„Was Leben bedeutet und Tod“

Anne Webers Roman „Tal der Herrlichkeiten“ über Liebe und Verlust

Von Monika RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen Mann und eine Frau, mehr braucht Anne Weber, die in Paris lebende deutsche Schriftstellerin, Jahrgang 1964, zu einem gelungenen Roman nicht. Sie holt die Beiden aus dem reiβenden Fluss des Lebens und richtet unseren unsteten Blick auf sie. Ihre Vorgeschichte: einige prägende Erfahrungen, die nicht einmal originell sind. Bei ihm ist die Rede von einer verwurschtelten Ehe und einem Sohn, den er seit neun Jahren nicht gesehen hat. Sie ist aus vermögendem Hause und Opfer einer Entführung, an die ein fehlender Finger erinnert. Man lebt bescheiden. Nichts mehr scheint die Mühe des Erlebens noch wert zu sein. Sogar ein passender Name fehlt den Figuren. Die Autorin nennt sie Sperber und Luchs.

Es hätte so manches aus diesem Stoff werden können: Eine Liebesgeschichte über das Nebeneinander in sich gekehrter Eigenbrötler oder ein Loblied auf die wiedergefundene Lust, Menschen nahe zu sein. An den Wünschen des Mainstreams vorbei hat Weber einen atemlosen Roman geschrieben, der diese Möglichkeiten nicht einmal erwägen kann, so unberechenbar und flüchtig ist das Liebesglück, das er schildert – nicht gesucht und gefunden, ihm kurz ausgeliefert und es anschlieβend verloren. Dank der eleganten Sprache und der lawinenartigen Bildgewalt erhält die Realität Qualitäten, die sie ansonsten höchstens in einem ekstatischen Traum besitzt.

Und so fängt es an: In einer kleinen Hafenstadt in der Bretagne, wo Sperber in einer schäbigen Wohnung ohne nennenswerte Bedürfnisse, aber mit umso mehr Ticks, lebt, begegnen sie sich. Es dauert einen Atemzug lang, dass sich ihre Lippen berühren, und nach dem unverschämten Kuss auf der Mole verschwindet Luchs, eine Erscheinung, denn mehr ist sie nicht. Sie lässt Sperber, den seine Sinne im Stich lassen und der das blonde Geschöpf nicht mal annähernd beschreiben könnte, einfach stehen. Ihre Tat wühlt Sperber dermaβem auf, dass er nicht umhin kann, im ganzen Ort systematisch Straβe für Straβe nach der jungen Frau mit dem altmodischen Haarkranz zu suchen. Noch ist es unklar, was er damit erreichen will.

Auch die nächsten zwei (stummen) Begegnungen gleichen einem Katz-und-Maus-Spiel, sodass Sperber immer gereizter gegen seine Gedanken ankämpft. Sollte einer wie er, ein vom Leben gebeutelter Mann älteren Jahrgangs (oder doch nur eine Variante des Versagers?), nun auserwählt worden sein? In seiner selbstverordneten Isolation existierte bisher kein anderer Mensch, nicht einmal als Gedankenexperiment, wenn auch er selbst dies bewusst nie ausgeschlossen hatte. Als Luchs mit dem Bus Richtung Paris verschwindet und lediglich ihre Adresse zurücklässt, schickt er der Fremden zunächst einen aufgebrachten Brief, einen schwachen Versuch der Erdung, entscheidet sich dann aber für das Unmögliche und reist ihr nach. Die gemeinsame Zeit, die folgt, ist kostbar und kurz, göttlich dabei jede Sekunde der fleischlichen Lust.

Anne Weber beobachtet die Erscheinungen der Welt stets mit weniger Spott als Staunen. Genauso erzählt sie auch von dieser Liebe, die beglückend ist und ungeahnte Kräfte verleiht, die auch dann noch weiterwirken, wenn der geliebte Mensch fort und Einsamkeit und Wahnsinn auf der Tagesordnung sind. Auch für Sperber rücken Vergangenheit und Zukunft plötzlich in die weite Ferne, als er Luchs’ toten Körper auf offener Straβe liegen sieht. Die Lebenden hat es für ihn lange nicht mehr gegeben, so entschlieβt er sich, die geliebte Frau den Toten zu entreiβen. Doch wo soll er ihn suchen, den Eingang zur Totenwelt? Und wie lässt sich das Unvollendete leben?

Anne Weber, die auch dieses Buch in beiden Sprachen, auf Deutsch und auf Französisch, verfasst hat, ist mit der Neu-Erzählung des antiken Mythos von Orpheus und Eurodyke trotz mancher Sentimentalitäten ein sehr eindringlicher Prosatext gelungen. Dass Liebe auch Heilung ist, daran lassen wir uns gerne jederzeit wieder von ihr erinnern.

Titelbild

Anne Weber: Tal der Herrlichkeiten. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
253 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100910622

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