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Esther Kinsky macht sich in „Fremdsprechen“ lesenswerte „Gedanken zum Übersetzen“

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Esther Kinsky hat in diesen schmalen Band ihre langjährige Erfahrung als Übersetzerin, vor allem aus dem Polnischen, Russischen und Englischen, in essayistisch leichter und anregender Weise einfließen lassen und sich anhand der eigenen Praxis „Gedanken zum Übersetzen“ gemacht. Es handelt sich dabei ausdrücklich nicht um eine übersetzungstheoretische Abhandlung, sondern um eine eng am Sprachmaterial argumentierende Reflexion darüber, was es bedeutet, sich zwischen zwei Sprachen übersetzend zu bewegen. Die wichtigste theoretische Referenz ist Walter Benjamins Aufsatz über „Die Aufgabe des Übersetzers“, und auch dieser Text wird vor allem wegen seiner berühmten, wenngleich kryptischen Metapher vom Übersetzen als ein Rufen „in den innern Bergwald der Sprache selbst“ herangezogen. Der Übersetzer, der in Benjamins Bild das Original in diesen Bergwald hineinruft, notiere dann dessen Echo in der eigenen Sprache und erzeuge so eine Übersetzung, die möglichst auf das Original hin durchsichtig sein soll.

Ausgehend von Reflexionen über die symbolische Bedeutung des Turmbaus zu Babel, der nach der Vertreibung aus dem Paradies und der Sintflut mit der Sprachverwirrung die dritte göttliche Strafe über die Menschheit gebracht hat, sieht Kinsky die Erschaffung der Fremde als das Resultat der Sprachverwirrung, aus der gleichzeitig die Notwendigkeit der Übersetzung entstanden sei. Übersetzen bedeutet, mit dem Titel des Buchs, vor allem „Fremdsprechen“, wie einige Beispiele aus Kindheitserinnerungen illustrieren. So habe sich Kinskys Urgroßmutter noch dagegen gewehrt, dass man ihre vertraute Welt „fremdsprechen“ und ihren Tisch als „table“ bezeichnen könne, als ihre Enkeltochter die ersten Französischvokabeln ausprobierte.

Mit Walter Benjamin kommt Kinsky aus verschiedenen Perspektiven immer wieder auf die Frage nach dem Unterschied zwischen dem Gemeinten und der Art des Meinens, dem Was und dem Wie des sprachlichen Ausdrucks zurück. Die eigentliche Aufgabe des Übersetzers sei es, Äquivalenzen für das Wie zu finden, auch wenn sich oft nur konstatieren lasse, dass es keine wirklichen Äquivalenzen gebe und dann die kreative Eigenleistung des Übersetzers gefragt sei. Benjamins Beispiel von den stark unterschiedlichen Assoziationen, die die vermeintlich bedeutungsgleichen Wörter „pain“ im Französischen und „Brot“ im Deutschen bei Muttersprachlern auslösen, fügt Kinsky zahlreiche weitere aus vielen verschiedenen Sprachpaaren hinzu. Schon innerhalb ein und derselben Sprache sei es bekanntlich keineswegs eindeutig, was unter einem Wort wie „Fluss“ zu verstehen sei, da nicht festgelegt sei, welche Dimensionen ein Gewässer haben müsste, dem man diese Bezeichnung zuweisen könnte: was für Kinskys Großmutter ein Fluss war, war für die andere höchstens ein Flüsschen oder ein Bach.

Kinskys Auseinandersetzung mit Benjamins Bild vom „innern Bergwald der Sprache“ zielt vor allem auf eine Bestimmung des besonderen Ortes, den ein übersetzter Text zwischen dem fremdsprachigen Original und originalsprachlichen Texten in der Zielsprache einnimmt. Gegen Benjamins Vorstellung von einer „durchscheinenden Übersetzung“, die dem Original „nicht im Licht steht“, wendet sie ein, dass eine solche Übersetzung kein „Fremdsprechen“ im starken Sinn wäre, sondern eine Version, die sich einzig und allein dem Original verschrieben hätte. Das Ergebnis wäre dann „nicht die Frucht eines Dialogs mit der Fremde, aus dem eine eigene Struktur erwächst, durch die sich der Übersetzungstext auch für den ganz außenstehenden Leser als Ahnung des Anderen vermittelt, ein Anderes, das im Gewebe des Eigenen bewahrt bleibt“. Die ideale Übersetzung werde zum „Widerpart“ des Originals, dessen Muster man durch das Muster der Übersetzungstextur anders zu sehen vermöge.

Übersetzen, vor allem literarisches Übersetzen, sei das Umbenennen einer Welt, die der originalsprachliche Text in Worten geschaffen habe. Diese Umbenennung erfordere aber nicht nur das Vokabular, das vermutlich sogar das geringere Problem darstelle, sondern auch die grammatischen Strukturen, um das Wie des Originals in der fremdsprachigen Fassung angemessen wiedergeben zu können. Ein grundlegendes Problem beim Übersetzen aus den slawischen Sprachen oder auch aus dem Englischen ist bereits das Fehlen einer eigenen Form, um indirekte Rede auszudrücken. Sowohl beim Übersetzen aus einer solchen Sprache in eine, die die indirekte Rede mit einer eigenen Form auszudrücken vermag, als auch in der anderen Richtung, muss der Übersetzer also weit reichende Grundsatzentscheidungen treffen, mit denen er den Charakter des Ausgangstexts erheblich verändert.

Auf der Vokabelebene liegt das Problem oft im Bereich der kulturellen Assoziationen, die mit bestimmten Wörtern verbunden sind und bei denen der Übersetzer entscheiden muss, ob diese in der Ausgangssprache noch aktiv sind und dann für die Übersetzung berücksichtigt werden müssen oder nicht. Ein Beispiel ist die polnische Bezeichnung für Kakerlaken, die „prusaki“, also „Preußen“ genannt werden. Ursprünglich war darin, neben einem Bezug auf die lateinische Fachbezeichnung als „blatella germanica“, auch die historisch verständliche polnische Abneigung gegen Preußen und Deutschland mitzuhören, doch in neueren Texten handelt es sich meist um eine nicht weiter reflektierte umgangssprachliche Bezeichnung für das Ungeziefer. Der Übersetzer muss also zunächst entscheiden, ob für den muttersprachlichen Leser an der Stelle, an der die „prusaki“ auftauchen, noch die antipreußischen Ressentiments mitzuhören sind, steht dann aber vor dem nächsten Problem, wie ein solches Ressentiment mit einer deutschen Entsprechung ausgedrückt werden könnte. Die historisch im Deutschen wohl belegten Kakerlakenbezeichnungen wie „Franzosen“ oder „Russen“ würde ein zeitgenössischer deutscher Leser allerdings kaum noch mit dem Ungeziefer in Verbindung bringen, und selbst wenn es solche Leser noch geben sollte, wäre damit doch das kulturelle Assoziationsfeld des polnischen Originals nicht mehr angemessen wiedergegeben.

Jede Übersetzung sei deshalb, so Kinsky, „eine Sicht des Originalwerks, eine Ansicht, die durch den Filter der Sprachwelt des jeweiligen Übersetzers den Weg aufs Papier gefunden hat, und wie durch die Farbfilterlinse einer Kamera aufgenommen, breitet sich vor dem Leser der Übersetzung ein anderes Bild aus als vor dem Leser des Originals.“

Ähnlich, wie für das erwähnte Problem der indirekten Rede, gilt das Bild des verändernden Filters auch für das sprachliche Geschlecht, wie Kinsky mit einem Gedankenspiel zeigt. Bei einer Übersetzung eines Texts aus einer Sprache, die das Genus im Präteritum markiert (wie das die slawischen Sprachen tun) in eine Sprache, die bei den Formen des Präteritums das Geschlecht nicht in der Verbform ausdrückt (wie das Deutsche oder Englische), muss dieser Unterschied, wenn der Ausgangstext mit dieser Möglichkeit spielt, zu erheblichen Abweichungen in der fremdsprachigen Version führen, denn denkbar wäre ein Text, der in einer slawischen Sprache das Geschlecht des Erzählers nur über die Verbformen kennzeichnet, oder ein deutscher, englischer oder ungarischer Text, der das Geschlecht des Erzählers vollkommen offen lässt. In beiden Fällen müsste sich der Übersetzer entscheiden und im „ersten Fall das Offenbare verschweigen oder hinzudichten, im zweiten Fall das Verschwiegene offenbaren“, immer also in den Text in einer Weise eingreifen, die den Eindruck des Originals an entscheidender Stelle nicht reproduzieren kann.

Und wie soll sich der Übersetzer verhalten, wenn er aus einer Sprache, die über Verbalaspekte ausdrücken kann, ob eine Handlung abgeschlossen oder unvollendet ist, ob etwas in der Vergangenheit immer wieder passiert oder plötzlich eintritt, in eine Sprache wie das Deutsche übersetzt, die diese Möglichkeiten nicht hat und dafür Adverbien der Zeit wie „plötzlich“, „immer wieder“ oder „länger“ benötigt? Solche vermittelnden Zusätze greifen erheblich in die Gestalt eines Textes ein, da sie im Originaltext Vorhandenes, aber Unausgesprochenes, in der Übersetzung ausdrücklich machen müssen.

Ein Problem, an dessen vermeintlicher Lösung häufig die Qualität einer Übersetzung gemessen wird, sind Formulierungen des Originals, die auch in der Ausgangssprache idiosynkratisch, also idiomatisch nicht üblich sind, die der muttersprachliche Leser aber als Abweichung vom Standard registrieren kann, während der Leser der Übersetzung sich darauf verlassen muss, dass der Übersetzer hier nicht einen groben Schnitzer gemacht, sondern bewusst eine auch im Original befremdliche Stelle angemessen in eine andere Befremdung übertragen hat.

Solche grundlegenden Fragen werden in „Fremdsprechen“ immer aus der persönlichen Sicht der erfahrenen Übersetzerin verhandelt, die auch über Eigentümlichkeiten ihrer langjährigen Übersetzungspraxis reflektiert. So berichtet Kinsky über die eigene Erfahrung, aus dem Polnischen ins Deutsche meist an Orten übersetzt zu haben, in England oder Ungarn, in denen keine der beiden Sprachen im Alltag gebraucht wurde, so dass der Übersetzungsprozess zwischen zwei Sprachen ablief, die im Moment der Übersetzung von sämtlichen Verbindungen zur Gegenwart getrennt waren und vor allem aus der Erinnerung der Übersetzerin geschöpft werden mussten, was als großer Vorteil erscheinen kann: „Das Übersetzen in der Fremde kam mir immer wie ein Gewinn vor, eine Befreiung im Umgang mit meiner eigenen Sprache, die alle Floskeln, alle Trübungen durch unwillkürlich absorbierte Sprachfetzen aus Werbung, Medien, Behördensprache abwerfen konnte.“

„Fremdsprechen“ bietet dem an Fragen der Übersetzung interessierten Leser immer wieder die Gelegenheit, den Gedanken der Übersetzerin bei der Annäherung an einen zu übersetzenden Text zu folgen, ob es um die polnischen „prusaki“, einen einfachen englischen Satz wie „I walked to the river yesterday“ oder eine längere Passage aus Henry David Thoreaus „Journals“ geht, und dabei Abwägungen zwischen Wörtlichkeit und Klanglichkeit nachzuvollziehen. Von der französischen Lyrikerin und Übersetzerin Mireille Gansel übernimmt Kinsky das schöne Bild vom Übersetzen als Transhumanz („Traduire comme transhumance“ Rennes 2012): So wie die Schäfer die Herden von den Sommer- zu den Winterweiden geleiten, so geleitet der Übersetzer die „Herde der Worte aus der fremden in seine Sprache, er kennt die Wege, auf denen der Herde nichts zustößt, und den Boden, den ‚Humus‘, auf dem die Herde gedeiht.“ Von dieser Überlegung ausgehend, fragt Kinsky sich abschließend, was genau passiert, wenn man sich selbst übersetzt und stellt dazu einen eigenen englischen Text vor, den sie als Abschiedsgedicht zum Ende ihres Londoner Lebensabschnitts verfasst und später ins Deutsche übersetzt hat.

Bevor Kinsky abschließend ihr Londongedicht in einer zweisprachigen Fassung abdruckt, kehren die Überlegungen zum Anfang und zum Turmbau von Babel zurück. Die Frage, ob eine konstruierte Universalsprache denkbar sei – ob Esperanto oder das weltweit gesprochene Schwundenglisch –, die jemals Übersetzungen überflüssig machen könnte, erklärt Kinsky für müßig, da das „Vorhandensein von Sprache die Existenz von Fremdsprache“ impliziere und die Notwendigkeit von Übersetzungen und Übersetzern, die „die Fremde zwischen den Sprachen verhandeln, ungeachtet der Kluft zwischen den Arten des Meinens“. Das setzt einerseits ein großes Können voraus, doch lasse sich auch ein Kunstanspruch der Übersetzung postulieren. Der Vermittlungsaspekt der Übersetzung, der auch erfordert, dass fremdsprachige Klassiker immer wieder neu übersetzt werden können, weil die Sprache des Zielpublikums der Übersetzung sich ändere, bedeute nicht, daß nicht jede einzelne Übersetzung für sich den Anspruch erheben könne, ein bleibendes Kunstwerk zu sein. Das Übersetzen sei in jedem Fall eine „seltsame Könner-Kunst“. Während der Künstler selbst nichts wissen müsse, müsse der Übersetzer prinzipiell alles wissen, im Idealfall besser als der übersetzte Autor selbst, und dazu noch die sprachliche Sensibilität für das Echo aus dem Benjamin’schen Bergwald besitzen, die den möglichst genauen Ausdruck in der Zielsprache für das in der Fremdsprache Gehörte zu finden erlaubt. Zwischen zwei Sprachen und zwei Welten aus Bildern und Klängen müsse der Übersetzer es vor allem der Sprache selbst recht machen. Esther Kinskys Buch vermittelt auf anregende und sehr persönliche Weise einen Eindruck von den sprachlichen Herausforderungen, die damit verbunden sind.

Titelbild

Esther Kinsky: Fremdsprechen. Gedanken zum Übersetzen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013.
140 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783882210385

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