Zwiespältige Verhältnisse

Der Briefwechsel zwischen Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal und seiner Frau Gerty

Von Marco RispoliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marco Rispoli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Jede Beziehung zwischen zwei Menschen ist ein Individuum“, schreibt Hugo von Hofmannsthal in einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1907. Wie ein „daimonion“[1] sei es, den involvierten Personen und deren Willen nie ganz unterworfen und nie ganz verständlich. Noch schwieriger zu entziffern wird eine menschliche Beziehung für diejenigen, die sie von außen her, aus zeitlicher Entfernung, betrachten. Es sei denn, man kann deren Spuren aufmerksam verfolgen. Der bald erscheinende, umfangreiche Briefwechsel zwischen Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal sowie die zahlreichen Briefe zwischen Bahr und Gerty von Hofmannsthal geben nun dem Leser die beste Gelegenheit dazu.

Einige wenige Dokumente aus diesem Briefwechsel sind zwar längst bekannt, da sie bereits 1935, in Hofmannsthals posthum erschienenem Band „Briefe 1890-1901“, veröffentlicht wurden. Walter Benjamin bemerkte damals, dass die Briefe, die Hermann Bahr empfangen hatte, einige „von den interessantesten“ jener frühen Edition waren. Erst jetzt entfalten sie aber, im Kontext des hier vollständig dokumentierten brieflichen Austausches, ihre ganze Bedeutsamkeit. Und wenn Benjamin, angesichts der damaligen Veröffentlichung der „wichtigen und schönen Briefe“ Hofmannsthals, die allzu „spärlichen Anmerkungen“ bemängelte und eine „Einleitung“[2] vermisste, so lässt die hier besprochene Edition dem heutigen Leser nichts zu wünschen übrig.

Denn der Herausgeberin, Elsbeth Dangel-Pelloquin, ist eine vorbildliche editorische Arbeit gelungen: Der Band, der sämtliche überlieferten Briefe, Postkarten, Telegramme, die zwischen Hugo beziehungsweise Gerty von Hofmannsthal und Hermann Bahr gewechselt wurden, sowie einige Briefdokumente von nahestehenden Personen (Hofmannsthals Vater, Hofmannsthals Tochter, Bahrs Frau) wiedergibt, wird durch einen reichen Abbildungsteil abgerundet und von einem Apparatband begleitet, der außerordentlich reich an Informationen ist. Zunächst wird jedes Briefdokument von Dangel detailliert beschrieben und oft neu datiert: Bedenkt man, dass drei Viertel der Briefe ohne oder nur mit partieller Datumsangabe sind, sodass selbst Gerty von Hofmannsthal, kurz nach dem Tod ihres Mannes, im August 1929, Hermann Bahr um Hilfe bei der chronologischen Anordnung der hinterlassenen Briefe bat, so wird man einsehen, dass gerade die Datierung der Dokumente „die größte Herausforderung dieser Edition“ gewesen sei.

Von nicht geringerem Wert erweist sich aber für den Leser der ausführliche Stellenkommentar: Etliche, sonst eher unklare Sachverhalte und manche kryptische Andeutungen werden damit erhellt, und es wird auf interessante und oft unerwartete Zusammenhänge hingewiesen. Gerade hier kommt Dangel-Pelloquins langjährige Vertrautheit mit den Autoren der Wiener Moderne (hier sei an ihre Dissertation über Schnitzler sowie an einige Beiträge über Hofmannsthal erinnert) zur vollen Geltung. Die in den Briefen vorkommende Vielfalt an Themen und Tönen wird von ihr in einem prägnanten Nachwort resümierend veranschaulicht. Mehrere Register ermöglichen schließlich dem Leser eine gezielte Erkundung der gesammelten Dokumente: Nicht nur die im Briefwechsel und im Kommentarteil vorkommenden Personen und Werke, sondern auch Theater, Institutionen und Zeitungen werden am Ende des Bandes verzeichnet, sodass bereits die schnelle Durchsicht dieser Register eine beeindruckende Vorstellung von der kulturhistorischen Bedeutung dieses Briefwechsels und von der hier angewendeten editorischen Sorgfalt gibt.

Von besonderem Interesse ist darüber hinaus eine umfangreiche, ungefähr hundertseitige Sammlung von „Äußerungen Bahrs und Hofmannsthals übereinander“, welche den Briefwechsel sinnvoll ergänzt. Von den ersten gegenseitigen essayistischen Würdigungen (Hofmannsthals Aufsatz über Bahrs „Die Mutter“ und Bahrs Essay „Loris“ aus dem Jahr 1891) bis zu einigen späteren Artikeln von Bahr, von den Notizen in den jeweiligen Tagebüchern bis zu Hofmannsthals Reflexionen über Bahr aus einigen späten Briefen an dritte Personen, bieten die hier gesammelten Dokumente eine ideale Begleitung zum brieflichen Dialog. Sie tragen zum Verständnis der Beziehung zwischen den beiden Schriftstellern wesentlich bei.

Bezeichnend ist vor allem die ungleiche Verteilung der essayistischen Texte, die die beiden Autoren einander widmen. Während sich Hofmannsthal nach jenem ersten, im Übrigen ziemlich kritischen Aufsatz nicht mehr über Bahrs Werk öffentlich äußert, hat sich Bahr in seiner publizistischen Tätigkeit häufig auf Hofmannsthal bezogen: Insgesamt werden hier zweiundzwanzig, zum Teil sonst schwer zugängliche journalistische Beiträge von ihm wiedergegeben. Dieses auffällige Missverhältnis ist vielleicht das deutlichste Zeichen einer Asymmetrie, die sich bereits in den ersten intensiven Wochen kundgibt und die ganze Entwicklung der Beziehung, bis zur Distanzierung der Korrespondenten in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, bestimmt.

Hofmannsthal scheint an dem älteren Kollegen vor allem dessen kulturelle und menschliche Erfahrenheit geschätzt zu haben, sodass er ihn an manchen heiklen privaten Angelegenheiten (etwa an der turbulenten Begegnung mit Stefan George in den Weihnachtstagen 1891 oder an den eigenen andauernden finanziellen Sorgen) teilnehmen lässt. Dafür ignoriert er meistens dessen schriftstellerische Tätigkeit: „Vielleicht sind Sie besser als Ihre Bücher, reicher, ruhiger, vielfältiger“, vermutet Hofmannsthal in einem Brief an Bahr am 23. September 1891, wenige Monate nach der ersten Begegnung im Café Griensteidl.

Bahr scheint im Gegenteil vor allem von der literarischen Person Hofmannsthals fasziniert zu sein, wahrt aber im Menschlich-Privaten eine gewisse Distanz ihm gegenüber, die Anlass zu Hofmannsthals wiederholten Klagen über einen zu seltenen persönlichen Verkehr gibt. Bis in die späten Jahre hinein, als sich die beiden, nach einer partiellen Wiederannäherung zu Kriegszeiten, endgültig voneinander distanzieren, schenkt Bahr dem Werk Hofmannsthals uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Ein Beispiel dafür findet man im Brief vom 8. April 1921, in dem Bahr mit seinem begeisterten Urteil über den „Schwierigen“ auch ein sicheres kritisch-literarisches Gespür beweist: „Eigentlich seit Ihren ersten Versen […] hat nichts von Ihnen so wunderbar rein und tief auf mich gewirkt: Es ist zum Heulen schön“.

Diese den Briefwechsel durchziehende, von der Herausgeberin zu Recht hervorgehobene „ambivalente Spannung von Achtung und Missachtung“ könnte ein neues Licht auf einige der bekanntesten Texte, welche diese literarische Liaison dokumentieren, werfen. Zum einen findet man hier eine Art Kommentar zum Urteil, das Hofmannsthal noch vor der ersten Begegnung mit Bahr über ihn ausgesprochen hatte. Die Anerkennung seiner lebhaften Teilnahme an der Kunst ging in dem bereits erwähnten Aufsatz über „Die Mutter“ (1891) mit der Kritik an seiner Stillosigkeit (er habe „kein Vorurtheil, keine Ansicht, kaum einen Stil“) und an seinem „Dilettantismus“ einher. Was damit gemeint war, erklärt Hofmannsthal in den folgenden Jahren mehrmals dem Freund – zum Beispiel als er am 7. Juli 1898, mit deutlichem Anklang an Goethe, schreibt, dass „einer der produciert, und folglich im Grund nur auf eine langsame pflanzenähnliche, widerspruchslose Entwicklung, nämlich seine eigene, zu achten hat, immer ungeduldig“ wird, „wenn er einem andern zuschaut, der mit vielerlei fremden Entwicklungen jongliert, wie Sie einer sind“.

Zum anderen wird man sich fragen, ob diese Spannung in den Texten, die Bahr Hofmannsthal widmete, Spuren hinterlassen hat. Ob hinter dem vordergründigen Beifall nicht eine vielleicht unbeabsichtigte Spur von Skepsis zu finden ist? Vor allem der berüchtigte „Gruß an Hofmannsthal“, ein vom Bahr im August 1914 veröffentlichter offener Brief an den Freund, lässt einen solchen Verdacht aufkommen: Bahr ging in diesem Text davon aus, dass Hofmannsthal „in Waffen“ sei und bald in Warschau ankommen müsste, dass er dort Leopold von Andrian treffen könnte, dass dieser, „während draußen die Trommeln schlagen“, Charles Baudelaire deklamiere, und die beiden, mitten in der kriegerischen Aufregung, ganz froh sein würden: „Es geht euch ja so gut, es muß einem ja doch schrecklich viel einfallen, nicht?“

Diese Frage könnte, bei aller wiedererwachten Zuneigung, auch als eine versteckte Anspielung Bahrs auf einige, ihn irritierende Eigenschaften des Freundes gelesen werden. Denn eine gewisse selbstbezogene Sucht nach Sensationen und Einfällen hat er mehrmals an Hofmannsthal beanstandet. In einem früheren Brief schreibt er zum Beispiel, dass Hofmannsthal „nur mit sich selbst beschäftigt ist“. Und in einem hier wiedergegebenen Tagebucheintrag stellt er fest: Hofmannsthal sei ein Mensch, „für den die anderen alle nur in Beziehung auf sein Schaffen existieren […]. Fragt man die Gerty, wie es Hugo geht, so antwortet sie entweder: Gut, es ist ihm gestern so viel eingefallen, oder: Schlecht, es fällt ihm nichts ein! Darum dreht sich seine Welt und er ist durchaus unfähig zu begreifen, daß sich irgend eine Welt um etwas anderes drehen kann“.

Doch dies sind bloße Spekulationen des Rezensenten. Der Briefwechsel ist hingegen reich an Fakten und Zeugnissen, welche nicht nur das Verständnis vom Leben und Werk der beiden Schriftsteller fördern, sondern auch die Kultur der damaligen Epoche erhellen. Von dem Zeitungs- und Theaterwesen bis zu den damaligen, erstaunlich schnellen Arten der Postbeförderung, von der unter den Wiener Schriftstellern der Zeit besonders verbreiteten Lust an „bycicle-Fahren“ bis zu den politischen Debatten um Österreich während des Kriegs: Die Briefe und die dazugehörenden Kommentare erweisen sich als eine Fundgrube an kulturgeschichtlich relevanten Phänomenen, die so zahlreich sind, dass sie hier nicht vollständig erwähnt werden können.

Was noch unbedingt zu erwähnen ist, ist die Beziehung zwischen Gerty von Hofmannsthal und Hermann Bahr. Kein Brief zwischen den beiden wurde bisher auch nur auszugsweise veröffentlicht, und das wäre schon ein Grund zur besonderen Aufmerksamkeit. Beim Lesen ihres regen Briefaustausches entdeckt man außerdem, dass ihre Beziehung einen durchaus selbstständigen Wert hat. Sie ist freilich mit der Beziehung zwischen den beiden Männern aufs Engste verflochten (daher werden diese Briefe zu Recht nicht separat dargeboten, sondern in die chronologische Anordnung des Briefwechsels zwischen Bahr und Hugo von Hofmannsthal integriert). Aber die Stimme von Gerty Schlesinger, auch wenn sie Gerty von Hofmannsthal heißen wird, ist nie bloß die Stimme der Ehefrau eines berühmten Dichters. Dank ihren Briefen entdeckt man zwar einige sonst unbekannte Facetten vom häuslichen Leben Hofmannsthals, vor allem aber kann man die Entwicklung einer Freundschaft verfolgen, die im Jahr 1904 immer intensiver wurde, bis sie die Grenze, wo ein Liebesverhältnis beginnt, erreicht – um dann abrupt zu enden, als Hermann Bahr seine zweite Ehefrau, Anna von Mildenburg, kennenlernt. Lange blieb der plötzliche Rückzug des Freundes für Gerty sowie für Hugo von Hofmannsthal unerklärlich, da dieser ihnen seine neue Leidenschaft verheimlichte.

Nicht ganz begreiflich blieb für Hofmannsthal seine Beziehung zu Bahr auch in den späteren Jahren. Er bezeichnet sie, in einem hier wiedergegebenen Brief an Rudolf Pannwitz, am 26. Februar 1918, sogar als „eine leise, fortwährende innere Krankheit“. Ratlos, schreibt er: „Es hat kommen müssen, daß einmal jemand (also Sie) kommt u. mich über mein eigenes Verhältnis zu ihm aufklärt. Dies ist eines der seltsamsten meines Lebens. […] ich weiß oft und quälender Weise nicht, wie ich zu ihm stehe […]. Mein eigenes Verhältnis zu ihm ungeheuer schwer zu erklären. Als es sich anknüpfte, war er 28 oder 30, ich 18. Wir waren viel zusammen, aber nie hat er zu dem inneren Kreis meiner Freunde gehört, nie – warum? ich kann es durchaus nicht erklären“.

Ob man über eine menschliche Beziehung je völlig aufgeklärt werden kann, ist aber zweifelhaft. Fasst man eine Beziehung als ein selbstständiges „Individuum“ auf, dann gilt auch, und um so mehr, was Hofmannsthal in Anlehnung an Goethe wiederholt schreibt: „Das Individuum ist ineffabile“. Nur mit Mühe, mit wacher Aufmerksamkeit, wie es in der Edition dieser Briefe vorbildlich geschieht, kann man sich der Komplexität menschlicher Beziehungen annähern.

Anm. der Redaktion: Das Erscheinen des Bandes, den unser Rezensent auf der Grundlage von Druckfahnen besprochen hat, ist für Anfang September vorgesehen.

[1] Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, Frankfurt am Main 1975ff., Bd. XXXIII, S. 600.

[2] Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1972-1999, Bd. 3, S. 515.

Titelbild

Hermann Bahr / Hugo von Hofmannsthal / Gerty von Hofmannsthal: Briefwechsel. 1891-1934.
Herausgegeben und kommentiert von Elsbeth Dangel-Pelloquin.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
928 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783835312173

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