In hundert Wörtern durchs Jahrhundert

Eine Blütenlese zieht Bilanz

Von Klaus SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur noch wenige Wochen, dann passiert es: das neue Jahrtausend kommt. Nur - was machen wir mit dem alten? Einfach vergessen, weil der Computer den Milleniumwechsel nicht hinbekommt? Nein, wir erinnern uns, blicken zurück und ziehen Bilanz. Da dies voraussichtlich eine nicht unbedingt einfache und angenehme Sache zu werden droht, kamen kluge Köpfe auf die bestechende Idee, das letzte Jahrhundert mal eben in 100 Worte zu fassen. Pro Jahr ein Wort, hört sich gut an. Ein Problem gibt es dennoch: welche Worte soll man nehmen? Eine Jury mußte her, die mußte das entscheiden. So schlicht. So gut. Das hat die Jury auch getan. Aber hundert Worte einfach so, das gibt nichts her, dachte die Jury. Also brauchte man nochmals ein paar ganz wichtige und kluge Personen, die uns dann die 100 Worte erklären sollten. Es sind die üblichen Verdächtigen geworden, genau 100 an der Zahl, die nun definieren, schwadronieren und philosophieren durften, daß es (zumeist) eine wahre Freude ist.

Auch die Personenwahl zur Wortwahl wurde mehr als konsequent umgesetzt: Konstantin Wecker nahm sich die "Drogen" vor, Daniel Cohn-Bendit ging zur "Demonstration". Ganz logisch, das. Natürlich mußte Ulrich Beck für die "Globalisierung" einstehen und Heiner Geißler sich an der "Soziale[n] Marktwirtschaft" abrackern. Und niemanden würde man die "Selbstverwirklichung" mehr abnehmen als Reinhold Messner! Richtig gut wurde es bei "Pop": Andreas Neumeister erledigte auf knapp drei Seiten, wozu Diedrich Diederichsen etliche Bücher und Aufsätze brauchte (und noch immer nicht auf den Punkt gekommen ist!). Wie gesagt, 100 Worte von 100 Personen. Es wurde selbstredend eine arg subjektive Geschichtsschreibung. Indes, was müssen wir feststellen, es wurde eine, in der es nur Nomen aber keine Verben gibt! Man stelle sich das vor, ein Jahrhundert ohne Verben! Ein deutsches Jahrhundert ohne das Verb "vergasen" - geht das? Wohl kaum! Typisch deutsche "Verdrängung", möchte man meinen. So einfach wie jüngst Martin Walser machen es sich die Autoren allerdings nicht. Die Hauptwörter haben es nämlich in sich und werfen mehr (unangenehme) Fragen auf, als sie leichtfertige Antworten geben - und das ist gut so. Schließlich hat dieses Jahrhundert neben "Holocaust", "Völkermord", "Konzentrationslager" und "Weltkrieg" auch "Schreibtischtäter" hervorgebracht. Und der "Luftkrieg" wütet schrecklich gegenwartsnah im Kosovo!

Titelbild

Daniel Cohn-Bendit: 100 Wörter des Jahrhunderts.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
351 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3518394738

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