Eine alternative Geschichtsschreibung Sowjetrusslands

Alexander Tschudakows „Es legt sich Dunkelheit auf alte Stufen“ (2000)

Von Alla SoummRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alla Soumm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Es legt sich Dunkelheit auf alte Stufen“ ist der einzige Roman des 2005 verstorbenen russischen Literaturwissenschaftlers und Tschechow-Experten Alexander Tschudakow. Im Jahre 2000 veröffentlicht und bereits im Folgejahr für den Russischen Booker, den bedeutendsten russischen Literaturpreis, nominiert, avancierte dieses groß angelegte Werk schnell zum Bestseller und zum Kritikerliebling. Die stetig wachsende Wertschätzung des Romans gipfelte 2011 in der  posthumen Auszeichnung seines Verfassers mit dem Russischen Booker des Jahrzehntes für den besten russischsprachigen Roman zu Beginn des neuen Jahrtausends.

Im zweifellos autobiografisch gefärbten Werk erzählt Tschudakow aus der Perspektive eines Anton genannten Erzählers – einer Perspektive, die stilistisch auf eine befremdliche Art zwischen der ersten und der dritten Person wechselt und so nicht zuletzt wie eine unintendierte Parodie von Caesars „De bello gallico“ wirkt – vom Aufwachsen in der russischen Provinz nördlich von Kasachstan und westlich von Sibirien in der Zeit des sogenannten Großen Vaterländischen Krieges und der Nachkriegszeit. Eine zentrale Rolle nehmen dabei die engsten Familienangehörige des Erzählers ein, die in den späten 1930er-Jahren, um sich vor einer drohenden Deportation, Inhaftierung und gar Hinrichtung im Zuge der stalinistischen Säuberungen durch den NKWD[1] zu retten, freiwillig aus Moskau in die Provinzregion Tschebatschinsk geflüchtet sind. Die Familie des Erzählers – die Eltern, Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen, allen voran jedoch die zentralen Gestalten des aus einer Popenfamilie stammenden Großvaters und der adligen Großmutter – vermag es, fernab der Hauptstadt das vorrevolutionäre Leben in privater Opposition zum sowjetischen Regime zu konservieren: „Die russische Provinz […] bewahrte als eine geographische Peripherie Patchworkdecken, handgeschriebene Poesiealben […] und Mittagessen unter den Linden“. Vor dem Verschwinden nicht minder bewahrt wurden auch Ikonen an den Wänden, Fragen der höfischen Etiquette, das Singen der zaristischen Nationalhymne „Gott, schütze den Zaren“ wie die Pflege der russischen literarischen Tradition durch „das gemeinsame Lesen im Familienkreis“.

Tatsächlich ist die Lebendigkeit der russischen vorrevolutionären und Exilliteratur durchgängig spürbar – ob über direkte Zitate solcher literarischer Größen wie Alexander Puschkin, Nikolai Gogol oder Anton Tschechow, ob über die gewollte, ostentativ vormoderne Literarizität des Romantitels wie bestimmter Figurenbeschreibungen vonseiten des Erzählers („‚Die vergangenen Jahre hinterließen eine untilgbare Spur auf ihrem Antlitz’, dachte Anton“) – und bildet so eine Art Hommage an die russische literarische Klassik, die mit dem eigentlichen, prosaisch-einfachen Sprachstil des Romans eigenwillig kontrastiert.

So wird in prosaischer Detailversessenheit etwa der Alltag in der entlegenen Region als ein einziger Überlebenskampf geschildert. Im mit „Naturwirtschaft im 20. Jahrhundert“ betitelten Kapitel heißt es:

„Gepflanzt und hergestellt wurde alles. Hierfür existierten in der Familie alle nötigen Kader: ein Landwirt (Großvater), eine Chemikerin (Mutter), eine diplomierte Zootechnikerin (Tante Larissa), eine Köchin (Großmutter), eine Küchenhilfe (Tante Tamara), ein Holzfäller/Schlosser/Schnitter in einem (Vater). Man verstand es zu schreinern, zu nähen, zu stricken, zu graben, mit der Sichel und dem Spaten umzugehen.“

Zentral für die Darstellung des Alltags, der nicht zuletzt mit der Epoche des europäischen Spätfeudalismus kurz vor dem Einsetzen der industriellen Revolution verglichen wird, ist die Feststellung: „Um in diesem Lande zu überleben, mussten alle alles können“. Dass daneben fast alle Beteiligten noch eine volle Arbeitsstelle zu bewältigen haben, die allein jedoch niemanden vor dem sicheren Hungerstod hätte retten können, ist eine Selbstverständlichkeit. Zudem gilt es, inmitten der menschenunwürdigen Bedingungen die eigene Würde zu bewahren – die Wäsche bei Eiseskälte nicht nur zu waschen, sondern auch zu weißen und zu stärken, den Gast in einem noch vor der Oktoberrevolution geschneiderten Tweedanzug aus Boston zu empfangen…und das als mittelloser Exilant unter seinesgleichen.

Historisch bemerkenswert ist die Geschichte dieser Exilanten und Deportierten, die ab den 1930er-Jahren in mehreren ‚Wellen‘ in die Region Tschebatschinsk geraten und zu Nachbarn und Freunden des Erzählers und seiner Familie werden. Dass die Gefahr der Deportation – ob in die hinterste Provinz, ob in ein Lager – eine weitere alltägliche Selbstverständlichkeit ist, beweist der Umstand, dass der Erzähler in seinem Heimatdorf allein vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ganze sieben Deportationswellen mühelos aufzuzählen in der Lage ist: Auf die Kulaken Anfang der 1930er-Jahren, die – mittellos in der Steppe ausgesetzt – nach nur vier bis fünf Jahren wohlhabender als die Lokalbevölkerung leben („‚Was wollt ihr?’, sagte Großvater, ‚die Blüte des Bauernstandes: Sie können nicht anders als arbeiten‘“), folgen in einer zweiten Welle politisch Unliebsame, Andersdenkende, Opfer der innerparteilichen Säuberungen, Adlige und Intellektuelle; auf diese wiederum folgen aus dem fernen Osten Russlands zwangsumgesiedelte Koreaner, dann die Lagerüberlebenden, die Vertreter der litauischen und polnischen Intelligenzija und schließlich Deutsche von der Wolga. Mitten im Großen Vaterländischen Krieg werden schließlich auch Tschetschenen und Inguschen in die Region deportiert:

„In leichten Lederstiefeln und Jäckchen, die sich, wie Großvater […] bemerkte, einzig zum Tanzen der Lesginka, nicht aber zum Überleben bei einem Frost von Minus 30 eigneten, wurden diese mitten in der nackten Steppe entladen: Der gleich in den ersten Tagen entstandene Friedhof der Neuankömmlinge konnte sich hinsichtlich der Fläche in nur zwei bis drei Jahren mit dem seit über 40 Jahren bestehenden Dorffriedhof messen. Den Erklärungen des NKWD, sämtliche Tschetschenen und Inguschen hätten mit den Deutschen kollaboriert, schenkten die lebenserfahrenen Tschebatschiner keinen Glauben.“

Zugleich wird die Lokalbevölkerung selbst weiter nach Sibirien und die Sibirier wiederum noch weiter in den Osten zwangsumgesiedelt: „Man konnte nur hoffen, dass dahinter jemand Vernünftiger steckte, falls von Vernunft inmitten dieses Wahns überhaupt die Rede sein kann.“

All diesem Wahn zum Trotz ist Verzweiflung weit davon entfernt, den emotionalen Grundton des Romans zu dominieren. Vielmehr erscheint das Werk von zwei Grundstimmungen durchzogen: von Hoffnung und Nostalgie. Hoffnung, da am Beispiel des unbedingten Überlebenswillens einer einzigen Familie deutlich wird, dass der Mensch alles vermag und seiner Kraft keine Grenzen gesetzt sind. Nicht umsonst lautet des Großvaters Lieblingsspruch, den es bei jeder neuen Herausforderung des Lebens, bei jedem neuen Unterfangen, bei jedem Beginnen von vorn zu wiederholen gilt: „Steinzeug wird nicht von Göttern gebrannt.“ Es ist jedoch das alles durchdringende Gefühl der Nostalgie, das den Roman emotional bestimmt. So endet der Seitenblick auf einen verstorbenen Nachbarn, einen Maler, mit dem ‚Ableben‘ seiner Gemälde: „Sie lagen noch lange herum auf dem schlecht isolierten Dachboden. Sie wurden vom Regen begossen, sie verrotteten“. Im Schlusskapitel, das den bezeichnenden Titel „Und sie alle verstarben“ trägt, sinniert der Erzähler darüber, dass von verstorbenen Schauspielern „Filmbilder, die technisch aufgezeichnete Stimme, Photographien, ja zumindest Zeitungsfetzen“ geblieben waren, „[d]och wie stand es um jene, von denen nichts geblieben war?“ Damit wird der Roman in seiner Gesamtheit, ja das ganze literarische Unterfangen Tschudakows quasi nachträglich legitimiert – die Literatur als Mneme erfüllt eine Funktion, sie errettet vor dem Vergessen.

Die so errettete sowjetische Alternativgeschichte, in der Augenzeugen- und Lebensberichte die offizielle Geschichtsschreibung dementieren, in der Kriegshelden entglorifiziert werden (Marschall Schukow als gefürchteter Militär, der keine Menschenleben zählte; Partisanen als Zwangsrekrutierte, die die eigenen Bauern in Schrecken versetzten) und das politische System als ein bloßer, wenn auch ausgeklügelter Mythos durchschaut und enthüllt wird („Das System gründet auf dem Mythos“) weist in ihrer Romanform jedoch allem persönlichen Engagement und all ihrer historischen Bedeutung zum Trotz nicht wenige literarische Mängel auf – und das sowohl auf formaler, das heißt sprachlich-stilistischer und kompositorischer, als auch inhaltlicher Ebene.

So verkommt die Gesamtkomposition – als ein Kaleidoskop aus einzelnen Lebensgeschichten und Kindheitsbeobachtungen konzipiert – im Prozess des Lesens allein ob des der schieren Endlosigkeit und wahllosen Unübersichtlichkeit geschuldeten Romanumfangs zu einer willkürlich anmutenden Anekdotenkompilation. Unter dem Bestreben, alles Erinnerte in einen einzigen Roman zu zwängen, leidet neben der überstrapazierten Form nicht zuletzt auch die Sprache, die immer mehr zur bloßen Mitteilung, zur kunstlosen Aufzählung und überflüssigen Wiederholung des bereits Erzählten herhalten muss. Die großzügige Verwendung nicht selten ungenau zitierter und daher snobistisch anmutender fremdsprachiger Zitate aus dem Französischen oder Deutschen vermag diese Mängel ebenfalls nicht auszugleichen.

Auch die inhaltliche Ebene wartet mit nicht wenigen Irritationsmomenten auf: angefangen bei naiven Verallgemeinerungen („die russische Nahkampftechnik, die bis zu Feldmarschall Saltykow und Generalissimus Suworow zurückverfolgt werden kann, übertrifft an Effektivität all diese[2] Jiu Jitsu, Karate und Wushu“) bis zu befremdlichen interpretatorischen Insinuierungen, die aus der stolzen Position des Überlebenden heraus die Nichtüberlebenden der Schuld an ihrem eigenen Tod bezichtigen: Warum mussten Intellektuelle wie Russlands größte Dichterin Marina Zwetajewa, die in Deportation den Freitod wählte, auch so lebensfremd sein, warum haben diese hungernden Deportationsopfer auch keine Beete angelegt („Er hungere! Wieso bepflanzt er auch nicht etwa 300-400 m² mit Kartoffeln, Kohl und Karotten – bei der vielen unbestellten Erde! Er sei Pädagoge! Das bin ich auch – und muss dennoch mein Klosett selbst putzen“)? Nicht minder verwundernd ist die wenn auch verhalten-positive Schilderung der Kircheneröffnungen in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten, die den Repressionen der orthodoxen Popen in der Familie des Großvaters entgegengehalten werden.

Des idealisierten Großvaters Aussprüche und Meinungsbekundungen werden jedoch nicht nur zur Einschätzung der Historie herangezogen, wo sie ungefiltert wie Gottes Wort stehen gelassen werden. Auch im Bereich der Kunst und Kunsteinschätzung nehmen dessen von keiner Erzählerinstanz hinterfragten Wertungen und Verdikte die Rolle von Axiomen ein, um die Moderne ausnahmslos zu verdammen: „Kunst… Ich las Tschechow, Bunin, ich hörte Schaljapin. Was an Gleichwertigem könnt ihr mir anbieten?“ Des Großvaters dezidiert antimodernistische Rückgewandtheit zeigt sich auch in seiner Gegenüberstellung solcher Meister ihres Handwerks wie des Uhrenmachers Breguet oder des Goldschmieds Fabergé mit der industriellen Warenherstellung, um an diesem Beispiel „Kunst“ von „Fabrik, Masse, Fließband“ scheiden zu können. Derselben Logik folgend, erlaubt sich auch der Erzähler eine seitenlange Schmähung der ‚modernen Wegwerfkultur‘. Die kritiklose Billigung aller großväterlichen Urteile mündet schließlich in des Erzählers ‚Seelenschrei‘: „Großvater, ich habe mich der Sowjetpropaganda nie gebeugt! Hörst du mich? Ich hasse, ich liebe dasselbe wie du. In allem hattest du Recht!“ Der Absolutheitsanspruch dieser Formulierung wird nicht nur dann prekär, wenn der Großvater dem Darwinismus das göttliche Prinzip vorzieht, sondern vor allem im Bereich der Literatur selbst, denn nur wenige Seiten nach dem ‚Seelenschrei‘ findet sich folgendes: „Zeitgenössische Literatur lehnte Großvater insgesamt ab – sowohl russische als auch ausländische. Er sagte, dass das [darin dominierende] Bestreben, Abscheu zu generieren, ja letztendlich den Menschen gänzlich zu erniedrigen, aus der Literatur eines Tages verschwinden werde wie eine Krankheit. Die Literatur werde endlich aufhören, Degenerierte[sic!] und Verwandlungen in Insekten darzustellen, und zu den gewöhnlichen und ewiggültigen Emotionen und Situationen zurückkehren.“ Diesem folgt nur noch der trockene Kommentar des Erzählers, „[v]on allen Großvaters Prophezeiungen“ – darunter unter anderem die Rückkehr zu organischen Düngemittel statt der chemischen – habe sich diese „als einzige nicht bewahrheitet“.

Neben dem Vormarsch der ökologischen Landwirtschaft hat sich eine weitere nicht unwichtige großväterliche Prophezeiung jedoch erfüllen können: „Zum Glauben äußerte sich Großvater selten, zweifelte aber nicht daran, dass dieser nach Russland zurückkehren würde“. Der historische und ideologische Wandel in der russischen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts wird im Roman anhand eines christlichen Kinderliedchens demonstriert: Dessen Vorsingen auf der Neujahrsfeier der Schule wird dem Erzähler in seiner Schulzeit verwehrt, eine Generation später singt seine Tochter das Liedchen verschämt und nur zuhause, die Enkelin des Erzählers kann dasselbe Lied schließlich – von der Lehrerin gebilligt – auf der schulischen Neujahrsfeier vortragen. Doch just dieses Liedchen vermag auch ein Licht darauf zu werfen, warum Tschudakows Roman im heutigen Russland ein derartiger Erfolg beschieden ist. Anders als die Sozialismus-Nostalgiker besingt Tschudakow nicht das ewig Gestrige, sondern das ewig Vorgestrige, das in seinem Heimatland eine ungekannte Konjunktur genießt: angefangen bei dem dezidiert antimodernistischen wie antipostmodernistischen Grundkonsens – zu bestaunen in Moskau am allein ästhetisch gesehen furchterregenden Reiterstandbild Marschall Schukows, der sich an der Architektur des 18. Jahrhunderts orientierenden Neuen Bühne des Bolschoi, dem kolossalen Denkmal für Peter I. oder dem megalomanen Kriegsdenkmal im den Opfern des Großen Vaterländischen Krieges gewidmeten Park Pobedy –, bis zum regen ‚Kirchenfieber‘, das die noch gestern nachweislich atheistischen russischen Bürger wie ihren Präsidenten ergriffen hat und den ehemaligen Moskauer Oberbürgermeister Luschkow nichts Dringenderes finden ließ, als die von den Bolschewiken zerstörte Christ-Erlöser-Kathedrale ungeachtet aller Unsummen wiedererrichten zu lassen. Heute kann ganz Russland leichten Herzens in den Gesang des besagten Kinderliedchens einstimmen.


Literaturhinweis:

Tschudakow, Alexander: Ложится мгла на старые ступени [Lozhit’sia mgla na starye stupeni/Es legt sich Dunkelheit auf alte Stufen].
Moskau: Wremia 2000/2013.
648 Seiten, Deckenband ca. 10 EUR; E-Book ca. 4 EUR
ISBN 978-5-9691-0736-6

[1] Frühere Bezeichnung für den KGB.

[2] Hervorhebung v. Verf.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Kein Bild

Alexander Tschudakow: Lozhit’sia mgla na starye stupeni. [Es legt sich Dunkelheit auf alte Stufen].
Wremia, Moskau 2013.
648 S., 0,00 EUR.
ISBN-13: 9785969107366

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch