Literatur als internationales Phänomen
Hans-Gert Roloff und Alfred Noe haben ein Sammelband zur Bedeutung der Rezeptionsliteratur in der Frühen Neuzeit publiziert
Von Jürgen Wolf
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Tagungsband nimmt die Schnittstelle vom Mittelalter zur Neuzeit in den Blick und zeigt anhand exemplarischer Einzelstudien auf, woraus sich die Literatur der Epoche von 1400-1750 speist, was sich verändert, was bleibt und wie man sich die ‚literarische‘ Genese der Moderne vorzustellen hat. Im Zentrum stehen dabei die Bedeutung der Rezeptionsliteratur, die Übersetzungsliteratur und immer wieder die Internationalität der Literatur.
Nachdem Hans-Gert Roloff das Tagungs- und Forschungsthema knapp umrissen, den Fokus auf die humanistische Artes-Literatur gelegt, Erwartungshorizonte zurechtgerückt und eine kurze Skizze des vorliegenden Bandes geliefert hat, steigt der Leser mit dem Beitrag von Alfred Noe zu dem Kavalleriehandbuch von Giorgio Basta d’Hust in den Reigen der Beispielanalysen ein. In Noes Beitrag sind „intrakulturelle Transfers“ im Blickpunkt, denn das Kavalleriehandbuch steht nicht nur in einer vielfach vernetzten Tradition, sondern hat vor allem internationale Dimensionen. Bastas Handbuch prägt – typisch für die Epoche – europaweit, das heißt grenzenlos den Militärdiskurs der Zeit.
Eine völlig andere Art kulturellen Transfers steht im Mittelpunkt von Barbara Lafonds Beitrag zu Thüring von Ringoltingens ‚Melusine‘. Hier sind es die Folgen der Medienrevolution, die anhand von parallelen Handschriften und Drucken transparent werden. Lafond kann dabei eindrücklich aufzeigen, wie der Melusinen-Mythos über Jahrhunderte seinen Weg in die Schriftkultur findet und sich in verschiedenen kulturellen, literarischen und schrifttechnischen Zusammenhängen entfaltet. Die literarischen Arme einer mittelalterlichen Melusine reichen dabei, später dann vor allem durch die Drucküberlieferung getragen, über slawische und humanistische Rezeptionsstränge letztendlich bis zu ihren „japanischen Schwestern“ und bis in das 19. Jahrhundert.
Weitere Facetten vergleichbarer Vernetzungsmechanismen zeigt Michael Dallapiazza anhand von Hans Sachs und Giovanni Boccaccio auf, dessen Novellen über die Jahrhunderte immer wieder neu und überaus produktiv rezipiert werden, nicht zuletzt von eben jenem Hans Sachs. Was genau in einem solchen Rezeptionszusammenhang mit den Vorlagen geschieht, wie sie (von Hans Sachs) um- und neugearbeitet werden und welche Wirkung sie erzielen, wird in einigen Detailschnitten beispielhaft sichtbar. Dallapiazza macht auch deutlich, wie notwendig und ertragreich weitergehende systematische Untersuchungen und Detailanalysen sein können und schließt mit dem Appell, sich mehr auf Hans Sachs einzulassen.
In der Folge werden von Federica Masiero (zur Rezeption der ersten deutschen Übersetzung des ‚Cortegiano‘), Laura Auteri (zu den ‚Anmutigen Gesprächen‘ Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen) und Dietrich Briesemeister (zu neulateinischen Übersetzungen spanischer Werke) zahlreiche Aspekte der Übersetzung angesprochen und exemplarisch aufgearbeitet. In allen drei Beiträgen wird deutlich, wie international man sich die Literatur der Epoche zu denken hat und wie grenzenlos Stoffe und Werke rezipiert werden. Literatur ist ein internationales Phänomen. In diesen Kontext wird man auch den Beitrag von Anne Wagniart zu den Dichtern des schlesischen Kunstdramas rechnen können, wenn diese neben Originalwerken vor allem Übersetzungen aus griechischer, lateinischer, neulateinischer, niederländischer, französischer und italienischer Sprache publizieren. Im Zentrum stehen Martin Opitz und Andreas Gryphius. Dieses Bild wird erweitert durch Winfried Woeslers Detailstudie zu Opitz’ Übersetzung von Senecas ‚Troades‘, Hartmut Laufhüttes Beitrag zu Sigmund von Birkens ‚Aeneis‘-Übertragung und Daniel Syrovys Überlegungen zu Georg Philipp Harsdörffer.
In religiöse Zusammenhänge führt Jean-Marie Valentin, wenn er das Pikareske in der Gegenreformation untersucht. Und wieder ist es eine internationale Perspektive, die typisch erscheint. Zugleich werden aber auch nationale und national-religiöse Empfindlichkeiten sichtbar, die die Rezeption beeinflussen, ja sogar steuern oder verhindern können. Zu diesen Ausführungen von eher globaler Dimension steuert Roberto De Pol mit seinem Beitrag zur deutschen Übersetzung von Ferrante Pallavicinos ‚Il Divortio celeste‘ eine zunächst kleinräumig-italienische, in den immerhin fünf deutschen Übersetzungen durchaus großflächiger wirkmächtige Variante bei. Wichtig sind De Pols Ausflüge in semantische und lexikalische Details, ebenso wie die Bewertung drucktechnischer Auffälligkeiten, wie die je unterschiedlichen Formate der italienischen Fassungen (Duodezformat) und der deutschen Übersetzungen (Oktav- und Quartformate).
Der Emblematik und damit einer Form von „intermedialem“ Übersetzen widmet sich Elisabeth Klecker. Als Charakteristikum kann sie festmachen, dass es hier nicht ausschließlich um sprachlich-textuelle, sondern um mediale (auch bildtransformatorische) Übersetzungs- beziehungsweise Übertragungsprozesse geht. Den Tagungsband beschließen Tomasz Jablecki (zu Benjamin Neukirch), Birgit Wagner (zu Johann Christoph Gottsched) und Stefanie Stockhorst, die mit „Wege und Techniken des Übersetzens im 18. Jahrhundert“ zugleich so etwas wie eine Bilanz von Tagung und Forschung andeutet.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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