezension und Bericht, Nachricht und Reportage zu sondern trachten, liefert Goetz uns bereits eine Hybridform möglicher Textsorten des Feuilletons – und zwar im Medium der Literatur selbst, als Integral von Theorie und Praxis.

Für Goetz ist dieser Schritt kein sonderlich großer oder besonders ungewöhnlicher, da er alle Texte und den „lesbaren Text der Wirklichkeit“ (Bonz) als quasi heilige Kategorie betrachtet, gleichviel, ob es sich dabei um ein lyrisches Poem, ein Interview oder eine Rezension handelt. Der Autor konstatiert eine „Romantikerbewegung“ des ausgehenden 20. Jahrhunderts, und dieser neuen Romantik entspricht eben auch eine neue romantische Universalpoesie, deren Leistung es unter anderem ist, Kritik zu synthetisieren, dergestalt etwa, dass die (schöne) Literatur die Welt der Medien rezensiert und sie rezensierend in sich aufnimmt. Es entsteht im folgenden eine idealistische Utopie des „Autorcharakter[s]“, der am Leitfaden des eigenen Medienkonsums produktiv wird und dessen Texte eine „ultimative Integritätsprüfung“ darstelle. Integrität, Seriosität und „Radikalität der Wahrheit“ sind dabei die Kriterien eines Verfassers, der sie für die Kunst wie für die Medien und ihre Macher gleichermaßen einfordert.

„Problem für den Qualitätsjournalismus“

Als mögliches Gegenbild kommt hier Frank Schirrmacher ins Spiel, quasi als performatives „Problem für den Qualitätsjournalismus“ schlechthin. Solche Problemfälle „intellektueller Qualität“ kommen dem Autor häufig unter – gedacht sei an Franz Josef Wagner, den Boulevard-Kolumnisten, der seit einigen Jahren für die „Bild“-Zeitung schreibt; oder an die Illustrierte Stern, die als das „wöchentlich neu erscheinende Hitler-Tagebuch“ denunziert wird, „egal was drinsteht“ –, doch Frank Schirrmacher, der Herausgeber der „F. A. Z.“, gilt Goetz als Galionsfigur der Schund-Journaille, gerade weil er, kraft seiner eigentlichen Rolle und ursprünglichen Funktion als Repräsentant der „Frankfurter Allgemeinen“, Seriosität quasi verkörpern müsste. Um zu begreifen, weshalb Schirrmacher diesen Typus verfehlt, muss man die, teilweise recht abenteuerlichen, Legenden kennen, die über ihn kursieren – sie wären hier quasi als „kulturelles Wissen“ mitzudenken. Ein entsprechender Bericht Jörg Laus aus der „tageszeitung“ hing 2010 in Goetz’ Marbacher Ausstellung „politische fotografie“.

Und obwohl Schirrmacher, mit „Loslabern“ formuliert, für „ganz einfach Qualität, diese fragilste Ingredienz“ der „geistigen Bemühungen und Dinge“, die den guten Journalismus auszeichnen, nicht mehr erreichbar zu sein scheint, ist er doch zugleich Garant dieser Qualität, da er es ist, der in seinem Blatt und in den Foren der „F. A. Z.“ Qualität zulässt. Etwa, indem er Don Alphonso (id est Rainer Meyer), einen Qualitätsblogger von „Dotcomtod“, für die „F. A. Z.“ gewinnt und ihn in seinem „F. A. Z.“-Blog „Die Stützen der Gesellschaft“ aus der gesellschaftlichen Oberschicht berichten lässt. Schirrmacher konnte oder wollte die „Altseriositätsreste der Faz“ nicht beseitigen, und er hat in Goetz’ Lesart Seriosität sogar durch attraktive Angebote neu zugelassen. Goetz erfreut sich unglaublich daran, dass Schirrmacher ihm, dem Don Alphonso, „einen so perfekt zu ihm passenden Raum einzurichten und bereitzustellen“ verstand. Genau diesen Spagat beschreibt Goetz in „Loslabern“ und liefert damit eine Kritik der Mediengesellschaft, dabei auf einzelne ihrer Repräsentanten fokussierend. Ihm geht es dabei nicht um Denunziation, sondern um Beobachtung: Hierarchien, Kommunikationsweisen und Habitusformen werden registriert und kommentiert. Er richtet den Blick auf die zentrifugalen Kräfte der Medienwelt, auf Mathias Döpfner (den Vorstand der Axel Springer AG) etwa, auf Ines Pohl (die Chefredakteurin der „taz“) oder auf Kai Dieckmann (den Chefredakteur der „Bild“) – um dann zu schildern, wie er selbst als Journalist scheitert. „Loslabern“ mündet schließlich in eine Besprechung von Uwe Tellkamps „Der Turm“ (2008): „Dauernd dachte ich beim Lesen, endlich lese ich mal einen Roman von Thomas Mann, endlich kann ich es aushalten, endlich gelingt es mir, durch den Sprachmüll hindurch zum Bild zu kommen und mich für den Sagaquatsch auch noch zu interessieren, endlich, und dabei lag ich unendliche Stunden im Bett lesend, stundenlang, tagelang nur lesend, verstehe ich diese Schinkenfaszination, Blauwale heißen die Dinger bei Tellkamp, Blauwale hatte er selber immer lesen wollen, und jetzt den schönsten Gegenwartsblauwal selber phantastischerweise geschrieben.“

Auch diese Ausführungen über den „Thomas Mann des 21. Jahrhunderts“ sind wieder „all-in-one-Literatur“, insofern sie von einem Bekenntnis ausgehen (dem zufolge Goetz mit einem anspruchsvollen Erzählprojekt gescheitert wäre) und die persönliche Leseerfahrung zu dokumentieren scheinen – eine Prosamischform, hoch reflektiert und im Gestus der Unmittelbarkeit verfasst; ein Texttyp, der Schule machen wird und dessen Poetologie sich wie folgt beschreiben lässt: Ein Beobachter der Medien trifft im „Textakt Urteil“ apodiktische Unterscheidungen im Extremspektrum Ablehnung/Zustimmung; am Beispiel von Christian Kracht, Maxim Biller oder Uwe Tellkamp manifestiert sich dies als „Begeisterung für das erste Buch“, am Beispiel des RAF-Filmes „Der Baader-Meinhof-Komplex“ als Würdigung eines „unfassbar dumpfen Ballermannfilm[es]“. Er belässt es jedoch nicht beim „kurzen Heftigkeitsaustausch“, beim Dekret, sondern es muss – in enem zweiten Schritt – „die Position seiner Kritik aus der textlichen Absolutität wieder ins Diskursive zurückgeholt“ werden, sei es im Gespräch mit anderen, sei es im „internen Parlament“ der Stimmen und Bestrebungen. „Verrisse sind gut“, so die Poetologie, selbst wenn sie ungerecht sind, denn „sie befördern die Wahrheit“, und Wahrheit ermöglicht Anschlusskommunikation.

Sein Buch „Loslabern“, im Untertitel als „Bericht. Herbst 2008“ firmierend, macht dem Leser diverse Angebote, wie es zu lesen sei. Das von Verlagen gern in Vorschlag gebrachte verkaufsfördernde Label „Roman“ kommt nicht zur Anwendung, stünde aber grundsätzlich zur Verfügung: 1999 hat Goetz sein Internetangebot „Abfall für alle“ in Buchform gebracht und als „Roman eines Jahres“ drucken lassen. Er erntete dafür die Kritik derer, die genau zu wissen meinen, was ein Roman sei und was nicht. Das lässt sich auch hier wieder beobachten. Dirk Knipphals, ein Kritiker der „taz“, der in „Loslabern“ selber vorkommt, schreibt bedauernd: „Nur ein Roman ist es nicht.“

Ein Rainald Goetz aber bedient weder mit seiner Prosa noch mit seiner Lyrik noch mit seiner Dramatik gängige Gattungsmuster, und folglich darf er nicht als ‚Gescheiterter‘ gewertet werden, wenn er eine bestimmte Form verfehlt, und auch die Behauptung des Kritikers, sein „Leben und Werk“ wären „auseinandergefallen“, läuft ins Leere, da „Loslabern“ das angebliche Scheitern bereits ins Gelingen transformiert und in eine universalpoetische Gestalt überführt hat, die auf ihre durchaus originelle Weise größere Erzählzusammenhänge und damit eine Form stiftet, die sogar diskursive Aspekte in sich aufnimmt. So schreibt Andreas Bernard in der „Süddeutschen Zeitung am Wochenende“: „Rainald Goetz ist zweifellos einer der ganz wenigen Autoren, die an einem vollkommen anderen Verständnis von Literatur festhalten, an einem Schreiben, das die Nahtstellen zwischen Erfahrung und Text ständig freilegt, das die Reflexion über das Schreiben immer schon enthält.“ Und Bernard führt in seiner Kritik der Kritik weiter aus: „Unter den zeitgenössischen Schriftstellern ist er derjenige, der mit unvergleichlichem Ernst die ästhetischen und poetologischen Fragen der letzten zweihundert Jahre weiterdenkt und auf die Gegenwart hin befragt.“

Wo er die Rezension in Reflexion münden lässt, ist der Journalismus auf der Höhe seiner Zeit – nur müsste er auch zeigen, wie sich der hier unterstellte „unvergleichliche Ernst“ des Diskursiven im Medium der Literatur niederschlägt. Goetz wählt sich dafür das performative Mittel der Stilparodie, erkennbar als Thomas-Bernhard-Sound, der sich, oft erprobt, auch hier bewährt. „Loslabern“ mündet dadurch nicht in ein Schirrmacher-Tribunal und nicht in Totalkritik. Er zelebriert stattdessen eine Kunstfigur und ihr Kabinett: Schirrmacher erscheint als „Salonlöwe“ und die „Faz-Kultur“ als das offene Buch, das neben der Kritik auch Huldigung erfährt: Dieses ‚Buch‘ hat Stärken und Schwächen, sympathische und unsympathische Protagonisten, Helden und Schurken. Ein „gedruckter Buchmessenblog“ des Feuilletons beispielsweise erntet eine hymnische Besprechung, denn „wenn die Faz eines kann im Bereich der Kultur, dann Vielstimmigkeit auf einem Qualitätsniveau bringen, das es sonst nicht gibt“. Und Schirrmacher, analog zum Feuilleton ein lesbarer Text, wird als Bernhard-Typus imaginiert, der den immergleichen, natürlich kursivierten, Vorwurf an den Eindringling „Goetz“ adressiert: Er habe sich „eingeschlichen“ und „seine Party ohne Einladung“ betreten.

Im Bernhard-Sound gewinnt die Besprechung des ‚leibhaftigen‘ Feindbildes einen eigenartigen Zauber und spielt, in mehrfachen Brechungen, ins Unwirkliche, Komische, Ironische. Der „Herzlichkeit des Moments“, der „Wahrheit einer Geste“ entspricht die „Belanglosmachung der eigenen Überzeugungen“. Erkenntnisse stellen sich ein. Es wird deutlich, dass sich beim Empfang der „F. A. Z.“ und im Wirkungsbereich Schirrmachers eine Ontologie der Macht, nicht der Kunst erleben lässt, in der man sich politisch und gesellschaftlich definiert, aber nicht kulturell; dass die alte „Seriositätsidee“, der ‚Goetz‘ bislang anhing, „Blödsinn und Scheußlichkeit“ war, dass der „hochseriöse“ Qualitätsjournalismus alter Schule folglich nicht mehr praktiziert werden könne, auch wenn er „genügend“ oft noch vorkommt; dass es die Aufgabe der Literatur ist, aus diesen Erkenntnissen eine „Zukunft“ der „Gesellschaft“ zu projektieren.

Die all-in-one-Literatur wird hier zum Versöhnungsmedium, und die Begegnung mit Schirrmacher zur Epiphanie eines anderen Textes – des ‚plötzlichen Umschlags‘ (der ‚Peripetie‘) von Kritik in Empathie: „Dieser Moment fühlte sich angenehm an, ich berührte ihn am Ärmel seines silberfarbenen Jacketts, das fiel mir auf, eine Unzulässigkeit irgendwie, ein Verrat an mir selbst, eine Herzlichkeit des Moments und die Wahrheit einer Geste, der Moment von Sympathie“.

Der ruchlose Schurke wird zum täppischen Antihelden, der „komische Effekt“ des Bernhard-Sounds mildert die „Obsession“ des Erzählers, und seine Kritik läuft in Erzählung zurück. Somit hat der ‚Theoretiker‘ Goetz seine ‚Programmschrift‘ einer integrativen Literaturkonzeption, der zufolge das literarische Leben selbst zu rezensieren sei, bereits kongenial praxeologisch umgesetzt.

Anm. der Red.: Eine längere Version dieses Beitrages ist in dem unten bibliografierten Sammelband (S. 151-167) erschienen.

Titelbild

Mariann Skog-Södersved / Christoph Parry / Michael Szurawitzki (Hg.): Sprache und Kultur im Spiegel der Rezension. Ausgewählte Beiträge der GeFoText-Konferenz vom 29.9. bis 1.10.2010 in Vaasa.
Peter Lang Verlag, Frankfurt, M ; Berlin ; Bern ; Bruxelles ; New York, NY ; Oxford ; Wien 2012.
286 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783631637180

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