Sein schönstes – sein schlechtestes Gedicht?

Über die Schwierigkeit, moderne Lyrik zu bewerten, am Beispiel Gottfried Benns

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

„Es gibt, scheint mir“, schreibt Gottfried Benn in „Probleme der Lyrik“, „überhaupt kein Gebiet, über das so viele Mißverständnisse herrschen, wie über Lyrik.“ Dem kann man nur zustimmen – wenn man von der schlechten Formulierung absieht. Vieles, was mit Allgemeinheitsanspruch über Gedichte gesagt wird, in Rezensionen, Aufsätzen und Büchern, ist falsch. Besonders falsch sind aber nach Benn die ästhetischen Urteile über Lyrik:

„Ich habe beobachtet, wie kluge Leute, bedeutende Kritiker in dem einen Feuilleton einem wirklich großen Lyriker Verständnis und aufschlussreiche Beobachtungen widmeten und in ihrem nächsten einen noch nicht einmal mittelmäßigen Epigonen dieselbe Aufmerksamkeit und Bereitschaft entgegenbrachten. Das kommt einem vor, als wenn jemand Porzellan aus der Ming-Dynastie nicht unterscheiden kann von unzerbrechlichem Geschirr, das jetzt als Mepal durch kinderreiche Hauswirtschaften geht.“

Zweifellos stößt man oft auf schwer nachvollziehbare Urteile über Gedichte und ihre Verfasser. Für sie mag es viele Gründe geben. Einige liegen durchaus in der Sache. Wie schwer es ist, über Lyrik, zumal moderne, zu urteilen, zeigt gerade eines der bekanntesten Gedichte Benns.

Welle der Nacht

Welle der Nacht – Meerwidder und Delphine
mit Hyakinthos’ leichtbewegter Last,
die Lorbeerrosen und die Travertine
wehn um den leeren istrischen Palast.

Welle der Nacht – zwei Muscheln miterkoren,
die Fluten strömen sie, die Felsen her,
dann Diadem und Purpur mitverloren,
die weiße Perle rollt zurück ins Meer.

„Welle der Nacht“ ist ein berühmtes Gedicht. Es ist in zahlreichen Anthologien abgedruckt und von bedeutenden Philologen wie Hugo Friedrich und Leo Spitzer interpretiert worden. Benn selbst hat es in „Probleme der Lyrik“ erwähnt, als Beispiel für seine „Langsamkeit der Produktion“: „beide Strophen liegen zwanzig Jahre auseinander, ich hatte die erste, sie gefiel mir nicht, aber ich fand keine zweite, dann endlich, nach zwei Jahrzehnten des Versuchens, Übens, Prüfens und Verwerfens, gelang mir die zweite“. Eine so lange Entstehungszeit kann den Leser mit Respekt erfüllen, ihn aber auch aufmerken lassen. Einen Zusammenhang der Erfahrung, auch der Reflexion scheint es zwischen den beiden Strophen nicht zu geben. Der Autor hat sie zusammengesetzt oder montiert: das Gedicht also als „Kunstprodukt“ (wie es in „Probleme der Lyrik“ heißt).

Der Leser, der dieses Gedicht nicht einfach respektvoll-dankbar aufnimmt, dürfte ratlos vor ihm stehen und beim ersten Lesen nicht viel von der Ansammlung seltener und irgendwie kostbarer Namen und Wörter verstehen. Er muss erst einmal einiges nachschlagen. Meerwidder sind männliche Meeresungeheuer. Hyakinthos ist im griechischen Mythos ein schöner Jüngling, Sohn des Königs von Sparta, in den Zephyros, der Gott des Westwindes, und Apollon verliebt waren; aus Versehen tötet Apollon ihn jedoch beim Diskuswerfen. Der leere istrische Palast ist möglicherweise der Kaiser Diokletians in Spoleto, den Benn schon 1927 in seinem Essay „Kunst und Staat“ erwähnt hat. Lorbeerrosen sind eine Heideart, die in Nordamerika zu Hause ist. Travertin ist ein Kalkstein, den es in der Toskana, aber auch in Kroatien gibt.

Historische und mythologische Anspielungen stehen in Benns Versen unmittelbar nebeneinander. Wenn man versucht, sie miteinander zu verbinden, erhält man eine vag-antike Szene: ein leerer Palast auf einer kroatischen Halbinsel, umspült vom Meer, in dem sich allerdings auch mythologische Gestalten bewegen; kostbarer Schmuck, ein Diadem und Stoff aus Purpur, liegt herum oder ist im Wasser versunken. Und da ist schließlich eine Perle, die ins Meer rollt.

Das Ganze ist, mit Lieblingswörtern Benns, ‚südlich’ oder ‚mittelmeerisch’, antik-mediterran. Manche Ausdrücke haben häufig, auch bei Benn, eine symbolische Bedeutung: die Welle, die Nacht, die Delphine, die Muscheln, die Fluten, der Felsen, der Purpur, die Perle. Offenbar hat Benn in seinem kurzen Gedicht eine Fülle von semantisch aufgeladenen Substantiven versammelt, aber kaum eine ihrer Bedeutungen entfaltet. Alles bleibt anspielungshaft und anspielungsreich.

Ein paar Wendungen sind sprachlich verkürzt und deshalb nicht gleich verständlich. „Welle der Nacht“: Ist die Nacht als Welle gemeint – oder eine Welle in der Nacht? Man vermutet, je länger man liest, das Zweite. Was heißt: „die Lorbeerrosen und die Travertine / wehn um den leeren istrischen Palast“? Für die Blüten kann man sich das vorstellen. Aber wie bringt es Kalkstein fertig, zu wehen? Rätselhaft ist auch die Wendung „zwei Muscheln miterkoren“: Was ist zu diesem altertümlichen, aus Luthers Übersetzung des „Briefs an die Hebräer“ bekannten Partizip das Subjekt? Der Vers „die Fluten strömen sie, die Felsen her“ ist grammatisch unklar: Nicht nur, dass „strömen“, anders als bei Benn, im Deutschen intransitiv ist; der folgende Satzteil „die Felsen her“ ist auch schwer zuzuordnen. Heißt der ganze Satz, umgangssprachlicher formuliert: „die Fluten und die Felsen strömen sie – die Muscheln – her“? Das würde wenig Sinn ergeben: Felsen bewegen sich nicht. Müsste man also eher ‚übersetzen‘: „die Fluten strömen um die Felsen her“ oder „… von den Felsen her“?

Im nächsten Vers, „dann Diadem und Purpur mitverloren“, gibt es weitere Unklarheiten: ‚mitverloren’ bezieht sich wohl auf den leeren Palast. Aber warum „dann“? Heißt das: Erst „strömen“ die Fluten zwei Muscheln her(an), dann Diadem und Purpur, das einer, wohl der Kaiser, verloren hat?

Das Gedicht entwirft eine künstliche Welt. Seine sprachlichen Mittel: ein elliptischer Stil, ein ungewöhnliches Lexikon, unklare oder mehrdeutige grammatische Beziehungen sind alle der poetischen Konstruktion untergeordnet. Benn wollte offenbar – wie es immer wieder in seinen poetologischen Äußerungen heißt – ‚suggestiv’ oder ‚faszinierend’, ja ‚halluzinatorisch’ sprechen. Ein Bezug zu dem, was man Wirklichkeit nennt, ist nicht beabsichtigt. Der Sprecher träumt eine Szenerie, die auf eine erlesene Weise ästhetisch ist und durch ihr Verlorensein melancholisch stimmen soll. Dabei bleibt er bewusst vage.

„Welle der Nacht“ eignet sich offenbar gut dazu, Benns poetisches Verfahren des ‚absoluten Dichtens’ exemplarisch zu beschreiben. Bei den Spezialisten genießt es, vielleicht deshalb, einen glänzenden Ruf. „Eines“ der „schönsten Gedichte“ Benns hat es Klaus Gerth genannt. Auch Edgar Lohner hat es voller Hochachtung und mit großem Tiefsinn ausgelegt. „Mit diesem Gedicht“, schreibt er, „hat Benn eine Aufgabe bewältigt, die als selbstlose Leistung, an Reinheit und Vollendung, Geistigkeit und Einfachheit in der modernen Lyrik nur selten erreicht wird“.

Aber ist „Welle der Nacht“ wirklich ein gutes, ein gelungenes, gar ein großes Gedicht – „aufs Höchste gesteigert und verdichtet, traumhaft entrückt und aller dem lyrischen Gedicht wesensfremden Merkmale entkleidet“, wie Lohner meint? Ist es nicht vielleicht eines der fragwürdigsten Gebilde des Autors, nicht nur sprachlich? Peter Rühmkorf, ein kritischer Verehrer Benns, hat über den ästhetischen Wert des Gedichts ganz anders als die Philologen geurteilt. In seinem großen Essay „Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen“ hat er es in drei Zeilen abgefertigt: „Das war die kandierte Romantik nach dem ges. gesch. Geschmack des Restauratoriums, das La Paloma der intellektuellen Demimonde – rollt eine weiße Perle zurück ins Meer.“ Für Rühmkorf ist „Welle der Nacht“ eines der „Rührstücke“ Benns, mit „viel Sog und Suggestion“ und einem „süß-melodischen Strom“. Kitsch wäre ein anderes Wort dafür: Kitsch für Intellektuelle.

Die denkbar unterschiedlichen Urteile über „Welle der Nacht“ sind kaum mit mangelndem Sachverstand auf der einen oder der anderen Seite zu erklären. Sie haben eher mit der Zweideutigkeit des Benn’schen, vielleicht des modernen Gedichts zu tun. Ihm geht es um das poetisch Neue, um ein Gebilde, das es so noch nicht gegeben hat und das notwendig künstlich ist. Diese Künstlichkeit lässt sich, im Fall Benns, als unerhörte Kunstübung und zeitentrückte Artistik feiern – oder als gefällige Kunstfertigkeit im Stil der Zeit entlarven. Man könnte auch sagen: Das Gedicht ist Artistenkitsch, auf hohem Niveau geschmacklos. Ob es mit dem sonst vernichtenden Vorwurf des schlechten Geschmacks erledigt ist, bleibt allerdings fraglich: Es ist, seinem Anspruch nach, immer noch innovativ. Über den guten Geschmack geht die moderne Lyrik im Zweifelsfall hinweg. Das Ungehörte ist ihr wichtiger als das, was sich – einmal – im Gedicht gehörte.

Literaturhinweise

Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Ders: Essays Reden Vorträge. Das Hauptwerk. Zweiter Band. Hg. von Marguerite Schlüter. Wiesbaden und München o.J. (erste Auflage 1959), S. 317-355. Zitate S. 353 und 339.

Gottfried Benn: Lyrik. Das Hauptwerk. Erster Band. Hg. von Marguerite Schlüter. Wiesbaden und München o.J. (erste Auflage 1959), S. 198.

Edgar Lohner: Passion und Intellekt. Die Lyrik Gottfried Benns. Neuwied am Rhein, Berlin-Spandau 1961. Zitate S. 259.

Klaus Gerth: Absolute Dichtung? Zu einem Begriff in der Poetik Gottfried Benns. In: Bruno Hillebrand (Hg.): Gottfried Benn. Darmstadt 1979, S. 240-260. Zitat S. 253.

Peter Rühmkorf: Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen. In: Ders.: Strömungslehre I. Poesie. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 11-43. Zitate S. 20.


Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Signet von Simone Frieling.