Lyrik-Verachtung
Bei Alfred Döblin und anderen
Von Dieter Lamping
Die Verächter der Lyrik sind zahlreich. Es gibt sie unter Politikern und Journalisten ebenso wie unter Literaturprofessoren und Verlegern. In der Regel zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie keine Gedichte lesen, aber schlecht über sie sprechen. Lyrik ist ihnen ein Schimpfwort. Wenn sie etwas herabsetzen wollen, bilden sie ein Kompositum mit -lyrik. Parteitagslyrik ist ein solches Wort, Antragslyrik ein anderes. Manche begnügen sich auch mit abwertenden Wendungen wie: Das ist doch nur Lyrik – die mitunter von einer wegwerfenden Geste begleitet werden. Das, wovon da gesprochen wird, ist jedoch nie Lyrik. Es ist nur schwer verständlich, unwahr, schönfärberisch oder aufgeblasen. So stellen sich die Verächter der Lyrik die Gedichte vor, die sie nicht lesen.
Allerdings gibt es auch gebildete Lyrikverächter, selbst unter großen Schriftstellern (unter kleinen natürlich ebenso). Alfred Döblin etwa hat sich 1948 seine Verachtung von der Seele – oder wovon auch sonst – geschrieben. Sein Donnerwort trägt den Titel Verfluchung der lyrischen Poesie und fängt gleich stark an:
„Ich verfluche das lyrische Gedicht. Ich will es nicht sehen und nicht hören. Ich habe es noch niemals gemocht. Hatte dann einige Jahre meinen Widerwillen überwunden und jetzt verabscheue ich es mehr als sonst. Der Teufel soll es holen, und sie, die es produzieren, dazu. Die Herrschaften mit ihren Produkten verfälschen und verekeln einem die Sonne, den Mond und die Sterne, den Tag und die Nacht und verfälschen [,] da man in der Schule und später das Zeug vorgesetzt bekommt, verfälschen die echte Empfindung und die einfache natürliche Beziehung zu den Vorgängen und Dingen der Welt. Gedichte haben etwas von Bazillen an sich, sie wirken kontagiös. Was glauben Sie, was Gedichte schon für Unheil angerichtet haben durch die faulen und elenden, in ihnen mitgeteilten Gefühlen, die noch dazu zum großen Teil, zum größten Teil unwahr, erlogen und erstunken sind. Denn das gehört ja zum lyrischen Metier, daß man nicht dichtet, was man fühlt und wenn man etwas fühlt, und daß man nichts sagt, wenn man etwas zu sagen hat, sondern daß man etwas hervorbringt, geschrieben und gereimt, in kleiner und großer Form, was nach Gefühl und Empfindung, nach Stimmung aussieht. Es wird produziert, wir leben in einer industriellen Zeit. Die Lyrik ist das Eingereichte, jeder weiß, daß sie am laufenden Band produziert wird –“
Und so weiter.
Döblin hatte noch mehr Atem für seine wortreiche Verfluchung lyrischer Wortemacherei. Aber in diesen Zeilen ist das Wichtigste schon gesagt. Das Hauptwort ist „verfälschen“: Gleich dreimal wird es in einem Satz bemüht. Gedichte, soll das heißen, sind auf eine schlechte Weise subjektiv. Sie sprechen von Gefühlen, die erfunden oder verfälscht sind – eine Literatur der Unehrlichkeit. Ihre Form, zum Beispiel das Reimschema, macht sie beliebig produzierbar; indem sie bedient wird, siegt sie über den Inhalt. Leser können aus Gedichten nichts lernen – außer selbst unehrlich zu sein und falsche Gefühle zu pflegen. Unselig ist die Rolle der Schule als lyrischer Sozialisationsinstanz: In ihr wird man gezwungen, Gedichte zu lesen – ein seelischer Schaden fürs Leben.
Döblins kleine Hassprosa war seine Antwort auf eine Umfrage der Welt am Sonntag nach Lieblingsgedichten. Döblin nennt seines am Ende: „Hoppe, hoppe Reiter“. Ein sarkastischer Witz. Vielleicht wäre es treffender gewesen, wenn er auf die Frage nach seinem Lieblingsgedicht geantwortet hätte: Keines. Aus seiner Verfluchung spricht Überdruss. Offenbar war er als Zeitschriften-Herausgeber – von 1946 bis 1951 gab er Das Goldene Tor heraus – durch viele Einsendungen von Gedichten arg geplagt. Blättert man allerdings in seiner Zeitschrift, muss man den Eindruck haben, dass manches wohl doch den Maßstäben des strengen Kritikers standgehalten hat, neben einigen älteren und einigen übersetzten immerhin auch Gedichte des jungen Peter Rühmkorf.
Auf einem Ehemaligen-Treffen würde Döblins Verfluchung der Lyrik zweifellos breite Zustimmung finden – und zwar unter dem Tagesordnungspunkt: Was für eine Qual war doch unser Deutschunterricht, ständig mussten wir Gedichte interpretieren… Doch bei allem rhetorischen Furor: Überzeugend ist Döblins vernichtende Lyrik-Kritik nicht. Gilt das, was er vorbringt, wirklich für alle Gedichte – oder nicht nur für schlechte, für die lyrische Fabrikware der Zeit? Könnte man das Meiste nicht genauso von schlechten Romanen sagen – insbesondere dass sie das Leben, „die echte Empfindung und die einfache natürliche Beziehung zu den Vorgängen und Dingen der Welt“ verfälschen? Und ist das nicht auch längst schon behauptet und gezeigt worden – etwa von Gustave Flaubert in Madame Bovary anhand der Lektüre seiner Heldin?
Auch so ganz auf der Höhe der Zeit war Döblins Verfluchung nicht. Er spricht offenbar von einer Lyrik der Stimmung, gereimter sogar, als gäbe es keine andere – ein halbes Jahrhundert, nachdem die Moderne sich von genau diesem Gedicht-Typus verabschiedet hatte. Spöttisch schrieb drei Jahre später Gottfried Benn in seinem Marburger Vortrag Probleme der Lyrik: „Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrigbleibt, wenn dann noch etwas übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht.“
Und doch muss man es ernst nehmen, wenn ein großer Autor wie Döblin so wenig von Gedichten hält. Es ist auf jeden Fall ein Symptom. Allerdings nicht nur dafür, dass es zu allen Zeiten viele, unendlich viele schlechte Gedichte gegeben hat. Aus Döblins Abneigung kann man vielmehr vor allem lernen: dass es nicht gut ausgeht, wenn man Lyrik lesen muss. Zu ihrem Recht kommt sie nur, wenn man sich freiwillig auf sie einlässt. So ist es allerdings auch mit den Romanen Alfred Döblins. So ist es mit jeder Literatur. Wenn man aber die Schule hinter sich hat, was jedem zu wünschen ist, und nicht Redakteur oder Lektor wird, was wiederum nicht jeder sich wünscht, ist man frei, Gedichte zu lesen – oder auch nicht. Auf jeden Fall hebt es die Lebensqualität, wenn man Gedichte nicht lesen muss – sondern möchte. Also: Willkommen unter den Lyrik-Lesern!
Literaturhinweise
Alfred Döblin: Verfluchung der lyrischen Poesie. In: Ders.: Kleine Schriften IV. Hg. von Anthony W. Riley und Christina Althen. Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Düsseldorf 2005, S. 408-409. Zitat S. 408.
Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Ders: Essays Reden Vorträge. Das Hauptwerk. Zweiter Band. Hg. von Marguerite Schlüter. Wiesbaden und München o.J. (erste Auflage 1959), S. 317-355. Zitat S. 318.
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