Ein irischer Säulenheiliger

Irland aus der Sicht eines zwielichtigen Helden

Von Sebastian DomschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Domsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jedes Land verdient seinen Oskar Matzerath. Dies gilt im Guten wie im Schlechten. Jedes Land verdient es, seine Geschichte einmal aus den Augen eines Zwerges zu sehen, eines Säulenheiligen oder eines Straßenjungen, der zum Widerstandskämpfer wird. Denn aus dieser merkwürdigen Perspektive, die gleichzeitig von innen kommt und doch immer die eines Außenseiters bleibt, stellt sich Geschichte unweigerlich als die Farce dar, die sie eigentlich ist: lustig und schrecklich zugleich, voll von kleinen Heldentaten und großen Schurkereien, Ganz egal, wie ernst eine Nation sich und ihre Geschichte nimmt.

Die Literatur jedes Landes verdient einen Oskar Matzerath, und alles was sie dazu benötigt, ist ein Schriftsteller mit dem geeigneten Können und vor allem Selbstvertrauen. Der Nobelpreisträger Günter Grass hat der Literatur die Matzerath-Perspektive in seiner "Blechtrommel" geschenkt, ein genialischer Erstling, der sich in einer langjährigen und ertragreichen Schriftstellerkarriere bestätigt hat. Salman Rushdie hat Grass' Werk zu seinem Vorbild erklärt und in seinem monumentalen Roman "Mitternachtskinder" den eigenwilligen Saleem die Geschichte des unabhängigen Indiens erzählen lassen, die gleichzeitig seine eigene ist. Und nun zeigt uns Roddy Doyle die Jahre des irischen Befreiungskampfes, wie sie Henry Smart erlebt und erzählt.

Es ist seine eigene Lebensgeschichte, die Henry uns in seinen Worten präsentiert, und sie ist auf das engste mit den berühmten Daten der irischen Geschichte wie dem Osteraufstand von 1916 oder der Ermordung von Michael Collins verknüpft. Henry ist immer mit von der Partie, wenn irische Geschichte gemacht wird, obwohl sein Außenseitertum von Anfang an feststeht. Doyle veranschaulicht dies, indem er Henry von einer historischen Fotografie erzählen läßt, auf der man auch ihn selbst hätte entdecken können, wenn der Fotograf die Kamera nur ein kleines bißchen zur Seite gedreht hätte. Henry ist immer dabei, aber er ist nie wirklich im Bilde, sowohl im übertragenen, als auch im wörtlichen Sinne. Diesen fehlenden Überblick über die eigene und die allgemeine Lage hat er, zusammen mit dem Elend seiner Kindheit, von seinem Vater geerbt. Sein Vater, der ebenfalls Henry heißt, ist Türsteher in einem Bordell und ein Auftragsmörder, der seine Opfer vorzugsweise mit dem eigenen Holzbein erschlägt, allerdings nur mit dem für Werktage, versteht sich. Dieses Holzbein, das hier als Symbol für die Kraft, Gewalt und Potenz der männlichen Smarts zu lesen ist, nimmt im Roman einen wichtigen Platz ein. Henry junior wächst als Straßenkind auf, das sich mit Diebstählen, Gaunereien und Betteln am Leben erhält.

Der erzählerische Wettstreit um die ärmste, erbarmungswürdigste Kindheit ist ein beliebtes irisches Gesellschaftsspiel. Bei der Schilderung von miesen, ungeheizten und dazu zugigen Wohnlöchern und kargem, unzureichenden Essen läuft die Erzählfreude der ohnehin fabulierlustigen Iren zur Höchstform auf. "Die Asche meiner Mutter" von Frank McCourt ist nur der bekannteste Ausdruck dieses halb ernsten, halb ironischen Spiels. Und so kann auch Henry der Erzähler und mit ihm Roddy Doyle auf diesen Teil seiner Geschichte unter keinen Umständen verzichten, sondern stellt sich der Herausforderung, indem er die Erbärmlichkeit von Henrys Kindheit mythisch überhöht. Die Gestalten, die Doyles Dublin des beginnenden Jahrhunderts bevölkern, scheinen geradewegs der Dreigroschenoper entsprungen zu sein, allen voran der holzbeinschwingende Vater. Und wie seine literarischen Vorgänger ist auch Henry Smart ein frühreifer Junge. Seine unfehlbare Wirkung auf Frauen setzt praktisch mit seiner Geburt an, seine Kraft ist schon als Kind die eines antiken Helden. Nichts kann ihn bezwingen, und keine Aufgabe ist ihm zu schwer oder zu dreckig - und doch ist er nie wirklich auf der Seite der Gewinner.

Szenenwechsel. Henrys Kindheit beendet der Sprung mitten hinein in die irische Geschichte, denn Henry hat sich den irischen Kämpfern für die Unabhängigkeit um Michael Collins angeschlossen, und er erlebt den Osteraufstand von 1916 als Kämpfer im General Post Office. Die Schilderung dieses zentralen irischen Mythos mit seiner Vor- und Nachgeschichte ist Doyle besonders packend geraten, und von nun an erlebt der Leser hautnah die Entwicklung einer handfesten Rebellion aus den Ruinen eines Aufstandes. Henry wird zu einem Untergrundsoldaten, ein Auftagsmörder wie sein Vater, ein Attentäter, Rekrutierer und Ausbilder. Das Lied eines Freundes macht ihn für kurze Zeit zum Volkshelden, aber ein Held für die Geschichtsbücher wird er nicht. Dafür schreibt er sein eigenes Geschichtsbuch.

Natürlich ist dieser Alternativgeschichte nicht zu trauen. Immerhin wird sie von ihrem eigenen Helden erzählt, und der wirkt von Anfang an so wenig glaubwürdig, wie er unterhaltsam ist. Es ist natürlich kein Zufall, dass ein wichtiges Thema des Buches die nachträgliche Manipulation der Geschichte ist. Gut und Böse sind in dem geschilderten Kampf sehr instabil, und die Definitionen dafür können sich jederzeit wieder ändern. Henrys Version des irischen Befreiungskampfes ist nicht die einzige, der nicht zu trauen ist.

Leider leidet die Sprache Henrys, die sowohl für den Fluß des Romans als auch für seine Deutung so wichtig ist, unter der deutschen Übersetzung. Was im irischen Englisch als salopper Großstadtslang daherkommt, wirkt im Deutschen oft holprig oder überzogen. Schon in den grandiosen Dialogen seiner Barrytown-Trilogie bewies Doyle, wie genau er die Sprechweise einer bestimmten Gruppe nachahmen konnte - eine Fähigkeit, die in der Übersetzung wohl unweigerlich verloren gehen muß. Doch geht der literarische Mehrwert seiner Bücher immer über den sprachlichen Lokalkolorit hinaus, weswegen sich deren Lektüre eben in jeder Sprache lohnt.

Roddy Doyle hat das Selbstvertrauen bewiesen, das man braucht, um ein solches Format mit epischem Inhalt zu füllen. Hat er dafür auch das Können? Seine Position als einer der wichtigsten irischen Romanciers zumindest ist sicherlich unbestritten, und nach der Lektüre lässt sich sagen, dass Doyle, der bisher eher gesellschaftliche Detailaufnahmen als Ausgangspunkt seiner Romane nahm, auch der Größe seines neuen Sujets gerecht wird. Sein Held Henry aber bleibt insgesamt eine weniger eindrückliche Figur als Oskar oder Saleem. Mit seiner ungebrochenen reckenhaften Natur wirkt er oft schemenhaft, zu sehr dem normal menschlichen enthoben. Auf jeden Fall aber ist er mehr als nur eine Kopie seiner Vorgänger. Wer mag, kann Irland jetzt einmal lesend von unten betrachten.

Titelbild

Roddy Doyle: Henry der Held.
Krüger Verlag, Frankfurt 2000.
414 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3810504440

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