Eine Insel wie ein Kaugummi

Huldar Breiðfjörð reist in „Liebe Isländer“ durch den zweitgrößten Inselstaat Europas, um sich und seinen Landsleuten näher zu kommen

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Erkenntnis kommt etwas zu spät: „Es müsste doch klüger sein, vor Langeweile umzukommen, als durch einen Autounfall.“ Erst in Ísafjörður, ganz im Nordwesten von Island, schießt Huldar Breiðfjörð dieser Gedanke durch den Kopf, und da hat er längst die erste Etappe seiner Island-Tour hinter sich. Gleichwohl hadert er immer noch mit seiner Entscheidung, für zwei Monate Reykjavík zu verlassen, um auf der Ringstraße Nr.1 die Insel zu umrunden. Eine Insel, die von oben nicht nur einem breitgetretenen Kaugummi ähnelt, sondern für Breiðfjörð jeglichen Geschmack verloren hat. Nach Auslandsaufenthalten und Hauptstadt-Alltag will er sich jedoch einer erneuten (Kau-)Probe stellen. Dafür hat er sich die isländischsten Monate überhaupt ausgesucht: Januar und Februar.

Sein einziger, wenn auch höchst eigenwilliger Begleiter ist ein geländefähiger Volvo Lappländer von 1981: „Er stand dort, unter eine Mauer geduckt, schien gleichzeitig vor Langeweile einzugehen und vor angestauter Kraft zu explodieren. […] Er wirkte wie eine Mischung aus einem lebenserfahrenen Mann und einem Kind, das noch viel zu lernen hätte. Und als ob er eben genau auf diese Lektionen warte.“ Damit könnte sich Breiðfjörð (geboren 1972) selbst beschrieben haben. Seine im Jahre 1998 unternommene Island-Rundreise ist nämlich nicht allein als Expedition zur nationalen Heimat zu verstehen, sondern als eine Art moderne ‚Grand Tour‘ inklusive Selbstfindungstrip.

Zu Beginn der Reise muss Breiðfjörð die Suche nach dem Isländer in sich aufgrund von Stress mit dem Jeep, mit dem klirrend kalten und sturmfreudigen Winterwetter, überhaupt mit dem Dasein als Nomade ohne nennenswerte Outdoor-Erfahrung noch zurückstellen: „Immerhin stirbt man auf eine gewisse Weise, wenn man wegfährt. Man verschwindet und kommt als ein anderer zurück.“

Solche Passagen mit spontanen Gedankenspielereien alternieren mit Breiðfjörðs Erinnerungen und kritischen Selbstbetrachtungen, nur um immer wieder seinen lakonischen Beschreibungen von Land und Leuten zu weichen. Die sind zwar aus subjektiver Sicht geschildert, gewinnen aber wegen des emotional gedämpften Grundtons eine objektive Note. Das verleiht ihnen Authentizität. Beispielsweise in jener Episode, als Breiðfjörð, gerade auf dem Weg zur Insel Hrísey an der Nordküste, im Radio vom Tode Halldór Laxness’ erfährt. Für einen Moment ist die Welt leerer, schweigsamer – und das Land schöner, als wolle es dem isländischen Literaturnobelpreisträger eine letzte Ehre erweisen.

Diese Vielfalt an Eindrücken und Einsichten ist typisch für eine Reise. Dennoch hat Breiðfjörð sein Werk einen ,Roman‘ genannt, wohl um sich größere Freiheiten in der literarischen Gestaltung nehmen zu können. Seine lockere, ungekünstelte Schreibweise wirkt ebenso zielgerichtet wie der gesamte Trip und genauso mäandernd wie die einzelnen Teilabschnitte. Er wechselt zwischen Gegenwart und Vergangenheit ab, zwischen Ich-Perspektive und Dialogen mit der eigenen Person, was den durch die Island-Fahrt ausgelösten selbstreflexiven Prozess stilistisch akzentuiert. Breiðfjörð geht nicht so weit, die innere zur äußeren Geografie werden zu lassen oder umgekehrt. Obwohl sich Island mit seiner überwältigenden Natur hierfür geradezu anbieten würde. Es ist vielmehr die Reise an sich, die Bewegung auf unbekannten Pfaden, die Breiðfjörðs Wahrnehmung von ,Island und Ich‘ in Schwung bringt.

Nebenbei wird einiges Interessantes über das Inselvolk knapp südlich des nördlichen Polarkreises enthüllt. So gibt es etwa eine typisch isländische Plauderposition, ist der Tankstellenkiosk das wirtschaftliche wie kommunikative Herzstück jeder dörflichen Siedlung und zeigen sich selbst eigenbrödlerische Provinzbewohner gegenüber Reisenden durchaus aufgeschlossen. Davon kann Breiðfjörð profitieren, wenn er mal nicht in seinem eiskalten Jeep übernachten oder interessante, aber ihm fremde Persönlichkeiten auf dem Lande besuchen will. Doch Vorsicht, Kontaktaufnahme und In-Kontakt-Bleiben unter Isländern sind eine hohe Kunst, bei der Nähe und Distanz auf geradezu sublime Weise ausbalanciert werden müssen: „Und man sollte weder zu neugierig noch zu desinteressiert sein, zu offen oder zu verschlossen, fröhlich oder mürrisch, munter oder trocken. Niemandem zu nahe treten oder ihn erdrücken. Nicht zu distanziert oder gar arrogant wirken. Eben in Maßen anders sein, so wie andere echte Isländer.“

Anders ist auch „Liebe Isländer“. Vergleicht man das Buch mit aktueller Reiseliteratur, erscheint es auf paradoxe Weise subversiv. Keine Hymne auf die Welt als Event, kein Kamikaze-Trip als Ego-Show, kein Manifest für ein Globetrotter-Dasein – stattdessen die unspektakuläre, absolut ehrliche Erkenntnis, dass das durchschnittliche Erlebnis (sicherlich nicht nur in Island!) ohne Konsequenz bleibt und dass Sensationen nur anderen beziehungsweise anderswo passieren. Oder noch deutlicher: „Obwohl die Orte unterschiedlich wirken, ist es doch überall gleich.“

Weltenbummler mit einem Hang zum Abenteuer mag das schockieren, Realisten hingegen bestätigen. Breiðfjörð überzeugt, gerade weil er sich überzogener Dramatik verweigert. Seine Rundreise öffnet vielmehr das Bewusstsein für Unaufgeregtheit und Gelassenheit als sinnhafte Lebenshaltung, für eine neue Geduld, um weder vom Heimatland noch von sich selbst übermäßig viel zu verlangen: „Alles ist einfach. Manchmal ist das genug.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Huldar Breidförd: Liebe Isländer. Roman.
Manesse Verlag, Berlin 2011.
224 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783351033415

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