Auf den schwarzen Hund gekommen

Rebecca Hunt hat mit „Mr. Chartwell“ einen gewagten Roman über den Luft- und Lebensräuber Depression geschrieben

Von Eva UnterhuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Unterhuber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schlägt man auf der Website der WHO, Regionalbüro für Europa, zum Thema Depressionen nach, wird man mit erschreckenden Zahlen konfrontiert: So erleiden etwa 25% der Bevölkerung einmal im Jahr Depressions- oder Angstzustände, machen so genannte neuropsychiatrische Störungen etwa 20% der Krankheitslast in der Europäischen Region beziehungsweise sogar 26% in der Europäischen Union aus. Darüber hinaus werden 50% der schweren Depressionen aus unterschiedlichsten Gründen nicht behandelt. Vornehmlich deshalb, weil die Erkrankung nicht als solche diagnostiziert wird oder die Betroffenen keine ärztliche und therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Oft ist es auch ein reines Abgrenzungsproblem, denn die Grenze zwischen Depression und Burnout ist bei weitem nicht so klar, wie man gemeinhin glauben möchte. Doch nicht nur ist das Krankheitsbild komplex, auch die gesellschaftliche Wahrnehmung der Depression als schwerwiegender Krankheit ist nicht allerorten ausreichend gegeben, ebenso wenig wie die Möglichkeit, sich entsprechend behandeln zu lassen. Der Mittagsdämon Depression – nach Andrew Solomons empfehlenswerten Betroffenheits- und Sachbuch „The Noonday Demon. An Atlas of Depression“ (2002) – hat so viele Gestalten wie Opfer.

Ein derart diffiziles Thema erfolgreich in eine leichte literarische Form zu bringen, mag auf den ersten Blick eher verwegen scheinen. Den Beweis, dass dies gelingen kann, tritt die englische Autorin Rebecca Hunt mit ihrem Roman „Mr. Chartwell“ an. 2010 bei Fig Tree in London erschienen, ist der Roman nun in der Übersetzung von Hans-Ulrich Möhring bei Luchterhand erhältlich.

Konkret erzählt „Mr. Chartwell“ die Geschichte dreier unfreiwilliger Bekannter: von Winston Churchill, dem britischen Staatsmann, von Ester Hammerhans, Bibliothekarin im Unterhaus, und von Mr.Chartwell, Untermieter bei besagter Ester. Ihre Wege kreuzen sich im Juli des Jahres 1964, wobei der Clou dieser Begegnungen darin liegt, dass Mr. Chartwell keineswegs ein Mensch ist. Tatsächlich ist er ein überdimensional großer, außerordentlich hässlicher und extrem widerwärtiger schwarzer Hund. Dieses Wesen mit scharfem Verstand, böser Zunge und abstoßenden Manieren ist, wie sich zeigt, die leibhafte Verkörperung der Depressionen, die Churchill sein Leben lang begleitet haben, von ihm selbst „schwarzer Hund“ genannt. Der Zeitpunkt von Chartwells Auftauchen ist dabei nicht zufällig gewählt: Churchill steht vor einem Wendepunkt in seinem Leben, ist kurz davor, seinen endgültigen Abschied aus der Welt der Politik zu nehmen. Für Mr. Chartwell der perfekte Moment, um seinem langjährigen Opfer erneut das Leben schwer zu machen: mit kleinen Grausamkeiten, zermürbenden Gedanken und frisch geschürten Selbstzweifeln. Ester wiederum muss rasch realisieren, dass Mr. Chartwell keineswegs zufällig bei ihr Quartier genommen hat. Vielmehr ist sie zum zweiten Opfer neben Churchill bestimmt, auch ihr Dasein beginnt sich unter dem monströsen Einfluss Chartwells langsam aber sicher zu verdüstern.

Im Unterschied zu Churchill, der sich gegenüber seinem alten Bekannten kämpferisch zeigt, scheint Ester allerdings kein unwilliges Opfer zu sein. Die junge Frau, für die sich in Kürze eine private Tragödie jährt, setzt dem giftigen Einfluss Chartwells nur wenig entgegen, verliert schnell an Lebenslust und Widerstandskraft. Ihr Peiniger ist sich dabei keiner Schuld bewusst, sondern betont ungerührt, gerufen worden zu sein, nur einen Auftrag zu erfüllen. Doch weder die versuchte Korrumpierung Esters noch die des alten Staatsmannes verläuft am Ende so ganz nach Chartwells Plan. Die beiden Leidensgenossen haben wohlmeinende Menschen an ihrer Seite und treffen schließlich in einer schicksalhaften Begegnung aufeinander, wodurch die Absichten ihres Peinigers in Gefahr geraten.

Mit der Entscheidung, die psychische Krankheit ihrer Protagonisten als denk- und sprechfähiges Hundemonster auftreten zu lassen, hat Rebecca Hunt ihrem Buch eine gewagte Prämisse vorangestellt. Nichts weniger als die Glaubwürdigkeit des Romans hängt davon ab, ob der Leser die groteske Gestalt Chartwells akzeptiert. So könnte man Hunt ja vorwerfen, das Leiden durch dieses fantastische Element zu karikieren, ins Lächerliche zu ziehen. Ebenso könnte man argumentieren, Depression als Bedrohung von außen, abgespalten von der betroffenen Person darzustellen, sei inadäquat für die Auseinandersetzung mit einer Krankheit, die als psychische Krankheit doch wesentlich aus dem Inneren der Betroffenen kommt. (Äußere Umstände spielen bei Depressionen immer ebenso eine Rolle, das sei damit nicht in Abrede gestellt.)

Zum Glück für Leser und Autorin funktioniert Chartwells Figur als tragendes Element des Romans aus mehreren Gründen: Zum einen lässt Hunt an keiner Stelle das Missverständnis aufkommen, ihr Buch sei etwas anderes als ein Roman, ein Ratgeber etwa, oder ein Sachbuch. Sie nimmt die Freiheit in Anspruch, die einem Roman zusteht und erzählt ‚nur‘ eine Geschichte – mit einem fantastischen Element. Ferner räumt Hunt dem Humor einen gleichberechtigten Platz neben dem Ernst ein, vermag es nachdenklich zu stimmen, ohne in Schwermut abzugleiten, zu erheitern, ohne die Geschichte und ihre Charaktere lächerlich zu machen. So bedrückend die zerstörerische Kraft des „schwarzen Hundes“ ist, so unterhaltsam sind die mitunter komödiantischen Wortgefechte zwischen Chartwell und seinen Opfern. Und zu guter Letzt ist Mr. Chartwell nicht der eindimensionale Bösewicht, als der er eingangs erscheinen mag. Bei aller Perfidie und allem Sarkasmus ist er selbst doch nicht völlig frei von Mitleid und Hilflosigkeit. All diese Facetten sowie der undramatische Erzählton Hunts sorgen am Ende dafür, dass dieser etwas andere Zugang zum (Tabu-)Thema Depression gelingt.

Titelbild

Rebecca Hunt: Mr. Chartwell.
Übersetzt aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring.
Luchterhand Literaturverlag, München 2012.
254 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873473

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