Annäherungen an einen gigantischen Trümmerhaufen

Manfred Fuhrmanns Übersetzung der Reden Ciceros in neuer Auflage

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marcus Tullius Cicero, neben Varro der einzige Universalschriftsteller der römischen Antike, hat mit den Reden und Schriften seiner Reifezeit, ob zur Rhetorik, zur Philosophie oder als Briefschreiber, das erste theoretische und praktische Modell klassischer lateinischer Prosa geschaffen. Dadurch wurde er zum Angelpunkt des lateinischen Klassizismus, zum sprachlichen und kulturellen Vorbild im Ciceronianismus und schließlich zu einem der wesentlichen Exponenten der antik-europäischen Bildungstradition.

Bekanntlich bilden zwei Prinzipien die eigentliche Grundlage für das literarische Ideal Ciceros: die enge Verbindung von sapientia (Weisheit) und eloquentia (Beredsamkeit; so in "De inventione") und die Vorstellung, dass es zweckmäßig sei, den Stil gemäß den Argumenten und Anschauungen zu variieren (etwa in "De oratore"). Für die eigentliche Redekunst bot Cicero verschiedene Modelle, wobei zu bedenken ist, dass in seinen Reden mehr eine Mischform der charakteristischen Merkmale der verschiedenen Redegattungen als die starre Unterscheidung von genus demonstrativum, deliberativum und iudiciale vorherrscht. Unabdingbar zur Rhetorik Ciceros gehört auch das Problem der Ethik des Redners, das in der Verbindung von Schreiben, öffentlichem Reden und politischem Handeln besteht. Der Topos des otium (Muße), das mit dem negotium (Beschäftigung) harmoniert, findet sich bei Cicero ebenso ausgeprägt wie der Begriff der politischen Beredsamkeit, die im Dienste der res publica steht und somit Handlung im vollen Sinne des Wortes ist.

Erhalten sind - z. T. mit Lücken - 58 Reden Ciceros (von weiteren 100 sind Fragmente oder nur Titel bekannt), die in der klassischen Philologie nach chronologischen Gesichtspunkten in fünf unterschiedliche Phasen gegliedert werden: 1. Die Reden, die vor 63 v. Chr. entstanden sind und in denen sich die ersten Jahre der senatorischen Laufbahn (Quästur, Ädilität) spiegeln; 2. Die Zeit des Konsulats (63 - 59 v. Chr.; u. a. "In Catiliniam" 1 - 4); 3. Die Reden, in denen das Exil in Thessalonike und Dyrrhachion sowie die Politik des Triumvirats (Pompeius, Caesar und Crassus) thematisiert werden; 4. Die kleine Gruppe der so genannten 'Caesar-Reden' ("Pro M. Marcello", "Pro Q. Ligario", "Pro rege Deiotaro") und schließlich 5. Die 14 so genannten 'Philippicae', die bereits im Titel auf das griechische Vorbild der Ansprachen des Demosthenes verweisen, mit denen der griechische Redner zum Widerstand gegen Philipp von Makedonien aufgerufen hatte. Evident ist Ciceros ausgiebige Reflexion des eigenen Verhältnisses zur Tradition der griechischen und römischen Beredsamkeit. Zurecht weist Manfred Fuhrmann in der Einleitung zu seiner Übersetzung der Reden darauf hin, was Cicero als seine eigentliche Leistung betrachtet wissen wollte: "daß er durch den Rückgriff auf die griechischen Klassiker die römische Beredsamkeit zu ihrer klassischen Höhe geführt" habe, denn - so Fuhrmann weiter - "erst die römische Klassik hat sich mit Erfolg bemüht, große Werke 'aus einem Guß' hervorzubringen, das heißt erst damals wandte man sich ernstlich dem Problem der Einheit und des streng gegliederten Aufbaus zu".

Fuhrmanns Übersetzung der Reden Ciceros (in 1. Auflage 1970 erschienen) stellte den damals durchaus gewagten Versuch dar, gegen die Überbetonung einer 'wörtlichen' Übersetzung vor allem die künstlerischen Mittel der ciceronischen Sprache (parallele Satzglieder, die nach festen Regeln rhythmisierten Satzschlüsse, rhetorische Figuren, oratio bimembris, Satzgliederung, Wechsel der Stillagen und der affektischen Haltung) hervorzuheben, nicht zuletzt auch um den Lesern die Reden nahezubringen, "denen das Original nicht oder nur mit Mühe zugänglich ist". 30 Jahre später kann man mit Fug und Recht behaupten, dass Fuhrmanns "Annäherungen an einen gewaltigen Trümmerhaufen" zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel für die Beschäftigung mit Ciceros Reden geworden ist. Dankenswerter Weise hat Artemis & Winkler Manfred Fuhrmanns 75. Geburtstag zum Anlass genommen, diesen 'Klassiker' der Wiedergabe antiker Kunstprosa in einer neuen Ausgabe zu drucken. Dem Rezensenten bleibt die angenehme Pflicht, Fuhrmanns langjährige Forschungstätigkeit zu Cicero mit einem Zitat aus "De Oratore" zu würdigen:

"Is enim est eloquens, qui et humilia subtiliter et alta graviter et mediocria temperate potest dicere."

Titelbild

Manfred Fuhrmann: Cicero. Sämtliche Reden. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Manfred Fuhrmann.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2000.
3042 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3760835104

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