Physiognomik des Körpers

Andreas Mayer schildert die Schwierigkeiten, die Mechanik des Gehens zu erforschen

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist merkwürdig, auf welche Schwierigkeiten die Erforschung eines so alltäglichen Vorgangs wie das Gehen stößt, wenn man auf alle technischen Hilfsmittel verzichten muss. Das, was uns heute ein Film notfalls in Zeitlupe vorführt, musste vor dessen Erfindung mit einer Reihe von schlau ausgedachten Einrichtungen aufgezeichnet werden, und anschließend ließen sich die aufgezeichneten Spuren nur schwer interpretieren. Bereits die schlichte Mechanik des Gehens erwies sich als kaum durchschaubar, von weitergehenden Aspekten wie dem Zusammenhang mit der Psyche ganz zu schweigen.

In vier großen Kapiteln erzählt der Wissenschaftshistoriker Andreas Mayer die Geschichte der Erforschung des Gehens, und weil das Gehen ein Symbol der menschlichen Existenz ist und der Autor auf die „moralische Semiotik“ des Gehens abzielt, entfaltet sich wie von selbst ein kulturgeschichtliches Kaleidoskop. Es beginnt im 18. Jahrhundert, und es kann nicht überraschen, von Jean-Jeacques Rousseau wie von Johann Gottfried Seume oder vom Militär zu erfahren, wie wichtig ihnen das Gehen war. Selbst Johann Heinrich Lavater schrieb über den Ausdruckswert des Gehens und ließ seine Überlegungen, wie es nach ihm Georg Christoph Lichtenberg tat, von Daniel Chodowiecki illustrieren.

Die Ausdeutung der „Semiotik der Gangarten“ steht in Mayers Buch leider etwas im Schatten der Mechanik des Gehens, und es wäre zu wünschen, dass die „Aufmerksamkeit für spezifische Gangarten und Gesten“ in ihren Ergebnissen ausführlicher dargestellt würde. Das gilt etwa für die im zweiten Kapitel zitierten französischen Anthropologen und Psychiater aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welche die Bewegungsabläufe im Zusammenhang mit Manie und Demenz diskutierten und nach dem Grad der Kontrolle klassifizierten, „die der Mensch über seine ‚Bewegungskraft‘ (force motrice) hat“.

Das Schwergewicht der Untersuchung liegt auf dem 19. Jahrhundert und der Beobachtung des rein physischen Vorgangs, die vor Erfindung von Fotografie und Film auf größte Schwierigkeiten stieß. Zumeist werden französische Autoren und Wissenschaftler zitiert, zu denen als der berühmteste auch Honoré de Balzac zählt, der eine Theorie des Gehens verfasst hat, die in Deutschland bis heute in keine der gängigen Gesamtausgaben aufgenommen wurde und deshalb entsprechend unbekannt ist. Die Gangart gilt Balzac als Physiognomik des Körpers, „in deren Eigenart sich die menschlichen Tugenden und Krankheiten dem aufmerksamen Beobachter auf unbarmherzige Weise offenbaren“. In der Deutung Mayers zielt aber Balzacs Buch eigentlich auf „das Drama des Beobachters selbst, der sich in der ‚Wissenschaft vom Menschen‘ fortwährend seines Gegenstandes zu vergewissern sucht“. Man könnte dies wohl auf die Geschichte der Erforschung des Gehens überhaupt beziehen, also auch auf dieses Buch.

Der ausnehmend disziplinierte Autor versagt sich konsequent die häufig naheliegende Ausdeutung dessen, was er vorträgt, sondern deutet diese allenfalls an und begnügt sich sonst mit dem nüchternen Referat der historischen Ergebnisse. Sein Buch stellt eine Materialsammlung von hohem Wert dar, die auf eine ganze Reihe von nur schwer zugänglichen, im Original auffallend oft französischen Quellen zurückgreift und zu den verschiedenen Methoden der Gangaufzeichnung auch eine Reihe von Illustrationen bietet. Auf den Schwierigkeiten, die bei der Beobachtung und Aufzeichnung des Gehens auftauchen, liegt in den letzten Passagen des Buches das Schwergewicht der Darstellung; Mareys „selbstschreibende Apparate“ werden ebenso ausführlich dargestellt wie die Methoden der Chrono- oder Phasenfotografie, deren serielle Momentaufnahmen auch heute noch fast jedermann bekannt sind. Auf die Kritik dieser Methode, die von Henri Bergson in mehreren seiner Bücher vorgetragen wurde – er sah in der Phasenfotografie die Leugnung der Bewegung –, geht Mayer nicht ein.

Titelbild

Andreas Mayer: Wissenschaft vom Gehen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
320 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100486042

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