Das Erzählen von Erfahrungen im Alltag wie in der Literatur

Christof Hamann hat ein Heft über Uwe Timm herausgebracht

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Beiträge dieses Uwe-Timm-Heftes beschäftigen sich mit dem weitläufigen erzählerischen, essayistischen und poetologischen Werk des Autors und zeigen auch die vielen Facetten individueller und kollektiver Erschütterungen, die Timms Romanfiguren in dramatischen Umbruchssituationen durchleben, zugleich aber auch die vielfältigen Formen des Widerstands, der Sinnlichkeit des Lebens, des Genusses, der Erkenntnis und des Humors.

Den Auftakt bildet die Rede Timms, die er bei der Entgegennahme des Heinrich-Böll-Preises im Jahre 2009 gehalten hat und in der er eine Art poetisches Credo abgibt. Bereits mit 21 Jahren habe er Bölls Epochenroman „Billard um halb zehn“ gelesen, schon mit dem Blick auf die Konstruktion, die Erzähltechnik des Romans. Jetzt, beim Wiederlesen, habe ihn das „archäologische Hineingraben in die deutsche Geschichte“ genauso beeindruckt wie die genau kalkulierte Statik des Erzählens, das die Handlung des Romans trägt und zugleich komplizierte Ausformungen, Verästelungen, Filigranwerk zulässt.

Martin  Hielscher spricht dann über seine Lektoratsarbeit mit Uwe Timm – „Verwerfen, Umschreiben, Verbessern“ –, er verweist auf das Element des Mündlichen, Anekdotischen, das genaue Gehör für die gesprochene Sprache, deren Lebendigkeit und Witz in dessen Werk. Zudem gibt er Einblicke  in die Entstehungsgeschichte des komplexen Montageromans „Rot“ und sieht die Ost-West-Novelle „Freitisch“ als eine Hommage an Arno Schmidt an, die eine Tür für einen neuen, unpathetischen Umgang mit diesem respekteinflößenden Autor öffnet, sie sei eine Novelle voller Selbstzitate und Reminiszenzen auf andere Texte Timms.

Matteo Galli schreibt über Timms Essayistik und ordnet sie in vier Phasen ein: die politisch-literarische Essayistik bis Mitte der 70er- Jahre, die politisch-ethnografischen Aufsätze bis Ende der 80er- Jahre, die mentalitätsgeschichtlich-autobiografischen Beiträge seit Ende der 80er- Jahre und schließlich seit den 90er – und verstärkt in den 2000er- Jahren die poetologischen Aufsätze,  die Timm auf der Grundlage von Vorträgen erarbeitet hat. Seit „Vogel, friß die Feige nicht“ kündigt sich bei ihm eine neue Form der Essayistik an, die auf einer „Ästhetik des Alltags“ beruht.

Mit auktorialen Selbstentwürfen in Timms Poetologie(n) beschäftigt sich Julia Schöll und ergänzt damit die Ausführungen von Matteo Galli in glücklicher Weise. In den ideologisch geprägten Beiträgen Timms der 70er- Jahre, so führt sie aus, wird ein Literaturverständnis propagiert, das sich bewusst von einem als elitär deklarierten Autonomieverständnis der Kunst distanziert. Dieses Konzept eines politischen Realismus schließt Fiktion und Subjektivität ein. Von der Position, dass Literatur die Welt verändert, rückt Timm dann später ab. In seiner Paderborner Poetikvorlesung „Erzählen und kein Ende“ von 1991/92  tritt an die Stelle des Ideologischen eine ins Historische gewendete Ästhetik des Alltäglichen. Dem Erzählen sowohl im Alltag als auch der Literatur wird von Timm eine subversive Kraft zugeschrieben.  Das neue poetologische Konzept entlastet die Literatur auf politischer Ebene, belässt ihr aber ihr utopisches Potential. Der Mensch, der die Welt verändern möchte, muss zunächst seine Wahrnehmung verändern. Je weiter Erinnerungsdiskurs und Gedächtnistheorien ihre Wirkung entfalten, umso deutlicher sind Timms literarische wie poetologische Texte vom Rekurs auf das eigene Familiengedächtnis geprägt. Die Frankfurter Poetikvorlesung  „Von Anfang und Ende“ von 2009 zieht eine Bilanz seines Schaffens. Timms Poetologie verschiebt sich von der revolutionären Entschlossenheit, mittels der Literatur die Welt umzugestalten, zum Versuch, über die Affizierung seiner Sinnlichkeit die Sicht des Menschen auf diese Welt und speziell seine Sicht auf Mythos und Geschichte zu verändern.

Kerstin Germer untersucht Erzählstrategien in ausgewählten Romanen Timms. Sie sieht zwei Themenblöcke in dessen Werk:  die Aufarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte und die der darin eingebetteten Biografien. Auf diesen Aspekt hin werden von ihr befragt: der  Erstlingsroman „Heißer Sommer“,  der zweite Roman „Morenga“, in dem sich Timm mit der deutschen Kolonialgeschichte im heutigen Namibia beschäftigt, „Der Mann auf dem Hochrad“, in dem Timm erstmals auf die Verbindung von Erzählen und Erinnern zurückgreift, die dann die formale Struktur fast aller seiner Erzähltexte bilden wird, und „Halbschatten“, in der sich zwei voneinander unabhängige Erzählstränge ausmachen lassen.

Der Repräsentation des kulturell „Anderen“ im Werk Timms widmet sich Axel Dunker vor allem am Beispiel von „Heißer Sommer“, „Morenga“ und „Der Schlangenbaum“. Wie verarbeitet Timm hier den lateinamerikanischen Magischen Realismus? Der Import europäischer Technik, von Zivilisation in das unterentwickelte Lateinamerika führt die Programmatik des Magischen Realismus wieder auf ihre europäisch-surrealistischen Ursprünge zurück.

Improvisation als Lebensgefühl und Schreibhaltung in Timms „Rot“ spürt Alexander Honold nach. Dieser Erinnerungsroman ist so vieldeutig und referenziell ausufernd wie die damit angesprochene Farbe. Das Kraftzentrum des Romans ist der Puls des freien Assoziierens, den der Autor den Jazzplatten seines Protagonisten abgelauscht hat.

Über einige narrative Strategien in der autobiografischen Erzählung „Am Beispiel meines Bruders“ äußert sich Clemens Kammler. Hier sind Bausteine aus früheren Texten integriert worden. Das Erinnern der Vätergeneration des Erzählers bestand in der Domestizierung des Geschehens der NS-Zeit. Konträr dazu positioniert sich Timms Erzählung als „Gegengeschichte“. Kammler widerspricht allen „glättenden Lektüren“ der Erzählung und verweist auf Korrespondenzen zwischen Textstellen, die nicht unmittelbar  aufeinander folgen, aber „intratextuell aufeinander verweisen“, auf harte Schnitte zwischen benachbarten Textblöcken, die in unmittelbarer Abfolge den Bruder als Täter und als Kind zeigen, auf Erzählerberichte über historische Forschungen oder Veröffentlichungen von Tätern und Opfern, schließlich auf die Funktion der Träume des Erzählers, die teilweise assoziativ in die Erzählung eingeblendet werden.

„Was die Romanwelt von Uwe Timm im Innersten zusammenhält“, beschreibt Rolf Parr, indem er sich mit den prospektiven und retrospektiven Vernetzungen im Werk von Timm auseinandersetzt. Retrospektive Wiederaufnahmen stellen keineswegs bloße Wiederholungen dar, sondern stets produktive Formen der Weiterverarbeitung mit bisweilen völlig unerwarteten Quertrieben. Als treffende Metapher für Timms Gesamtwerk schlägt Parr „Rhizom mit Spiralelementen des fortschreitenden Aktualisierens“ vor. Wie in allen Text + Kritik-Heften außerordentlich nützlich ist die Auswahlbibliografie, die hier von Julian Osthues zusammengestellt wurde.

Man mag bedauern, dass in dem Heft dem Kinderbuch- und Drehbuchautor  Uwe Timm keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Auch darüber, welche Stellung er im  Kontext der Gegenwartsliteratur einnimmt, welche Rezeption sein Werk erzielt, wäre wohl zu sprechen gewesen. Aber dennoch vermittelt diese Sammlung unterschiedlicher Auffassungen einen Eindruck von der Vielfältigkeit und Bedeutung des Timm`schen Werkes, das die deutschsprachige Literatur der letzten dreißig Jahre enorm bereichert hat. Die Beiträge vermögen nicht nur den Fachkollegen zum Nachdenken und zum Disput, sondern auch den literaturinteressierten  Laien zum Lesen und zum Wiederlesen  anzuregen.

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Christof Hamann: Text und Kritik. Heft 195. Uwe Timm.
edition text & kritik, München 2012.
95 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783869161976

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