Ein schwieriger Prozess mit ungewissem Ausgang

Susanne Balmer entdeckt vier Narrative im weiblichen Entwicklungsroman

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Da wäre unserem Geschlechte ein recht elendes Los zu Theil geworden, wenn es bloß dem Manne Essen und Wäsche besorgen sollte, und sich mit den Kindern zu quälen hätte“, konstatierte eine gewisse Julchen Grünthal schon vor mehr als zwei Jahrhunderten rebellisch. Wer wollte da widersprechen, außer vielleicht Leute wie Eva Herman?

Eine Korrektur ist aber doch anzubringen. Julchen Grünthal hat sich die zitierte Sentenz keineswegs selbst ausgedacht, sondern vielmehr die Literatin Helene Unger. Um ein Plagiat handelt es sich gleichwohl nicht, wurde Julchen doch selbst von Unger erdacht und zur Heldin ihres gleichnamigen Romans erkoren. Die Kenntnis der Textstelle verdankt der Rezensent der Lektüre von Susanne Balmers Untersuchung zum „Weiblichen Entwicklungsroman“, die es hier zu besprechen gilt.

Balmer zieht ausschließlich Romane heran, die von Frauen verfasst wurden. Dies begründet sie überzeugend damit, dass das Geschlecht ein „wichtiges Kriterium für die Differenzierung der Kontextinformationen“ ist. So könne „vor dem Hintergrund“ einer „spezifischen Bedingung ‚weiblicher‘ Entwicklungs- beziehungsweise Individuierungsgeschichten durch den bürgerlichen Geschlechterdiskurs“ von einem „eigenen Genre des ‚weiblichen‘ Entwicklungsromans“ ausgegangen werden. Gleichwohl bezieht sich ihr Begriff des ‚weiblichen’ Entwicklungsromans nicht auf das Geschlecht der Autorin, sondern auf das der Protagonistin. Die untersuchten Romane stammen aus dem „langen 19. Jahrhundert“, das einen Zeitraum von 130 Jahren umfasst, der im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beginnt und bis zum Ende des 19. reicht.

Balmer unternimmt keine textimmanente Untersuchung, sondern fragt nicht zuletzt danach, wie sich die Weiblichkeitsentwürfe in den Romanen zur „bürgerlichen Geschlechterdichotomisierung“ verhalten. Diesem Verhältnis geht die Autorin anhand mehrerer Gegensatzpaare sowohl im „Entwicklungsverlauf der Hauptfigur („teleologisch/kontingent“ und „Vererbung/Erziehung“), deren Verhältnis zu den „Geschlechternormen (angepasst/transgressiv)“ und der literarischen „Darstellung der gesellschaftlichen Ordnung (stabil/wandelbar)“ nach. Die „Kombination dieser Werte“ soll Auskunft über das „Wirkungspotential der Romane“ geben. Hierzu konzentriert sich die Autorin insbesondere auf die „narrativen Strategien“, welche die Literatinnen einsetzen, um „den geschlechterspezifischen Widersprüchen zwischen Individuierung und gesellschaftlicher Integration, zwischen individueller ‚Weiblichkeit‘ und bürgerlichen Geschlechternorm darzustellen, zu problematisieren, ihn zu unterlaufen oder aufzulösen“.

Zuvor aber geht die Balmer den „Möglichkeitsbedingungen ‚weiblicher‘ Entwicklungsgeschichten in der Literatur“ auf den Grund und rekonstruiert eine überzeugende Quadriga „‚weiblicher’ Entwicklungsnarrative“, „die dem Widerspruch ‚weiblicher‘ Individuierung im bürgerlichen Geschlechterdiskurs mit je unterschiedlichen Strategien begegnen“. Es sind dies zunächst das „Perfektibilitätsnarrativ“ („Entwicklung als Vervollkommnung“), sodann das „Pathologienarrativ“ („Entwicklung als Krankheitsverlauf“) und das „Revolutionsnarrativ“ („Entwicklung als Revolution“) sowie schließlich das „Evolutionsnarrativ“ („Entwicklung als Evolution“). Zwar korrespondiert eine bestimmte Epoche mit jedem der vier Narrative, doch lassen sie sich nicht einfach chronologisch aneinander reihen wie die Perlen auf der Schnur. Dem wird der Aufbau der Arbeit, der sich an den vier Narrativen orientiert, gerecht.

Zwar wurden die Romane mit dem Perfektibilitätsnarrativ ausnahmslos vor und um 1800 verfasst und sind somit die ältesten; die des Evolutionsnarrativs wurden um 1900 geschrieben, was sie zu den jüngsten macht. Doch die dazwischen liegenden Narrative spannen sich jeweils vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis tief in das 19. hinein, wobei das Pathologienarrativ mit Gabriele Reuters 1897 erschienenem Roman „Aus guter Familie“ sogar die Grenze zum 20. Jahrhundert berührt.

Der Begriff der Perfektibilität zielt in Balmers Untersuchung auf eine „Textformation“, in der das „Paradigma der Perfektibilität“ und die „Möglichkeitsbedingungen der dargestellten Weiblichkeitsentwürfe“ in „direktem Bezug“ zueinander stehen. In einschlägigen Werken eröffnet sich der Ich-Erzählerin die „Möglichkeit eines Selbstentwurfes“, womit die Romane „die weibliche Perspektive auf die Themenbereiche ‚Geschlecht‘ und ‚Entwicklung‘ ins Zentrum stellen“. Zudem werde im Perfektibilitätsnarrativ nicht etwa eine „komplementäre Geschlechterordnung entworfen“, sondern vielmehr „das allgemein Menschliche beider Geschlechter betont“. In der „Hauptsequenz“ der Romane „brechen die Protagonistinnen des Perfektibilitätsnarrativs ganz deutlich mit der (bürgerlichen) Geschlechternorm“ und werden somit „als moralisch angreifbar dargestellt“. Obwohl sich dem Ausbruchsversuch eine von den weiblichen Hauptfiguren erfreut bejahte „Reintegration in die patriarchalische Geschlechterordnung als Ehefrauen und Mütter oder als Tochter“ anschließt, werden die Frauenfiguren weder „auf ihre biologische Funktionen reduziert“ noch liegt ihre „Bestimmung“ schlechthin im „Dasein als Gattin im allgemeinen“, sondern in dem als Gattin des jeweiligen „Ehemanns im besonderen“.

Zwar folgt das Geschehen im Pathologienarrativ ebenso wie im Perfektibilitätsnarrativ einer „Finalität“, doch nicht wie dort mit positivem, sondern mit negativem Ausgang, da die gesellschaftlich evozierte pathologische Verlauf dem Individualisierungsbestreben der Protagonistin entgegen steht, wie die Autorin etwa an Gabriele Reuters Figur Agathe zeigt. In diesem Narrativ bildet ein „Krankheitsprozess“ das „strukturierenden Moment der ‚weiblichen‘ Entwicklungsgeschichten“. Dabei rekurriert es intensiv auf den zeitgenössischen Krankheitsdiskurs, anhand dessen es die „bürgerliche Weiblichkeitsvorstellungen“ kritisiert. Die etwa als „gehorsame Töchter“ oder „aufopferungsvolle Gattinnen“ konzipierten Protagonistinnen sind also willens „jeder Form der Individuierung zur entsagen“. So entfalten sich in ihnen „negative Weiblichkeitsentwürfe“, die im „Wirkungspotenzial“ der Werke ebenso wie die „Ungerechtigkeiten und Missstände der Geschlechterordnung“ bloßgestellt werden.

Das Revolutionsnarrativ weist der Autorin zufolge hingegen auf „die umstürzlerische Gefahr“ hin, die einem „geglückten Weiblichkeitsentwurf jenseits von Ehe und Mutterschaft“ innewohnt, setzen sich die weiblichen Hauptfiguren doch „über ihre biologisch-sozialen Funktionen hinweg“ und besetzen „‚männlich‘ konnotierte Handlungsräume“. Als revolutionär gelten diese Narrative Balmer, weil sie sich gegenüber der „bürgerlichen Geschlechterdichotomisierung“ sowohl auf der Darstellungsebene wie auch auf der Handlungsebene „transgressiv verhalten“ und „Alternativen zur Frau als Gattungswesen“ bieten. Allerdings blieben die Weiblichkeitsentwürfe der Protagonistinnen im Romangeschehen „singulär“, ohne zum „Vorbild für die nächste Generation“ zu werden, wie etwa Friederike Helene Ungers „Bekenntnissen einer schönen Seele“ und Luise von François’ “Die letzte Reckenburgerin“ zeigen.

Anders als in den vorhergehenden Abschnitten konzentriert sich Balmer im letzten ganz auf die Werke nur einer Autorin. Denn Hedwig Dohms Romantrilogie „Schicksale einer Seele“, „Sibilla Dalmar“ und „Christa Ruhland komme nicht nur eine „zentrale Stellung“ für das Genre des Entwicklungsromans zu, sondern entwerfe „auf der Ebene des Individuums und der Gattung“ zudem eine „einzigartige Adaption eines evolutionären Entwicklungskonzepts“. Damit dürfe die Trilogie als „wichtiger historischer Wendepunkt“ innerhalb des Genres gelten.

Dass Dohm in ihrem literarischen Werk „die Darstellung von Weiblichkeit und ‚weiblicher‘ Entwicklung im Zeichen der Veränderbarkeit der Arten und der Variabilität des Individuums vor dem Hintergrund der weiblichen Emanzipationsbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert“ entwirft, ist keine sonderlich originelle Feststellung; wohl aber, dass dies „mithilfe der Adaption evolutionärer Theoreme“ im Anschluss an die „Evolutionstheorie“ von Ernst Haeckel geschehe. Eben darum kann die Autorin Dohms Romane als beispielhaft für das Evolutionsnarrativ anführen und untersuchen. Nun mag es sein, das Dohm die Werke Haeckels rezipierte. Mit der Kategorie des Evolutionsnarrativs lassen sie sich aber sicher nicht erschöpfend kennzeichnen.

Da der jeweilige Ausgang des Emanzipationsprozesses der Protagonistinnen in den drei Romanen ein „schwieriger Prozess mit ungewissem Ausgang“ sei, falle die Bewertung des „Wirkungspotenzials“ der Weiblichkeitsentwürfe und die Überlebensstrategien der Frauen“ in den Romanen der engagierten Feministin „wenig eindeutig aus“.

Mag man Balmers Ausführungen zu Dohms Romanen auch nicht in jedem Punkt unterschreiben, so hat sie insgesamt doch nicht nur einen innovativen Blick auf den weiblichen Entwicklungsroman des „langen 19. Jahrhunderts“ geworfen, sondern auch einen oft erhellenden interpretatorischen Ansatz entwickelt, mit dem es ihr gelingt, anhand der Werke von Schriftstellerinnen überzeugend darzulegen, das die „‚männliche‘ Konnotation des Entwicklungsromangenres“ nicht länger aufrecht zu erhalten ist. Nicht in jedem Fall halten Wissenschaftlerinnen ihre Untersuchungen zu Recht für bedeutend. Doch um eine „Revision des Bildungs- und Entwicklungsromangenres“ kommt die Literaturwissenschaft nach Balmers Studie tatsächlich nicht mehr herum.

Titelbild

Susanne Balmer: Der weibliche Entwicklungsroman. Individuelle Lebensentwürfe im bürgerlichen Zeitalter.
Böhlau Verlag, Köln 2011.
384 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783412207700

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