Ohne Grenzpolizei

In seiner Studie „Das Nachleben der Bilder“ rekonstruiert Georges Didi-Huberman das Bildforschen Aby Warburgs als Kritik der Kunstgeschichtsschreibung

Von Antje GéraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antje Géra

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Ausstellung im Museum für Gegenwartskunst in Siegen gab jüngst künstlerischen Ansätzen Raum, die sich Anordnungsverfahren von fotografisch reproduzierten Bildern widmen. Wer sich die dort präsentierten Arbeiten angemessen erschließen wollte, kam mit einer auf den bloßen Bedeutungsgehalt einzelner Bilder gerichteten Analyse nicht weit. Vielmehr schien das Ausstellungskonzept für Betrachter entworfen worden zu sein, die im Umgang mit Bildern einem Konzept aus Aby Warburgs unvollendetem ‚Bilderatlas Mnemosyne‘ folgten: Anstatt analysierend vor einem Bild zu verharren, mussten sie sich auf eine Reflexion der spezifischen Konstellationen der zu Montagen gefügten Einzelreproduktionen einlassen. In diesem anspruchsvollen Unterfangen hat wohl manch einer den Titel der Ausstellung als hilfesuchende Anrufung ausgelegt: „Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern?“

Dass hier ausgerechnet ein von der philologisierenden Tradition akademischer Kunstgeschichte missachteter Hamburger Gelehrter des frühen zwanzigsten Jahrhunderts angerufen wird, ist nur scheinbar verwunderlich. Denn gerade die Geister, die man zu bannen versucht, kehren bekanntlich zurück, um ihre unerledigt gebliebenen Werke in Erinnerung zu bringen. Mit dem Geist Aby Warburgs das Werk Aby Warburgs neu zu erschließen, ausgehend von dem, was in der Tradierung des Warburg’schen Denkens abbrach, beziehungsweise, ignoriert und verdrängt wurde – so könnte man in Kürze die Anwaltschaft charakterisieren, die sich der französische Philosoph und Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman in seinen Auseinandersetzungen mit Aby Warburg auferlegt hat.

Ein monumentales Zeugnis dieser Auseinandersetzungen ist nun mit Michael Bischoffs beeindruckend eloquenter Übertragung aus dem Französischen unter dem Titel „Das Nachleben der Bilder“ zugänglich. Für diese dezidiert als „philosophische Wiederaneignung Warburgs“ ausgewiesene Neulektüre hat sich Didi-Huberman nicht nur durch Warburg hindurch, sondern er hat auch Warburg hinterhergelesen in den von diesem Zeit seines Lebens zusammengetragenen, „von der Bibliothek Warburg bereitgehaltenen Schätzen“. Auch wenn man die kleine, gewitzte Notiz über die Kondensation eines wohl ursprünglich zweihundert Seiten mehr umfassenden Anmerkungsapparates „auf ein telegrafisches Minimum“ überliest, die Werk- und Autorennamen der Bibliografie sprechen Bände. Dass sich Didi-Huberman hier dennoch nicht dem lediglich Philologischen verschreibt, dass er sich nicht verliert in historistischen, von antiquarischem Interesse getragenen Erörterungen, verdankt sich einer selbstreflexiven Vergewisserung dessen, was eben diese von ihm eingeforderte „philosophische Wiederaneignung“ an kritischer Perspektivität erfordert: Gerichtet auf Aktualisierung und „Entteritorialisierung“ ihres Gegenstandes, nie das Verhältnis desselben zum Politischen aus dem Blick verlierend.

Es ginge darum, „die Geschichte und das Denken der Bilder neu zu interpretieren, wieder zu erfinden, wieder zu öffnen“, äußerte Didi-Huberman einst. Und wenn er uns den Nachvollzug dessen öffnen will, wie mit Warburg „das Denken der Bilder“ auf ein Neues zu reflektieren ist, so bezieht sich dies sowohl auf die Reflexion eines Denkens über Bilder als auch auf die Reflexion eines Denkens in Bildern, der Rolle von Bildlichkeit in denkenden Vollzügen. Dass diese Problematik eine durchaus aktuelle ist, zeigt der nicht lediglich zeitgeistige Diskurs um den sogenannten ‚pictorial turn‘, als Gründungsmoment der noch jungen Disziplin der Bildwissenschaft.

Eine ihrer Zielsetzungen ist es, dem Anspruch der Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft an sie gerecht zu werden: Nämlich, sich genau jenen auf Bilder gerichteten Fragestellungen angemessen zu widmen, welche das methodische Arsenal dieser Einzelwissenschaften übersteigen.

Nun lassen sich jedoch in bildwissenschaftlichen Forschungen kaum Konzeptionen eines Bildbegriffes ausmachen, die ausreichend komplex wären, um auch die mediale Dimension der Bilder zu erschließen – das Wie bildlichen Wirkens angemessen zu reflektieren. Nur eine solche Konzeption zeigte sich geeignet, methodische Ansätze einer Reflexion der Gesellschaftlichkeit bildlichen Wirkens, der Gesellschaftlichkeit bildlicher Rezeption und Produktion zu stützen. Daher rührt dann auch die denkwürdige Blindheit bildwissenschaftlicher Erörterungen gegenüber politischen Dimensionen von Fragestellungen der Bildlichkeit. So fragen wir also: Lieber Georges Didi-Huberman, was tun mit der ‚Macht des Bildes‘?

Mögen sich auch viele Publikationen Didi-Hubermans vordergründig mit genuin kunsthistorischen Gegenständen befassen, so sind seine Auseinandersetzungen mit Brecht, Agamben und Benjamin keineswegs Marginalia. So leuchtet Walter Benjamins begriffliche Konstellation von Geschichte, Bildlichkeit und Politik in den grundlegenden Reflexionen zum Verhältnis von Zeit, Geschichte und Bild in „Das Nachleben der Bilder“ immer wieder auf und weist Didi-Hubermans Denken als eines aus, dass sich der politischen Dimension des Bildlichen zu vergewissern sucht. Es ist gerade dieser Zug des Didi-Huberman’schen Denkens, der seine Befragung Warburgs so aufregend macht. Denn was sie leistet, ist nichts weniger als ein Aufzeigen der Anschlussstellen für eine zukünftige Herausarbeitung der politischen Implikationen des Warburg’schen Werkes, die nach wie vor gern ignoriert, wenn nicht gar als inexistent behauptet werden. Eine nicht komplexitätsreduzierende Konzeption von Bildlichkeit kommt aber um Verhältnisbestimmungen derselben zum Politischen nicht umhin. Bilder, so betont Didi-Huberman mit Warburg, sprechen „nicht nur das Sehen an“. Vielmehr sind sie zu verstehen als Wirkzusammenhänge gesellschaftlicher Praxen. Es scheint, als griffen ihm hier die Bemühungen des Forscherkreises um Martin Warnke zu kurz, dem Politischen am Bildlichen über eine ‚Politische Ikonografie‘ habhaft zu werden. Didi-Huberman umgeht diesen Weg, wenn er ihn nicht gar unterläuft.

Um am Denken Warburgs den Aspekt eines umfassenden Begriffs bildlichen Wirkens aufzuschließen, verfährt Didi-Huberman nach einem Prinzip, das er an Warburgs Forschungsweise selbst ausmacht: der „Entterritorialisierung der Erkenntnisgegenstände“. Der Erkenntnisgegenstand ‚Bild‘ wird am Erkenntnisgegenstand ‚Warburgs Bildforschen‘ derart rekonstruiert, dass er gewissermaßen aus bestimmten Traditionslinien herausgelöst und mit Autoren, Thesen und Herangehensweisen konfrontiert wird, deren Adäquatheit zu Warburgs Reflexionen im Zuge dieses Rekonstruierens erst zu erweisen sind. Didi-Huberman liest also Warburgs Studien mit Edward B. Tylor, Charles Darwin und Jacob Burckhardt; er rekonstruiert dessen Methodologie mit Sigmund Freud und prononciert seine Verbundenheit zu Friedrich Nietzsche. Dies führt schließlich zu einer Auslösung Warburgs aus der wirkmächtigen ikonologischen Rezeptionslinie, indem er Erwin Panofskys, Ernst Gombrichs und Ernst Cassirers Umgang mit Warburg als verkürzt darstellt. Schließlich, so konstatiert Didi-Huberman, zerbrach „Warburg alle ikonographischen Geländer“ und verschob „von Anfang an die Ziele jener Ikonologie, als deren Vater er gleichwohl gilt“.

Warburg selbst sprach einst abschätzig von einer „grenzpolizeilichen Befangenheit“, die durch Schranken und Beschränkungen der methodischen Setzungen einer bestimmten Disziplin Borniertheiten im Erfassen des Gegenstandes generiere – wie er sie in formalistischen und ästhetizistischen Ausprägungen der Kunstgeschichtsschreibung seiner Zeit am Werke sah. Er bezog kulturwissenschaftliche Perspektiven ein, suchte nach Denkwerkzeugen in anthropologischen, ethnologischen und philosophischen Ansätzen und projektierte eine dieser Multiperspektivität entsprechende „Wissenschaft ohne Namen“. Konsequenz dieser disziplinären, methodischen, gegenständlichen Grenzüberschreitungen des Warburg’schen Forschens ist, dass es sich im Zuge der Erörterung seiner Gegenstände nicht systematisierend und stringent auf die Beantwortung seiner Forschungsfragen verpflichten kann. Es gelangt im Befragen seiner Gegenstände zu einer Komplexitätsanreicherung der Fragestellungen selbst und verweigert sich so der Herstellung einer „abschließenden Synthese“. Wie aber stellt man derartige Denkbewegungen angemessen dar? Didi-Huberman tut dies, indem er genau diese Denkbewegungen Warburgs als „wilde Dialektik“ ernstnimmt, sie als Bewegungen nachzeichnet. Er lässt sich mit kriminalistischem Gespür auf all jene Momente derselben ein, die auch in ihren Widersprüchlichkeiten und Momenten des Scheiterns Aufschluss über die spezifische Forschungsperspektive Warburgs geben. Diese spiegeln in ihrer Vielgestaltigkeit und Vielstimmigkeit die Dynamik des Warburg’schen Denkens, die Didi-Huberman in der ihm eigenen Dynamik sprachlicher Gestaltung aufnimmt und mit bewundernswerter Ausdrucksvielfalt veranschaulicht.

Am Beginn dieser Nachzeichnung steht eine Frage von Herder, die nicht nur Movens des Warburg’schen Forschens zu sein scheint, sondern ebenso das ‚warburgianische‘ Moment des Didi-Huberman’schen Denkens aufscheinen lässt: „Ob dies der Zweck der Geschichte sei, ob man Kunstgeschichte so verstehen müsse, ‚ob nicht außer dem Winckelmannischen Werk noch ein andres möglich und gut sei‘“. Es ginge ihm um eine „wirklich kritische Geschichte der Kunstgeschichte“, schreibt Didi-Huberman in „Vor einem Bild“. Dies meint nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit den fortwirkenden Neugründungslegenden der kunstgeschichtlichen Wissenschaft, die je und je ihren Gegenstand für tot erklärt, um ihn dann selbst wieder auferstehen zu lassen. Wenn die Kunstgeschichte ihre eigene Geschichte als Erbin Vasaris und Winckelmanns als eine Geschichte von Renaissancen schreibt – Renaissancen bestimmter kunsthistorischer Auseinandersetzungen mit der Rolle antiker Kunst in den jeweiligen künstlerischen Praxen ihrer Zeit – kommt sie auch um eine kritische Reflexion der ihr jeweilig zugrundeliegenden Zeit-, Geschichts- und ästhetischen Modelle nicht umhin. Indem Didi-Huberman rekonstruiert, wie Warburgs forschungsperspektivisches Ansetzen an einer spezifischen Relationalität von Zeit, Geschichte und Ästhetik Vasaris und Winkelmanns epistemische Modelle zerlegt und aufhebt, macht er einsichtig, dass und wie sich das Warburg’sche Werk zu erweisen vermag als eine „wirklich kritische Geschichte der Kunstgeschichte“. Er zeigt, dass Warburg jenes von Herder imaginierte „andere Werk“ erarbeitet – und was eine solche „andere Kunstgeschichte“ für eine Reflexion von Geschichte und Geschichtlichkeit an kritischen Kategorien bereitzuhalten vermag.

Wenn auch Warburg zeitlebens künstlerischen Bezugnahmen auf die Antike nachging, so nicht, um Klassifizierungen zu erarbeiten. Vielmehr stellte sein Vorgehen bisherige kunstgeschichtliche Klassifizierungsmaßstäbe in Frage. Nach ihm hat „jede Zeit die Renaissance der Antike, die sie verdient“. Es ging ihm darum, zu verstehen, warum zu spezifischen Zeiten auf spezifische Art und Weise antike Ausdrucksformen Eingang finden in künstlerische Artefakte, und welche gesellschaftlichen Praktiken hier jeweils zum Ausdruck kommen – im Darstellen des Gegenstandes und im Gegenstand der Darstellung.

Didi-Hubermans eigene Darstellung orientiert sich an der Komplexität dieser Perspektive. Sie verbindet die Kritik an einer bestimmten, seiner Ansicht nach unterkomplexen Rezeption Warburgs mit einer Kritik an einer „impliziten Philosophie“ der Kunstgeschichte seit Panofsky, eines undialektischen, verdinglichenden Gegenstandsbezuges des Kunsthistorikers, „der im allgemeinen neukantianisch ist – er es aber nicht weiß“. Eine angemessene Lektüre Warburgs kann sich gerade nicht auf eine „Bedeutung der Bilder“ richten, ohne eine Reflexion der Präsuppositionen ihres Bedeutens einzubeziehen, nämlich das Wirken der Bilder: „ihre ‚Kraft‘, ihre ‚Macht‘“ – anders ausgedrückt: ihr Leben. Innerhalb der Auseinandersetzungen mit dem Problembereich der Tradierung antiker Ausdrucksformen ist bei Warburg genau dieser Aspekt des Wirkens der Bilder als Fortwirken angesprochen: Mit äußerster Konsequenz legt Didi-Huberman daher das Gravitationszentrum seiner Rekonstruktion in den Warburg’schen Terminus des ‚Nachlebens‘, um von dort aus genau das aufzuschließen, was dem Bildverstehen Warburgs im Zuge der neukantianischen Warburg-Rezeption an Komplexität abgeschnitten wurde.

In den drei großen Kapiteln „Phantombild“, „Pathosbild“, „Symptombild“ reflektiert Didi-Huberman den Terminus des Nachlebens ausgehend von drei unterschiedlichen Perspektiven auf die Verhältnisse von Zeit und Bild, Zeitlichkeit und Bildlichkeit. Er stellt dar, wie sich in den großen Warburg’schen Schlüsseltermini „Nachleben“, „Pathosformel“ und „bewegtes Beiwerk“ jeweils Auffassungen von Geschichtlichkeit zeigen, welche wiederum bestimmte Paradigmen einer Kunstgeschichtsschreibung dekonstruieren. Deren untergründig wirksame Winckelmann’schen Setzungen – wie beispielsweise die eines natürlichen, kreislaufförmigen Geschichtsmodells, das sich aufspannt zwischen den Polen Leben und Tod, Größe und Verfall und die eines Modells künstlerischer Antikenrezeption als Nachahmung eines Ideals von „edler Einfalt, stiller Größe“ – werden gewendet in ein anderes Denken einer Wiederkehr von Bildgegenständen.

Es ist ein Denken, welches auch Momente des Dunklen, Verdrängten, Affektualen, Pathischen und Pathologischen einbezieht und den Modus dieser Wiederkehr als gespenstischen fasst, der angemessen nur als Ausdruck von Symptomen zu rekonstruieren ist. Damit fügt Didi-Huberman der Aktualisierung des Warburg’schen Œuvres wesentliche Komponenten hinzu, die uns den Nachvollzug dessen ermöglichen, inwiefern wir nach Warburg „nicht mehr vor dem Bild und vor der Zeit sind wie zuvor“. In Didi-Hubermans Aufgreifen der Figur des Gespenstes, einer gespenstischen Präsenz, die untergründig wirkt, aber ob ihrer uneingelösten Momente noch nicht zur Wirklichkeit gelangt ist, liegt auch ein Appell zur Weiterführung dessen, wofür er im „Nachleben der Bilder“ den Grund gelegt hat – von einem reflektierteren Standpunkt aus neu nach der ‚Macht der Bilder‘ zu fragen: Lieber Aby Warburg, was tun Bilder mit uns, indem wir etwas mit Bildern tun?

Titelbild

Georges Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Bischoff.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
650 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783518585535

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch