Schöpfungsfantasien von Nummer 1
Frank Schirrmachers Homunculus
Von Franziska Schößler
Frank Schirrmacher entwirft auch in seinem neuen Buch „Ego. Das Spiel des Lebens“ (dessen Titel nicht von ungefähr an David Finchers Film „The Game. Spiel des Lebens“ erinnert) ein suggestives Makronarrativ, das in hohem Maße anschlussfähig ist – Debatten im Fernsehen und in Zeitungen sind vorprogrammiert. Fraglich wird damit (jenseits reiner Polemik), welche Narrative der Autor aufruft, welche altbekannten Metaphern er nutzt und welche Sehnsüchte er seiner apokalyptischen Untergangsgeschichte einschreibt, um diskussionswürdig zu erscheinen.
Die Ingredienzien seiner großen Erzählung (die im Grunde amerikanische (Horror-)Filme von „Aliens“ bis „The Matrix“ nachschreibt) sind folgende: eine (traditionsreiche) Technik- und Maschinenkritik, die Schirrmacher im 18. Jahrhundert mit dem Verweis auf Flöte spielende Puppen und anderes Gerät beginnen lässt, sowie ein popularisiertes Wissen um den Zusammenhang von Spieltheorie und Kaltem Krieg, der in den ‚Finanzschlachten‘ wiederzukehren scheint. Ist die Temperatur der modernen Geldwirtschaft seit den „kalten Herzen“ der romantischen Literatur frostig, so kehrt das Eis in der Makrochiffre des Kalten Krieges wieder und in den Zentralen der Banken ein. Untermischt wird das Ganze mit der ebenso stimmigen wie schalen Diagnose eines Wertverlustes, anders formuliert, mit der litaneihaft wiederholten Überzeugung, Egoismus sei zum vernünftigen Imperativ des Handelns geworden.
Diese ‚Entfremdungserfahrung‘ – die das bürgerliche Subjekt an sich erst konstituiert, denn die Trias Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit legitimiert zugleich (so sieht es zumindest Karl Marx) den vernünftigen Egoismus, die Freiheit zum egoistischen Handeln – konkretisiert Schirrmacher über ein beliebtes romantisches Motiv, den Doppelgänger, der gemeinhin für Tod und radikalen Identitätsverlust steht. Sein Text, der wiederholt von Performativität spricht und diese Dynamik den sich ausbreitenden Spieltheorien vorwirft, bringt ein solches Double selbst hervor – Nummer 2, die beschleunigte Maschine, die das souveräne Handeln übernimmt und den Menschen zur willenlosen Marionette degradiert (auf dem Cover anschaulich in blutrot visualisiert). Schirrmachers recht repetitive Ausführungen bauen diesen Homunculus regelrecht auf, setzen das Monster aus Blutkreislauf, Nervensystem (Nerven im Übrigen als das Organ des Börsendiskurses, dem häufig hysterische Anteile zugeschrieben wurden), Gehirn und Genen zusammen – erinnert wird an die (missverstandene) Rede Richard Dawkins vom egoistischen Gen, das einzig am Überleben interessiert sei. Die Leserin kann beobachten, wie unter der schreibenden Hand des Pantokrators ein Frankenstein’sches Monster ersteht, eine Maschine, die die rhetorische Figur der Anthropomorphisierung zum Leben erweckt – Mary Shelleys Roman „Frankenstein“ ist ein zentraler Bezugstext von „Ego“, Robert Harris’ Thriller „Angst“ wohl sein geheimes Vorbild.
Objekt- und Beschreibungssprache liegen also sehr eng beieinander: Der Text Schirrmachers vollzieht, was er beschreibt, generiert lustvoll das Monster beziehungsweise den Zustand, den er kritisiert. Dieses Verfahren ist deshalb bemerkenswert, weil der Autor wiederholt mit der Foucault’schen Figur der Naturalisierung argumentiert: Das Monster Nummer 2 könne deshalb zum Leben erweckt werden, mit dem Ich verschmelzen und parasitär dessen agency kapern, weil Diskurse ihre Konstruiertheit verschleiern und als Naturgesetze erscheinen (so Schirrmachers Diagnose mit Foucault). Der Text naturalisiert jedoch seine eigene Argumentationsfigur, wenn dieser nach und nach Gehirn, Gene und Blut ‚zuwachsen‘ – das lakonische Inhaltsverzeichnis mit Begriffen wie „Trance“, „Spiel“, „Nervensystem“, „Gehirn“ und „Gene“ liest sich wie der Bauplan eines genial-verrückten Wissenschaftlers. Die dämonische (Finanz-)Maschine schlüpft aus dem Reagenzglas des Schöpfer-Autors – durch Anthropomorphisierungen und Repetitionen, durch Ansprachen an den impliziten Leser und suggestive Szenen. An einer Stelle heißt es, dass sich hinter dem (zitternden) Leser gerade eine Tür öffne, um das Double einzulassen.
Um die Perfektion seines Wesens zu garantieren beziehungsweise dieses unangreifbar zu machen, muss Schirrmacher gewichtige Gegendiskurse abblenden, beispielsweise die sehr viel komplexere Debatte über den „Arbeiter“ (Ernst Jünger) und seine Maschinen, die selbst im Frühsozialismus (wie in Ernst Willkomms Roman „Weisse Sclaven“) als Erleichterung der menschlichen Mühsal begriffen wurden; Hannah Arendt profiliert zudem, dass sich die Maschine als Produkt des Menschen diesem unweigerlich anpasse. Abgeblendet wird zudem, dass auch an der Börse trotz Hochgeschwindigkeitsrechnern Menschen agieren. Weshalb sonst beschäftigten sich die Soziologie und Arbeitswissenschaft mit irrationalen Akteur/innen. Empirische Forschungen haben ergeben, dass sich insbesondere männliches Wirtschaften durch das Vertrauen auf die selbstregulativen Kräfte des Marktes, durch „Overconfidence“ und den Schein eines Rationalismus auszeichne, der keiner sei.[1]
Das übersteigerte Selbstvertrauen, das zu irrationalen Entscheidungen führe, finde sich häufig bei allein stehenden jungen Männern, zudem in Berufsfeldern, die als männliche gelten und zu einem Handeln auf der Basis von zu wenig Informationen verführen. Das männlich dominierte Finanzsystem werde zudem von privaten und halbstaatlichen epistemischen Netzwerken kontrolliert, die sich gegen jegliche Kritik abschotten und als männliches Herrschaftsinstrument fungieren.[2] Dass Menschen irrational handeln können, reflektiert Schirrmacher durchaus – die Experimente der Spieltheorie scheiterten wiederholt an widerspenstigen Probandinnen. Doch für den Autor gibt es schlicht keine irrationalen Akteur/innen mehr, weil diese ihre Kompetenzen an Maschinen delegieren und sich die Maxime eines vernünftigen Egoismus durchgesetzt habe – eine dezisionistische Setzung (nicht nur gegen die Erfahrungen der verzweifelten Spieltheoretiker/innen).
Auch die titelgebende Chiffre des scheinbar völlig isoliert agierenden Homo oeconomicus kennt einen Gegendiskurs: Die (amerikanische) wirtschaftswissenschaftliche Forschung, die Critical Economics, haben diesen Typus als Prototyp weißer westlicher Männlichkeit ausgewiesen und mit Altruismus- beziehungsweise Solidaritätskonzepten konfrontiert; sie haben die narrativen Strukturen des Homo oeconomicus, das heißt den in diesen Mythos inskribierten Entwicklungsroman sowie seine psychoanalytische Dynamik[3] freigelegt und betont, dass das „bourgeois drama“ irrationale Anteile enthalte. Schirrmacher greift hingegen auf ein vereinfachtes und damit leicht popularisierbares Konzept des Homo oeconomicus zurück, das den knallharten Rationalisten einer entzauberten Welt assoziiert und offensichtlich zum Bürgerschreck taugt (obgleich er selbst ein bürgerlicher Typus ist).
Und Schirrmacher ruft weitere unbestimmt bleibende, hoch aufgeladene Semantiken auf: Dazu gehört allem voran die Metapher des Spiels, die den Börsendiskurs im 19. Jahrhundert durchgängig prägt und in Fontanes Börsenroman „L’Adultera“ ebenso zu finden ist wie in den zahlreichen Schmähschriften (von Otto Glagau und anderen). Dazu gehört das Wortfeld der Alchemie, das die Finanzsphäre als nicht-produktive ausweist, als Kreation von Werten aus dem Nichts. Im 19. Jahrhundert unterstreicht der Vergleich mit alchemistischen Experimenten das gänzlich Unproduktive der Finanzoperationen, das sie von Agrarwirtschaft, Handwerk und Industrie deutlich absetzt; Georg Simmel hält in seiner „Philosophie des Geldes“ kritisch fest, dass es oft scheine, als sei die Entstehung großer Vermögen nicht ganz mit rechten Dingen zugegangen, als seien ihre Besitzer als etwas unheimliche Persönlichkeiten zu denken und als wäre eine dämonische Macht im Spiel. Um dieser Dämonisierung zu begegnen, unterstreichen Expert/innen wie Max Weber die Notwendigkeit der Börse für die ‚Realwirtschaft‘.
Etwas bizarr mutet es an, dass das altbekannte Konzept der unsichtbaren Hand beziehungsweise des Gemeinwohl fördernden Eigennutzes, das Adam Smith in einem moraltheologischen Kontext entworfen hat und das eine jahrhundertealte Konjunktur besitzt – zu erinnern wäre an die Rechtfertigungsschrift von Leonhard Fronsberger „Von dem Lob deß Eigen Nutzen“ (1564) und Bernard Mandeville „The Fable of Bees“ (1714) –, eine Neuauflage aus dem Geist der Technikkritik erfährt. Nun beleben die Physiker, die aus den Bunkern des Kalten Krieges in die Wall Street geströmt sind, diese Figur und enthüllen ihre ganze Perversion. Es scheint, als solle ein guter Kapitalismus beziehungsweise Liberalismus (vor 1945) von einem schlechten (kriegerischen) abgetrennt werden, doch auch ersterer basiert nun einmal auf der Maxime des vernünftigen Egoismus. Es geht Schirrmacher also wohl um die Rettung eines scheinbar vortechnischen Kapitalismus und den Mythos einer guten unternehmerischen Bürgerlichkeit, die er nostalgisch-verklärend in eine fiktive Vergangenheit projiziert. Schirrmachers Buch richtet sich offensichtlich an eine (erodierende) Mittelklasse, die ihre eigene Vulnerabilität entdeckt (Castel); die Ausgeschlossenen und ‚Überflüssigen‘ dürfte die hier formulierte Spekulations- und Konsumkritik wenig betreffen.
Welche Werte also scheinen in diesem Schreckbild völliger Entfremdung auf? Schirrmachers Buch inszeniert die (gegenwärtige stark geschürte) Angst vor der Überfremdung durch ein internationales Finanz- und Konsumsystem, wenn es heißt: „Nach einem 50 Jahre währenden Kalten Krieg zwischen einem sozialwirtschaftlichen und einem planwirtschaftlichen System, die beide über die Atombombe verfügten, befinden wir uns nach dem Ende des Kommunismus in einem neuen Kalten Krieg zwischen demokratischen Nationalstaaten und globalisierten Finanzmarktkörpern.“ Der Autor belebt den altbekannten (und fatalerweise hoch aktuellen) Streit zwischen Nation und Internationalität – ebenfalls ein prominenter Topos des Börsendiskurses im 19. Jahrhundert, allem voran nach dem Platzen der Spekulationsblase 1873 (damals mit antisemitischem Duktus). Die internationalen Ströme des Kapitals galten in dieser ersten Phase der Globalisierung als völlig unkalkulierbar und riefen paranoide Fantasien sowie fragwürdige Gegenmittel auf den Plan: Gegen das flottierende und expandierende Kapital setzten Bestseller der Jahrhundertwende wie Max Freunds „Der Warenhauskönig“ den anständigen Kaufmann als Inbegriff deutscher Männlichkeit. Schirrmacher erklärt in der Talkshow „Beckmann“ denn auch den deutschen Unternehmer (am besten noch den Familienunternehmer) zu seinem Helden. Gegen die Abstraktion des internationalen Finanzsystems beschwört er das Bild eines unternehmerischen Wärmeverbandes, der national und wertebewusst agiert.
Schirrmacher hat sicherlich, wie so häufig, eine grassierende Befindlichkeit (des Mittelstandes) aufgespürt und mit einer suggestiven (abgedichteten) Metanarration versehen, die die Entwicklungen der bürgerlichen Moderne (seit Erfindung der Dampfmaschine als Auftakt des „velociferischen Zeitalters“, so Goethe) stringent auf einen kriegerischen Nenner bringt und mit einem Maskottchen, einem Monster versieht, das sein Buch selbst gebiert (auch im Sinne einer männlichen Schöpfung). Beobachtbar ist, wie ein Text Plausibilität und Suggestion produziert, wie er argumentatorische Schließungen vornimmt (zuweilen auch durch Sprünge) und Wissen popularisiert.
„Ego. Spiel des Lebens“ kann als Dokument der Vulnerabilität des alten intellektuellen Subjekts gelesen werden, das Werte (wie Altruismus und Wahrhaftigkeit) sowie deutschen Unternehmergeist (als Komplizen) einklagt, nicht aber die radikalen Individualisierungen (auch der Bedürfnisse) und ihre neuen politischen Ausdrucksformen (wie Occupy) genauer in Augenschein nehmen will. Scheint im Zeitalter des Postfordismus zudem die Reflexion über die eigene Involviertheit in das System unabdingbar (weil Subjektivierung, Kreativität und Ökonomismus eng miteinander verquickt sind), so spart Schirrmachers Text seine Kollaborationen konsequent aus. Die Schöpfungsgeschichte der Nummer 2 wird von einem auktorialen Erzähler gegeben, der schlicht Nummer 1 bleiben will.
[1] Barber, Brad M./Odean, Terrance: Boys will be Boys: Gender, Overconfidence and Common Stock Investment. In: The Quarterly Journal of Economics CXVI (2001), S. 261-292, S. 261.
[2] Young, Brigitte/Schuberth Helene: The Global Financial Meltdown And The Impact Of Financial Governance On Gender. Garnet Policy Brief. Number 10. January 2010, S. 3.
[3] Feiner, Susan F.: A Portrait of Homo economicus as a young man, in: Woodmansee, Matha/Osteen, Mark (Hg.): The new Economic Criticism. Studies at the intersection of literature and economics, London, New York 1999, S. 193-209, S. 193f.
![]() | ||
|
||
![]() |