Rückkehr der Marsianer
Reinhard Jirgl versucht sich mit „Nichts von euch auf Erden“ im Science-Fiction-Genre
Von Patrick Wichmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGeschichten über die Begegnung mit Marsianern gibt es zuhauf – von klassischen Erzählungen wie H. G. Wells’ „Krieg der Welten“ und Ray Bradburys „Mars-Chroniken“ bis hin zu modernen Ulk-Filmen à la „Mars Attacks!“. Der rote Planet war für die Gattung der Science Fiction seit jeher ein Quell der Inspiration. Gern als Trivialliteratur abgetan, haben immer wieder diverse Autoren bewiesen, dass das Genre mehr als seichte Unterhaltung sein kann – unter ihnen auch zahlreiche Schriftsteller, deren Werk im Allgemeinen nicht der Science Fiction zuzuordnen ist. Und so hat sich jüngst auch Georg-Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl der Sparte angenommen und mit „Nichts von euch auf Erden“ ein weiteres Werk zum Sujet ‚Mensch und Mars‘ beigesteuert.
„Die-Zukunft gehört den-Toten.“ Anders als in vielen Science-Fiction-Klassikern sind es bei Jirgl keine kleinen grünen Marsmenschen, die über die Erde kommen, sondern die Menschen selbst: Nachdem im Laufe des 21. und 22. Jahrhunderts alle Ressourcen aufgebraucht waren und die Erde in den sogenannten Sonnenkriegen verheert wurde, siedelten die Stärksten unter den Menschen auf den Mars um, wo sie mittels Terraforming eine neue, verbesserte Erde erschaffen wollten (im Übrigen ein tatsächlich diskutiertes Thema der Raumfahrt). Während dieses Projekt im Roman sukzessive scheitert und die Menschen auf dem Mars in unterirdisch gebauten Städten hausen, greift auf der Erde eine genetische Veränderung um sich: Ursprünglich zur Ruhigstellung auf den Mond abtransportierter Verbrecher entwickelt, gelangt das „Detumeszenz-Gen“ auf die Erde und verändert die Menschheit als schleichendes Gift. Dort unterdrückt es nicht nur den Aggressionstrieb, sondern löscht mit diesem zugleich auch den Lebenswillen aus – sodass neben überbordender Sterilität nur eine minimalisierte und rein autodestruktive Variante des Todestriebes, des Freud’schen Thanatos übrigbleibt. Selbst der Sexualakt ist durch den rituellen „langen Faden“, den Speichelaustausch unter Zuhilfenahme eines hochwirksamen Aphrodisiakums, ersetzt worden. „Die-Gemälde=Derzukunft wuchsen an mit jedem Scheitern, jedem Opfer solange, bis Dieopfer zu groß = zu teuer & zu ausufernd geworden waren, um noch an Ein&umkehr zu denken.“
Vor diesem Hintergrund hat Jirgl seinen Roman angesiedelt: Seine Marsianer kehren nach rund 300 Jahren von dem unwirtlichen Mars auf die Erde zurück und übernehmen dort erneut die Kontrolle über die verbliebene Menschheit. Mitten in die Ereignisse rund um diese Rückkehr hat Jirgl seine Hauptfigur platziert. So erlebt dieser 25-Jährige, der unter dem einprägsamen Namen „BOSXRKBN 181591481184“ firmiert, hautnah die Rückkehr der Marsmenschen auf die Erde, tritt eine neue Arbeitsstelle auf dem Mond an, ehe er letztlich selbst auf dem Mars landet und dort der conditio humana in all ihrer wesenhaften Grausamkeit begegnet. Wenngleich dieser Protagonist den Leser aufgrund seines ausgeprägten Hangs zu Apathie, Opportunismus und Hörigkeit schwerlich für sich einnimmt, stellt seine Existenz doch zumindest in ganz pragmatischer Sicht einen Segen dar: Er ist der rote Faden, an den man sich als Leser bisweilen ob der Jirgl’schen Gedankensprünge, Assoziationen und verschränkten Erzählstränge verzweifelt klammert. „Das-Leben hat nur 1 Ziel, den Tod. Allesleben stirbt in=sich=selbst; das-Lebendige will zurückkehren ins-Nichtlebendige, & die menschliche-Zivilisation ist nur der längste Umweg in den-Tod, den das-Leben sich ersinnen konnte.“
Letztlich scheint sich Jirgl vor allem des Blicks zurück bedient zu haben, um die Zukunft zu imaginieren. Die Abschiebung von Straftätern auf den Mond erinnert offenkundig an die Einrichtung australischer Strafkolonien durch die Briten, die utopischen Verheißungen der Mars-Kolonialisierung scheinen der Besiedlung Amerikas entlehnt, während umgekehrt die Rückkehr der Marsianer auf die Erde an die brutalen Exzesse der europäischen Kolonisation gemahnt – um von den weitverzweigten Wurzeln der tödlichen Zwangsarbeit auf Mond und Mars für „Gen-Untaugliche, Energie-Vergeher, Diätetik- & Hygiene-Verweigerer“ in der Menschheitshistorie erst gar nicht zu sprechen. So ist es wesenhaft gar nicht die Zukunft, von der „Nichts von euch auf Erden“ handelt, sondern vielmehr sind es Vergangenheit und Gegenwart der Menschheit und des Menschseins heute. Jirgls wahres Interesse ist auch in seinem jüngsten Roman auf Fehlerhaftigkeit und Barbarei der „irrdischen“ Menschheit gerichtet. „Man wiederholt auch in der Lebensfeindlichsten Fremde was man auf=Erden bereits angerichtet hat: mit gesteigerter Menschen=Bestialität Wissenschaften & Techniken einzusetzen für die-Entfaltung des ungeheuersten gegen:seitigen Terrors….“.
Dabei macht es der 60-Jährige seinen Lesern wie immer nicht leicht, oder wie es der Literaturkritiker Helmut Böttiger 2010 in seiner Laudatio zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises an den Autor programmatisch nannte: „Reinhard Jirgl tut oft weh.“ Seine unorthodoxe Rechtschreibung und eigenwillige Zeichensetzung, die mehr denn je an der Grenze zu absoluter Unverständlichkeit und auch zum l’art pour l’art wandeln, sorgen in Kombination mit ineinander verwobenen Handlungssträngen und einer hohen Dichte an Technizismen für eine äußerst beschwerliche Lektüre. Dazu treten ein enormer Anspielungsreichtum und hoher Symbolgehalt, die den Roman ebenso vielschichtig wie deutungsbedürftig machen. „Nichts von euch auf Erden“ verlangt dem Leser einiges ab, ist jedoch ob der starken Suggestivkraft, der philosophischen Vielfältigkeit und nicht zuletzt auch der zynisch-dystopischen Relevanz ein schmerzhaft schönes Stück Gegenwartsliteratur.
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