Völlig leere Schubladen

„Größenwahn passt in die kleinste Hütte“: Thomas Lehrs aphoristische Gehversuche enttäuschen auf ganzer Linie

Von Tobias GrüterichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Grüterich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bücher, die eine breite literarische Bildung voraussetzen, um sie in allen Facetten zu verstehen. Es gibt Bücher, die für eine sehr heterogene Leserschaft geschrieben sind. Und es gibt Bücher, die auf die Unkenntnis der Leser spekulieren. Der neueste Band von Thomas Lehr gehört leider zur letztgenannten Kategorie.

Der Aphorismus wird von vielen argwöhnisch betrachtet. Die nicht immer unberechtigte Kritik entzündet sich an sprachlichen Routinen, erwartbaren Pointen oder – jenseits des Humoristischen – häufig an einer zu offensichtlichen Rhetorik. Umso verheißungsvoller ist es, wenn ein Autor wie Thomas Lehr, dessen Bibliografie mehrere Romane umfasst, die ‚kürzeste Prosaform‘ für sich erschließt. Die Hoffnung auf einen anderen Zungenschlag, einen neuen Tonfall begleitet die Lektüre, wird aber im Fall von „Größenwahn passt in die kleinste Hütte“ nach kurzer Zeit enttäuscht.

Viel zu oft käut Thomas Lehr aphoristisches Allgemeingut wieder: „Die Bretter, die die Welt bedeuten, werden gerne vor dem Kopf getragen.“ Bei einer solch naheliegenden Sprichwortkombination muss man anno 2012 damit rechnen, dass schon andere diese Idee hatten. Fündig wird man unter anderem bei André Brie (2000): „Womöglich ist es das Brett vor dem Kopf, das die Welt bedeutet.“

Aber auch die Thematisierung technischer Novitäten bewahrt nicht vor einer Kulturkritik, die ebenso selbstgefällig wie abgestanden daherkommt: „Erst der Flachbildschirm offenbarte die wahre Dimension des Fernsehens.“ Obwohl entsprechende Fernsehgeräte erst seit wenigen Jahren produziert werden, haben bereits mehrere Aphoristiker die sich hier geradezu aufdrängende Doppelbedeutung des Wortes „flach“ entdeckt. Detlef Träbert beispielsweise schrieb 2011 etwas witziger als Lehr: „Der Flachbildschirm wurde passend zum Programmniveau entwickelt.“

Und auch der Kalauer „Er sägte schon an dem Ast, den er sich gerade gelacht hatte“ stammt aus zweiter Hand. „Gelegenheit macht Liebe“ – die Methode, einen Buchstaben durch einen anderen zu ersetzen, ist grundsätzlich legitim, in diesem Fall jedoch völlig verbraucht. Der Sprichwortforscher Wolfgang Mieder nennt in seinem Band „Verdrehte Weisheiten“ (1998) acht Autoren, die, wenn man die Möglichkeit des Plagiats wohlwollend ausschließt, unabhängig voneinander genau diese Sprichwortpersiflage veröffentlichten. 2003 kam sogar eine Komödie mit diesem Titel in die Kinos. Thomas Lehr hat das Rad hier buchstäblich zum hundertsten Mal erfunden.

Dass ein Romancier, bevor er ans Werk geht, vorher ein paar klassische und zeitgenössische Romane gelesen haben sollte, versteht sich von selbst. Dies gilt entsprechend für Lyriker, Essayisten und Hörspielautoren. Und dies gilt auch für Aphoristiker! Die unter Autoren und Verlagen leider weit verbreitete Annahme, die ‚kleine Form‘ sei voraussetzungslos und als literarische Zwischenmahlzeit einzustufen, trägt zu ihrem schlechten Leumund bei. Es ist ebenso ärgerlich wie traurig, dass die besten zeitgenössischen Aphoristiker in Lehrs Alter – Jürgen Große, Andreas Steffens, Stefan Brotbeck – in Kleinverlagen publizieren, während Hanser diesem unteren Mittelmaß von Lehr ein Forum bietet.

Viel zu selten gibt Lehr Anlass dazu, dieses harte Urteil einzuschränken. Auf dem unstreitig vorhandenen literarischen Hintergrund ihres Verfassers fußen nur wenige Einträge. Hierbei handelt es sich um Anspielungen, die etwas freier, souveräner oder zumindest kühner mit ihrer Vorlage korrespondieren: „Der Kritiker ist die gefrorene Gestalt, die mit der Axt auf das Meer einschlägt.“ Dieser eigenwillige, metaphorisch vielleicht nicht ganz stimmige Satz ist im Unterschied zu oben genannten Beispielen immerhin eine originäre Schöpfung und eine Antwort auf Franz Kafkas Forderung, ein Buch müsse die Axt sein „für das gefrorene Meer in uns.“

Die substanziellsten Aphorismen gelingen Lehr, wenn er von der Sache ausgeht, statt vom vorgeprägten sprachlichen Muster: „Bisweilen fällt es schwer, sich so dumm zu stellen, wie man ist.“ Fehlt jedoch die Sache, ohne dass ihr Mangel rhetorisch kaschiert wird, ist das Resultat niederschmetternd. Auch unter den ‚anspielungsarmen‘ Sätzen dominieren alberne („In die Posaunen wird immer auch gerotzt.“), laue („Es gibt zwei Arten von Männern. Die einen denken nur an das eine. Die anderen denken gar nichts.“) oder schlicht nichtssagende („Dieses Buch führt sich auf wie ein Beamter.“).

Einer der wiederum besseren Aphorismen provoziert den Rezensenten fast schon dazu, ein Wort auszutauschen. Die ursprüngliche Version lautet: „Es gibt Menschen, denen begegnet man mit dem Schreck, der beim Aufziehen völlig leerer Schubladen entsteht.“ – Für „Menschen“ könnte man auch „Bücher“ einsetzen.

Titelbild

Thomas Lehr: Größenwahn passt in die kleinste Hütte. Kurze Prozesse.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
112 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783446239838

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