Ein Außenseiter mit „Persönlichkeitszauber“

In ihrer Biografie „Walter Rathenau“ nähert sich Shulamit Volkov dem unvollendeten Leben eines ungwöhnlich vielseitigen Menschen

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 24. Juni 1922 wurde Walter Rathenau auf offener Straße von drei Mitgliedern der rechtsextremen „Organisation Consul“ erschossen. Die Attentäter wussten, dass der Außenminister in der Regierung des Kanzlers Joseph Wirth normalerweise keinen Polizeischutz in Anspruch nahm, wenn er sich – wie an diesem Tag – zu seinen Dienstgeschäften fahren ließ. An einer Straßenengführung in Berlin-Grunewald überholten sie den Wagen des Außenministers, brachten ihn zum Stehen und feuerten mit Schnellfeuerwaffen gezielt auf Rathenau. Eine Handgranate vollendete das Mordvorhaben. Die Täter entkamen zunächst. Die beiden Haupttäter, der 23-jährige Student Erwin Kern sowie der 26-jährige Ingenieur Hermann Fischer wurden indes von der Polizei am 17. Juli 1922 auf der Burg Saaleck aufgespürt, wo sie bei ,Kameraden‘ Unterschlupf gefunden hatten. Es kam zu einem Feuergefecht, bei dem Kern tödlich getroffen wurde, woraufhin Fischer sich selbst erschoss.

Die Ermordung Rathenaus, ebenso wie knapp ein Jahr zuvor der Mord an Matthias Erzberger, war Ausdruck eines unversöhnlichen Hasses, mit denen rechtsextreme Kreise Politiker der jungen Republik verfolgten, die in ihren Augen als „Erfüllungspolitiker“ gemeinsam mit den alliierten Siegern des Ersten Weltkriegs den Ausverkauf Deutschlands betrieben. Diese Art der Diffamierung fand in weiten Teilen der Öffentlichkeit Widerhall. Populäre Hasssprüche wie „Rathenau, der Walther, / Erreicht kein hohes Alter, / Knallt ab den Walther Rathenau, / Die gottverdammte Judensau!“ sind Beleg für ein hasserfülltes Klima, in dem solche Verbrechen schließlich Wirklichkeit wurden. Rathenaus Ermordung brachte freilich eine Wende. Nun endlich erkannte man, was Reichskanzler Joseph Wirth in seiner Trauerrede für Rathenau im Reichstag ausgesprochen hatte: „Der Feind steht rechts!“

Der Schock nach Rathenaus Ermordung gründete auch in der Anziehungskraft, die von seiner Person ausging. „Nie vorher und nie nachher,“ schrieb der Publizist Sebastian Haffner in seinen Erinnerungen, „hat die deutsche Politik einen Politiker hervorgebracht, der so auf die Phantasie der Massen und der Jugend wirkte“. Politik fand mit ihm endlich wieder statt. Vernünftige Politik, die das Machbare im Auge hatte – genau jene Politik, die die Feinde der Republik hassten und fürchteten. Doch der Politiker Rathenau steht am Ende einer Persönlichkeitsentwicklung, die in vielen Bereichen stattfand.

Dies zu zeigen ist ein zentrales Anliegen der israelischen Historikerin Shulamit Volkov. Sie beschreibt in ihrem Buch „Walter Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland“ die so unterschiedlichen Tätigkeitsfelder Rathenaus als deutscher Industrieller, Publizist, Kunstkenner und -liebhaber und Politiker. „Ein Mann mit vielen Talenten“, wie eins der Kapitel betitelt ist. Dabei entsteht der Eindruck einer gewissen Unbestimmtheit. Was treibt diesen Mann, der sich seine vielen Talente Zeit seines Lebens dank eines gesicherten Einkommens immer ,leisten konnte‘? Offensichtlich spielte für ihn das Verhältnis zum Vater eine große Rolle, zu Emil Rathenau, dem Begründer der „AEG“. Spürbar wird ein Emanzipationsstreben Rathenaus: Etwas zu schaffen, das neben dem Werk des Vaters bestehen kann. Immer wieder ist es die Politik. Immer wieder aber enttäuscht ihn diese auch. Er findet keine Anerkennung im Milieu der Kaisermonarchie. Gewissermaßen als Ersatz diente ihm dann die Schriftstellerei. Rathenaus Texte erschienen zunächst in Maximilian Hardens Zeitschrift „Die Zukunft“. Seit 1912 publizierte er im S. Fischer Verlag. Rathenaus Reflexionen zum Stand der Moderne, in welcher ein neuer Materialismus ebenso zur Geltung kam wie ein fordernder Kapitalismus, durchzieht einerseits ein kulturkritischer Ton, der sie auch anschlussfähig für antimodernistische national-völkische Kreise machte. Zu diesen gehörte beispielsweise der Antisemit Wilhelm Schwaner, mit dem ihn dennoch eine eigenartige Freundschaft verband. Andererseits argumentierte er kühl und sachlich, wenn er die kapitalistische Dynamik als Antriebskraft für die herausgehobene Stellung Deutschlands in der Welt beschrieb.

Derartiges modernes Denken, das einherging mit deutlicher Kritik an den wilhelminischen Zuständen in Deutschland, machten ihn für liberale fortschrittliche Kräfte interessant. Rathenau pflegte Umgang mit vielen Künstlern, sein eigenes Lebensumfeld versuchte er mit künstlerischem Sinn zu gestalten. Aber auch hier blieb etwas Unvollkommenes. Volkov zitiert zeitgenössische Reaktionen, wie die von Hugo von Hofmannsthal, der gegenüber Harry Graf Kessler, der dies wiederum in seinen Tagebüchern vermerkte, verlauten ließ, dass Rathenau, „eine Art von Nichts sei, ein Gebilde aus lauter Pose, an das sich nirgend irgendeine wirkliche Beziehung knüpfen lasse“. Eine Bemerkung, die, so Volkov, das „emotionale Muster, das ihn das ganze Leben hindurch begleitete“ bestätigt hätte: das „Gefühl, nicht hinreichend die verdiente Wertschätzung zu erfahren“. Hinzufügen möchte man: die ersehnte Wertschätzung.

Leider führt die Autorin derartige Schlussfolgerungen nicht immer konsequent zu Ende. Allzu oft stößt man auf Stellen wie: „Vielleicht ist es ein Hinweis darauf…“; „möglicherweise wollte er nicht mehr als das“; „Wir werden es wohl niemals wissen“ oder er „scheint damals eine andere wichtige Entscheidung getroffen zu haben, nämlich nicht zu heiraten“. Rathenau blieb jedenfalls unverheiratet. Wie überhaupt über seine engeren privaten Beziehungen vergleichsweise wenig bekannt ist. War beispielsweise das Verhältnis zu Lili Deutsch eine „Liaison“? Einerseits kommt Volkov zu dem Schluss, dass Rathenau mit ihr „zum ersten Mal, und vielleicht nur ein einziges Mal in seinem Leben […] ein intensives und dauerhaftes Verhältnis mit einer Frau“ hatte. An anderer Stelle aber schreibt sie: „„Offensichtlich wollte sie mehr. Sie schien etwas zu erwarten“. Was? Eine „echte Affäre“? Oder gilt, was „einige von Rathenaus Biographen erklären“? Dass er nämlich „vermutlich homosexuell war?“

Die Fragen bleiben offen – und damit auch weiterhin eine schlüssige Erklärung für den außenseiterischen „Persönlichkeitszauber“ Rathenaus. Die „große Biographie“ forderte einst Haffner. Mit Volkovs Buch liegt sie nicht vor.

Titelbild

Shulamit Volkov: Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867 bis 1922.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulla Höber.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
250 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406639265

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