Europäischer Volksaufklärer und Bestsellerautor

Ein Sammelband zeigt zum 200. Geburtstag Berthold Auerbachs, dass sich die Wiederentdeckung lohnt

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 16. Mai 1938 wurde die nach dem deutsch-jüdischen Autor Berthold Auerbach (1812-1882) benannte Straße im Berliner Bezirk Grunewald umbenannt und hieß fortan Auerbacher Straße. Erst jetzt, ein Dreivierteljahrhundert danach, erhält die Straße wieder ihren ursprünglichen Namen zurück. So wurde die Erinnerung an den im 19. Jahrhundert in Europa und Nordamerika berühmten Autor, der mit den ab 1842 erscheinenden „Scharzwälder Dorfgeschichten“ großes Aufsehen erregte, im Nationalsozialismus vorsätzlich getilgt.

Auch die Auerbach Straße in Marbach am Neckar, wo der Nachlass Auerbachs liegt, verschwand entsprechend dem Willen nationalsozialistischer Volksgenossen. „Einst fast eine Weltberühmtheit“, wie Hermann Kinder seine 2011 veröffentlichte Collage mit Ausschnitten aus Auerbachs Briefwechsel mit seinem Freund Jakob Auerbach im Untertitel nennt, hatte Auerbachs Werk allerdings schon wenige Jahre nach seinem Tod 1882 an Interesse eingebüßt. Das hielt bereits Auerbachs Freund und Nachlassverwalter Anton Bettelheim fest, der 1907 die einzige und bis heute maßgeblich gebliebene Biografie des Autors veröffentlichte. Doch die bewusste Tilgung der Erinnerung an den umtriebigen, immens produktiven Erfolgsautor aus dem Südwesten Deutschlands hat eine andere Qualität, deren Folgen bis heute auch die Forschung zu Auerbach beeinflussen.

Zunächst dauerte es nach 1945 einige Zeit, bis das Werk Berthold Auerbachs überhaupt wieder Gegenstand literaturwissenschaftlichen Interesses wurde. Nach Hans Otto Horchs wegweisender Habilitationsschrift „Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur“ (1985), die im Rahmen einer Untersuchung der Literaturkritik von der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ auch Auerbach ausführlich behandelt, erschienen insbesondere während des letzten Jahrzehnts einige wichtige Monografien, die neue Aufschlüsse zu Auerbach brachten; ich nenne hier exemplarisch nur Kerstin Sarneckis Studie „Erfolgreich gescheitert – Berthold Auerbach und die Grenzen der jüdischen Emanzipation im 19. Jahrhundert“ (2006) und Petra Schlüters voluminöse Dissertation „Berthold Auerbach – Ein Volksaufklärer im 19. Jahrhundert“ (2010).

Dennoch ist ein umfassenderes Interesse an Auerbach erst am Entstehen. Schon deshalb ist es verdienstvoll, zum 200. Geburtstag Auerbachs einen umfangreichen und illustrierten Sammelband herauszugeben, zu „Werk und Wirkung“, wie es schlicht im Untertitel heißt. Verständlicherweise setzt auch der Berner Germanist und Herausgeber Jesko Reiling bei der großen Popularität Auerbachs im 19. Jahrhundert an, um sein heutiges relatives Vergessensein davon abzuheben. Auf die Bedeutung des Nationalsozialismus für dieses Verschwinden von Auerbachs Erzählungen, Romanen und Theaterstücken sowie Reden, Aufsätzen und Briefen aus dem kollektiven Gedächtnis der Nachwelt geht er dabei nicht eigens ein; allerdings widmet sich der letzte Beitrag des Bandes von Albrecht Regenbogen der antisemitischen Demontage von Auerbachs Werk und der dann erst zum 100. Todestag des Autors wieder auflebenden „Erinnerungskultur“.

Tatsächlich markiert das Jahr 1982 insofern eine wichtige Zäsur, als in diesem Jahr der auch mit einem Beitrag im Band vertretene Horber Germanist und Anglist Bernd Ballmann im Februar eine umfangreiche Gedenkausstellung im Nordstettener Schloss organisierte und damit den Weg zur Einrichtung einer Auerbach Gedenkstätte in dessen Geburtsort bereitete. Eine mit dem notorischen „Judengift“-Stempel versehene Ausgabe von Auerbachs Roman „Dichter und Kaufmann“ (1840), die auf Seite 419 abgebildet ist, erinnert ebenfalls an die nationalsozialistische Verfolgung von Auerbachs Werk. Was Reiling vor allem anführt, ist das hartnäckig tradierte Klischee, „Auerbach sei lediglich ein trivialer Heimatdichter, der idyllisch verklärende, sentimentalische und moralisierende Unterhaltung biete“. Darin liegt sicherlich eine der Ursachen, warum das Werk Auerbachs vor allem innerhalb der Germanistik bis vor kurzem kein besonderes Forschungsinteresse auf sich zog. Die Beiträge belegen hingegen überzeugend, dass sich eine Beschäftigung mit Auerbach aus unterschiedlichen Gründen lohnt.

Der Band gliedert sich in die vier Abteilungen „Traditionen“ (I), „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ (II), „Romane“ (III) sowie eine offenere Rubrik unter der Überschrift „Auerbach und seine Zeit(genossen)“ (IV). Die Rubriken sind plausibel gewählt, insofern sie die Werkanalyse mit Beiträgen zur ideengeschichtlichen Verortung Auerbachs beginnen lassen, der dann eine Abteilung zu den „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ folgt, die verständlicherweise den meisten Raum einnimmt, stellen doch die Dorfgeschichten den umfangreichsten und vor allem erfolgreichsten Teil seines Werks dar.

Dass es nur zwei Beiträge zu den Romanen Auerbachs gibt, spiegelt ein schon von Bettelheim aufgebrachtes Verdikt gegenüber Auerbachs gesamter Romanproduktion. Dabei zeigen die beiden Beiträge (von Philip Ajouri und Hans Otto Horch), dass es hier durchaus zu differenzieren gilt und insbesondere die beiden ersten, die sogenannten „jüdischen“ Romane Auerbachs, zu Unrecht bis heute als wenig bedeutend bewertet werden. Die letzte Rubrik schließlich versammelt Beiträge zu heterogenen Themen, die von Auerbachs dramatischem Schaffen (Jana Kittelmann) über sein „Tagebuch aus Wien“ (1849) (Heinz Kapp) bis hin zur bereits erwähnten antisemitischen Demontage seiner Literaturproduktion reichen. Mit den hier versammelten insgesamt 17 Beiträgen ist Auerbachs Werk und dessen Rezeption sehr wohl exemplarisch vorgestellt, keinesfalls jedoch schon umfassend oder gar abschließend ausgeleuchtet, wie der Herausgeber zu Recht betont.

Den Band eröffnet der einzige englischsprachige Beitrag, der Auerbachs Spinoza-Rezeption ins Zentrum rückt und als kritische Antwort auf Hegel deutet. Tracie Matysik analysiert darin neben Auerbachs frühem Essay „Das Judenthum und die neueste Literatur“ (1836) vor allem seinen Spinoza-Roman (1837) und rekonstruiert den Zusammenhang, den Auerbach selbst zwischen seiner Beschäftigung mit Spinoza und den „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ als „die concrete Ausführung des Pantheismus“ herstellt. Es ist lediglich zu bedauern, dass sich dieser exzellente Beitrag nicht auf die schon 2001 veröffentlichte Dissertation „Jüdische Identität in der Moderne im Spiegel der Rezeption Baruch de Spinozas in der deutschsprachigen Literatur“ von Carsten Schapkow bezieht, der darin bereits ausführlich auf Auerbachs Spinoza-Rezeption eingegangen ist.

Die drei weiteren Beiträge der ersten Sektion widmen sich unterschiedlichen Aspekten von Auerbachs zentraler literaturpolitischer Zielsetzung: der Volksaufklärung (Holger Böning, Bernd Ballmann, Jesko Reiling). Während Bernd Ballmann das Genre der Kalendergeschichten am Beispiel der Erzählung „Der Blitzschlosser von Wittenberg“ (1860) exemplarisch verhandelt und sich Jesko Reiling Auerbachs vor allem in „Schrift und Volk“ (1846) niedergelegter Poetologie annimmt, zeigt Holger Böning sehr anschaulich, inwiefern die „Dorfgeschichten“ als „bürgerlich-liberale ‚Kampfschriften‘“ zu verstehen sind, in der vor allem diejenigen Volksschichten porträtiert werden, „die zur Durchsetzung einer neuen Gesellschaftsordnung als Bündnispartner benötigt werden.“

Die vermeintliche Harmlosigkeit der Dorfgeschichten, die diesen zuweilen zugeschrieben wird, verschwindet schnell, wenn die literaturpolitische Agenda dieser „Tendenz-Literatur“ (Gustav Freytag) rekonstruiert wird. Damit rückt Auerbach zugleich in den Kontext der Forschung zum Bürgerlichen Realismus ein, den er mit seinen Dorfgeschichten mitbegründet hat. Konsequenterweise drehen sich einige der Aufsätze aus der Abteilung zu den Dorfgeschichten daher auch um Rezeptionen und intertextuelle Bezugnahmen auf Texte Auerbachs bei anderen Autoren des Bürgerlichen Realismus wie Gottfried Keller oder Theodor Storm (Wolfgang Lukas, Achim Aurnhammer/Nicolas Detering). Ein Beitrag aus der vierten und letzten Abteilung ist darüber hinaus der schillernden Beziehung zwischen Auerbach und Theodor Fontane gewidmet (Bernhard Sandherr).

Insgesamt zeichnet sich der Sammelband durch eine Vielzahl, zum Teil recht heterogener, Ansätze und Fragestellungen aus. So enthält der überwiegend literatur- und kulturwissenschaftlich orientierte Band etwa auch einen regionalgeschichtlichen Beitrag, der Auerbachs Geburtsort Nordstetten zum Gegenstand hat (Joachim Lipp). Unter anderem dieser Text erinnert daran, dass der Modellort von Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten gar nicht im Schwarzwald liegt, sondern geografisch dem Oberen Gäu zuzuordnen ist, weshalb der Schauplatz der ersten Dorfgeschichten eher der Schwäbischen Alb als dem Schwarzwald ähnelt. Die Heterogenität der Beiträge ist aber kein Nachteil, denn gerade so lässt sich erkennen, wie vielgestaltig Auerbachs Werk ist, welche Bedeutung es für die deutschsprachige und die europäische Literatur des 19. Jahrhunderts besitzt beziehungsweise wie es auf diese reagiert und wo sich schließlich durch aktuelle Forschungsfragen neue Einsichten ergeben.

Beispielhaft sei für den letzten Aspekt Virgina L. Lewis Aufsatz genannt, worin die Autorin die aktuelle Kritik an einer globalisierten Wirtschaftsordnung, wie sie etwa von der australischen Philosophin Val Plumwood (1939-2008) formuliert wurde, zur Dorfgeschichte „Diethelm von Buchenberg“ in Beziehung setzt. Die Heterogenität ist zusätzlich dem Umstand geschuldet, dass an dem Band sowohl Germanist_innen mitgewirkt haben als auch Akteure der öffentlichen Literaturvermittlung im Museum. Dem Nordstettener Berthold-Auerbach-Museum und Agnes Maier, die die Abteilung Museen, Heimatgeschichte, Kunst der Stadt Horb leitet, ist die gelungene Illustration des Bandes zu danken. Das Ergebnis zeigt, dass die Forschung zu Berthold Auerbach längst in Bewegung geraten ist und dieser halb vergessene Erfolgsautor des 19. Jahrhunderts aus guten Gründen wieder in den Horizont von Forschung und Erinnerungskultur zurück gekehrt ist.

Titelbild

Jesko Reiling (Hg.): Berthold Auerbach (1812 - 1882). Werk und Wirkung.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2012.
448 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783825360498

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