Ein Studienbuch?
Barbara Schedl gibt eine Einführung in die „Kunst der Gotik“
Von Ursula Siepe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFür F. S.
Auch für den dreiundzwanzigjährigen Goethe hatte „gotisch“ zunächst noch synonym für alles „Unbestimmte, Ungeordnete, Unnatürliche, Zusammengestoppelte, Aufgeflickte, Überladene“ gestanden. So hatte er in den „allgemeinen Gesang“ eingestimmt, der diese Kunst als „ganz von Zierat erdrückt“ verschmähte. Dann aber stand er vor dem Straßburger Münster und war plötzlich erfüllt von dem „Riesengeist unsrer älteren Brüder“ und von der „Würde und Herrlichkeit“ des Bauwerks. In den „harmonischen Massen, zu unzählig kleinen Teilen belebt“, sah er jetzt „bis aufs geringste Zäserchen, alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen“. Goethes folgenreiches, wenngleich irriges Urteil damals: „Das ist deutsche Baukunst, unsre Baukunst, da der Italiener sich keiner eignen rühmen darf, viel weniger der Franzos“ („Von deutscher Baukunst“, 1772). „Gotik“ als Substantiv und als national wie kunstgeschichtlich übergreifender Stil- und Epochenbegriff sollte sich erst mit dem 19. Jahrhundert herausbilden.
Die Wiener Universitätsdozentin Barbara Schedl hat es nun unternommen, „aus der Perspektive der Kunsthistorikerin und des Kunsthistorikers des 21. Jahrhunderts“ die „stilistische Entwicklung“ der Kunst der Gotik nachzuzeichnen, „bereichert“ durch die Berücksichtigung der „Lebensbedingungen der damaligen Menschen“. Dem Vorwort ist zu entnehmen, dass ihr Buch als Begleitpublikation zu dem entsprechenden Abschnitt der traditionellen viersemestrigen Kunstgeschichtsvorlesung an der Universität Wien zu lesen ist, welche „einen Überblick über das Kunstgeschehen von den Anfängen der christlichen Kunst bis in die Gegenwart“ in „überlieferter, klassischer Form“ anbietet. Der schmale, von Böhlau in Wien verantwortete Band erscheint als einführendes Studienbuch in der UTB-Reihe.
Im Einleitungskapitel verweist die Autorin auf die großen Namen der kunsthistorischen Gotikforschung wie Georg Dehio, Hans Sedlmayr oder Otto von Simson und benennt die grundlegenden wissenschaftlichen Methoden: rationalistisch-bautechnische, formanalytisch-stilkritische, ikonographische und ikonologische, funktions- und mentalitätsgeschichtliche Herangehensweisen. Zugleich bietet dieses Kapitel einen sehr klaren und kondensierten Überblick über die hauptsächlichen strukturellen, zeitlichen und regionalen Aspekte des Phänomens Gotik.
Unter den „Lebensbedingungen“ der Zeit der Gotik führt Schedl im zweiten Kapitel unterschiedliche historische Realien an wie den Aufschwung der Städte, technische Innovationen (etwa der Kran mit Laufrad); die Entstehung der Bettelorden und die Expansion der Zisterzienser; Universitätsgründungen; die Herausbildung der Bauhütten und Spezialisierung der Handwerke, oder auch das Bevölkerungswachstum und hereinbrechende Katastrophen (wie Hungersnöte und die Pest).
Die schwerpunktmäßig kunsthistorische Betrachtung beginnt dann erwartungsgemäß mit Frankreich und Abt Suger und Saint-Denis, mit dem „‚Gründungsbau‘ der gotischen Architektur“: dem „erstmals doppelschiffig angelegte[n] Umgangschor“, in dem die, wie Schedl hervorhebt, bereits bekannten Bauelemente Spitzbogen (Burgund) und Rippengewölbe (Normandie) über unregelmäßigem Grundriss kombiniert werden und so in der Île-de-France die Basis für die Herausbildung der Skelettbauweise legen. In bau- und stilgeschichtlich vergleichender Weise präsentiert die Autorin die Kathedralen von Chartres über Reims und Amiens bis zur Pariser Sainte-Chapelle. Hierbei bietet sie anschaulich Einblicke in die innovativen Arbeiten der in der Zeit der Gotik entstehenden Bauhütten und erinnert an die heute kaum mehr vorstellbare Polychromie gotischer Sakralbauten.
Einem kurzen Abriss zur politischen und wirtschaftlichen Situation Englands folgt die Charakterisierung der drei Stilepochen der englischen Gotik: Early English, Decorated Style, Perpendicular Style, die sich besonders durch ihre vielgestaltigen, fantasievollen Rippengewölbe von den kontinentaleuropäischen Kirchen abhebt. Als weitere Besonderheit vieler englischer Kathedralen, die schon dem Gründungsbau der englischen Gotik, der Kathedrale von Canterbury, eignet, nennt Schedl die langen Chorgrundrisse, die ihren Grund darin haben, dass diese Kathedralen zugleich Abteikirchen waren, also eines zusätzlichen Mönchschors bedurften.
In Italien prägten besonders die Bettelorden, die den Laien – vor dem Lettner notabene – predigen wollten, die Kirchenarchitektur und -ausstattung. Zudem habe der Vorzug geschlossenen Mauerwerks, der dem Klima geschuldet sei, zur Folge gehabt, dass sich in Italien statt der Glas- die Freskenmalerei entwickelt habe. Auch die Profanbauten der italienischen Städte bezieht die Autorin in ihre Betrachtungen ein.
Die territorial-politische Heterogenität im deutschsprachigen Raum spiegelt sich in der Heterogenität dortiger gotischer Baukunst. Ein deutsches Spezifikum ist die Hallenkirche – beispielhaft die Marburger Elisabethkirche, die erste rein gotische Kirche in Deutschland, deren Dreikonchenanlage Schedl in der gleichzeitigen Funktion dieser Kirche als Grablege der hessischen (nicht: thüringischen) Landgrafen und als Pilgerstätte zum Grab der hl. Elisabeth sieht. Im allgemeinen sei der Einfluss französischer Kathedralarchitektur in Deutschland gering gewesen; mit zwei berühmten Ausnahmen: dem Straßburger Münster und dem Kölner Dom.
Die konzise und anschauliche Darstellung gotischer Bauwerke und die Herleitung spezifischer Architekturen aus politischer (Krönungskirche, Grablege) oder liturgischer (Klosterkirche, Bischofssitz) Notwendigkeit sind die unbestreitbaren Stärken dieses Buches.
Leider sind die Ausführungen zur gotischen Skulptur nicht von ebensolcher Prägnanz. Diese Schwäche macht zugleich auf einen eklatanten Mangel des Buches aufmerksam: das Fehlen von Fußnoten, die Hinweise auf weiterführende Literatur geben könnten. Bei diesem vermutlich verlagsseitig gewünschten Verzicht bleibt es der Autorin auch verwehrt, die Quellen, auf die sie sich stützt, präzise zu nennen; so etwa den Beitrag des Marburger Kunsthistorikers Uwe Geese: „Skulptur der Gotik in Frankreich, Italien, Deutschland und England“, dem die Autorin viel zu verdanken hat. Zwar wird unter den Literaturhinweisen zu Kapitel 1 das Buch genannt, in dem sich Geeses Aufsatz findet („Toman, Rolf/Bednorz, Achim, Die Kunst der Gotik. Architektur, Skulptur, Malerei, Köln 1998“), nicht erkennbar ist jedoch, dass es sich um einen Sammel(bild)band handelt, bei dem Toman der Herausgeber und Bednorz der Fotograf ist; der Name Geese aber ist nirgends zu finden. Die Brauchbarkeit der zahlreichen, den einzelnen Buchkapiteln zugeordneten Literaturhinweise ist begrenzt, da sie nicht kommentiert sind.
Die Ausführungen zur Malerei der Gotik im Unterkapitel „Giotto und sein Umfeld – davor und danach“ nehmen vergleichsweise viel Raum im schmalen Band ein, bleiben aber weitgehend – wie die Überschrift – schwer verständlich. Sie enthalten den klassischen Vergleich von Giottos „Madonna Ognissanti“ mit Duccios „Madonna Rucellai“ (heute beide in den Uffizien in Florenz), aber überraschenderweise findet sich in diesem an klassischem „Basiswissen“ orientierten Buch hier nicht der Begriff der „Maniera greca“.
Kurze Ausführungen zur Buchmalerei, zu Altären und Andachtsbildern, zu den „Schönen Madonnen“ und zur Malerei nördlich der Alpen sowie zu den neuen Drucktechniken Holzschnitt und Kupferstich vervollständigen die Präsentation gotischer Kunst. Und doch ist dieses faktenreiche Buch als Einführung in die Kunst der Gotik nicht zu empfehlen, denn zu dem bereits erwähnten Mangel fehlender Belege kommen sachliche Ungenauigkeiten und Fehler, die zumal in einem Lehr- und Studienbuch nicht vorkommen dürfen.
Die Unterscheidung dreier Steinmetzen der Gewändefiguren am mittleren Westportal der Kathedrale von Reims anhand der Betrachtung der Gewandfalten ist lehrreich; doch dieser stilkritischen Analyse entgegen laufen die Bibelkenntnisse der Autorin.
Es heißt: „Die Gewänder legen sich in tief gemuldeten, harmonisch gerundeten Falten (Muldenfaltenstil) um ihre [= Maria und Elisabeth der Heimsuchungsgruppe] Körper und weisen damit auf antike Vorbilder. Im starken Kontrast dazu stehen die Maria der Verkündigung und der hl. Simon aus der Darbringungsszene am linken Gewände.“ – Das linke Gewände ist nicht abgebildet. Sollte der Leser nach dem „hl. Simon“ zum Beispiel im Internet suchen, wird er vergeblich suchen oder in die Irre geführt werden, wenn er nicht besser weiß, dass der „greise Simeon“ bei der Darbringung (oder: Darstellung Jesu im Tempel) gemeint ist.
Auch eine „Jugendgeschichte Christi“ gibt es biblisch nicht, sondern nur die „Kindheit Christi“. Selbst wenn sich der Eintrag „Jugendgeschichte“ bei Dehio findet, so ist er doch nicht richtig. Und bei den Vesperbildern ist der Leichnam Christi durchaus nicht immer – wie bei der beschriebenen Pietà Roettgen – „mit Wunden übersät“.
Eine fehlerhafte Schreibweise wie „Gewandkörperverhältnis“ sollte nicht übersehen werden; unpassende Formulierungen wie: „Der Mittelpfeiler ist mit der lebensgroßen Darstellung des Gekreuzigten geschmückt“, hätten ebenso redigiert werden müssen wie unfreiwillige Komik – „besonders nach ihrem Tod wurde ihre Grabstätte von zahlreichen Pilgern aufgesucht“. Wieder einmal ist ein schlechtes Lektorat zu beklagen.
So finden sich auch Sätze, die mit ihrer Simplifizierung von Kausalitäten befremden: „Die Bildwerke“ – hier handelt es sich um marianische Andachtsbilder in Frauenklöstern – „dienten den Nonnen für private Frömmigkeitsübungen im Sinne einer imitatio Mariae und sie bewirkten visionäre Vorstellungen.“ Oder dem Leser werden Sätze zugemutet wie der folgende: „Die Darstellungen im Baudekor der Kathedralen des 13. Jahrhunderts sind Kennzeichen einer neuen Art der Naturbeobachtung; Einfluss gebend dafür waren die Schriften der Scholastiker, besonders von Magnus [sic!] (De vegetabilibus libri septem) und Thomas von Aquin (De ente et essentia).“ Wie kann es passieren, dass Albertus Magnus nur sein Beiname bleibt? Und was bitte soll der Werktitel „De ente et essentia“ in diesem Zusammenhang; und das alles völlig unkommentiert? Die kunsthistorisch lange und kontrovers diskutierte Frage, ob die Gotik gebaute Theologie ist, wird überhaupt nicht thematisiert; Ideengeschichtliches sucht man in diesem an historischen Daten und Fakten überreichen Buch vergeblich.
Der folgende Exkurs über ein kurzes Unterkapitel zur „Gotik im deutschen Sprachgebiet“ mit der Überschrift „Der Zackenstil“ sei der Rezensentin aus persönlichen Gründen gestattet. Der Zackenstil, ein Übergangsstil von der Romanik zur Gotik, ist zur Gewanddarstellung in der Malerei zu finden. Als „[e]in Hauptwerk des Zackenstils in Österreich“ benennt Barbara Schedl die Wandmalereien in der Bischofskapelle des Doms zu Gurk. Zum ikonografischen Programm heißt es unter anderem: „Ostwand und Seitenwände beziehen sich vorwiegend auf Maria, der [sic] Wegbereiterin Christi“. – Die Gottesmutter Maria hat zahllose Beinamen, aber den – auch gar nicht sinnvollen – der „Wegbereiterin Christi“ gibt es nicht. Vielleicht ist hier Maria als „Hodegetria“, also „Wegführerin“ dargestellt? An dieser Stelle würde eine Abbildung weiterhelfen. Im Vorwort heißt es angesichts der guten Dokumentation der Hauptwerke der gotischen Kunst im Internet: „Dementsprechend ist auch der Abbildungsteil bewusst reduziert gehalten und bildet nur jene Werke ab, die schwer auffindbar sind.“ Leider ist es aber so, dass die meisten der im Buch – in sehr guter Schwarzweiß-Qualität – wiedergegebenen Werke leicht zu finden sind; Abbildungen zur Bischofskapelle in Gurk hingegen weniger. Findet man sie schließlich, kann man feststellen, dass der Madonnentypus nicht der einer Hodegetria ist, sondern Kennzeichen einer Glykophilousa, einer Liebkosenden, trägt. Barbara Schedl beschließt das Kapitel, indem sie noch einmal darauf verweist, dass es sich hier um ein „Hauptwerk des Zackenstils im deutschsprachigen Gebiet handelt“. Unerwähnt hingegen bleibt, dass die besondere kunsthistorische Bedeutung dieser Gurker Madonnendarstellung aus ikonografischer Sicht darin liegt, dass in Gurk der genuine Bildsinn der „Sedes Sapientiae“ (auch „Thron Salomonis“), der sitzenden Muttergottes auf dem von Löwen flankierten Thron, seine seltene und zugleich „ausführlichste Deutung erfuhr“ (LCI). Hinzugefügt sei, dass häufig fälschlicherweise jede thronende Madonna als „Sedes Sapientiae“ bezeichnet wird.
Das knapp einseitige Resümee erinnert in Inhalt und Prägnanz an das vielversprechende Einleitungskapitel und verstärkt somit den Eindruck, dass der Hauptteil doch nicht halten konnte, was die Einleitung versprach. Und so hat sich am Ende der Lektüre nicht nur die Bindung des Buches aufgelöst, sondern ebenso die Hoffnung, eine studientaugliche Einführung in die Kunst der Gotik in Händen zu halten.
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