Körper-‚Wissen‘ und Textnähe

Über den Sammelband „Nachkriegskörper“ von Sarah Mohi-von Känel und Christoph Steier

Von Stephan KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band „Nachkriegskörper. Prekäre Korporealitäten in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts“ der Zürcher Literaturwissenschaftler geht auf eine 2012 stattgehabte Tagung zurück. Er versammelt achtzehn Einzelstudien, die, mit Ausnahme eines Beitrags, Texte aus den deutschsprachigen Literaturen behandeln. Die erste Hälfte des titelgebenden Stichwortes, ‚Nachkrieg‘, wird in den Beiträgen auf die Zeiträume sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg und auf Perioden nach Kriegen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angewendet. Dies generalisiert bereits den Zusammenhang zwischen Kriegseinfluss beziehungsweise -erlebnis und explizit literarischer Körperästhetik, der die Basisfragestellung des Bandes bestimmt. Mohi-von Känel und Steier knüpfen sie in ihrer Einleitung an drei Probleme, die sich im Nachkriegskörper begegneten. Dies seien Nachträglichkeit, Wirklichkeitserfahrung und Unvertretbarkeit, anhand derer noch „das Vermögen literarischer Referenz überhaupt“ zu diskutieren sei. Dem ist im Ansatz eine grundsätzlich gehaltene (vielleicht stellenweise etwas pauschal ausfallende) Kritik an kulturwissenschaftlichen – „das zunehmend Inkommensurable des kulturwissenschaftlichen Körperdiskurses“ – und philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Körper beigegeben, sodass die in „Nachkriegskörper“ vorliegenden Untersuchungen als „nur philologisch“ vorgestellt werden. Diese Präsupposition verspricht für die Einzelstudien Textnähe anstelle von hauptsächlich an theoretischen Fragen interessierten Betrachtungen. Der Anspruch lässt zudem die intensive Behandlung der Literarizität der Texte und ihrer ‚Korporealitäten‘ erwarten.

Die Beiträge sind inhaltlich unter die vier Stichwörter ‚Einschreibungen‘, ‚Unterhandlungen‘, ‚Widerstände‘ und ‚Latenzen‘ geordnet. Offen bleibt, in welcher Relation diese Einteilung zu den drei Begriffen steht, die in der Einleitung für das Konzept ‚Nachkriegskörper‘ als grundlegend bestimmt werden.

Im ersten Abschnitt findet sich etwa Thomas W. Kniesches Aufsatz zu Heinrich Bölls Nachkriegsprosa (unter anderen „Wo warst du, Adam?“ und „Wanderer, kommst du nach Spa…“), der eingehend analysiert, auf welche Weise in Bölls Texten die Formung von Körpern (‚body sculpting‘) dargestellt wird. Weiterhin ist dort auch der aufschlussreiche Beitrag von Matthias Hennig zu Friedrich Dürrenmatts „Winterkrieg in Tibet“ eingeordnet. Hennig zeigt die Dürrenmatt’sche Modellierung des Nachkriegskörpers als neuerlichen Kriegskörper in einem Dritten Weltkrieg und weist nach, in welch engem Zusammenhang körperliche (Kriegs-)Versehrung und Schreibprozess in Dürrenmatts Text stehen. Hierher gehört auch Andrea Schüttes Beitrag zu Ivana Sajkos Roman „Rio Bar“ (2006; Deutsch: 2008), der den Krieg in Kroatien thematisiert. An dem Roman erweise sich (auch an seinem Aufbau), dass der Nachkrieg der ‚eigentliche‘ Krieg sei. Schütte zeigt zudem ausführlich, wie bei Sajko auch der Text als Körper fungiert, sodass ihr Beitrag noch über das Stichwort ‚Einschreibungen‘ hinausweisen dürfte.

Zu den ‚Unterhandlungen‘ gehört Mohi-von Känels Studie, in der die Darstellungen des (durch Krieg deformierten) Gesichts in Texten Erich Kuttners, Joseph Roths und Vicki Baums untersucht werden. Mit dieser Mehrfachperspektive auf das „zeichenhafte Bedeuten“ von Gesichtern gelingt der Autorin eine detaillierte Problematisierung des einzigen immer unbedeckt gezeigten menschlichen Körperteils.

Ähnlich lesenswert sind in diesem Abschnitt Gerhard Scholz’ Artikel zu Ernst Tollers Drama „Hinkemann“, der auf eine spannungsreiche Problematisierung des Nachkriegskörpers als Kriegskörper hinausläuft, und Christoph Steiers fundierte Untersuchung zu Gustav Reglers „Das Ohr des Malchus“, die die Zuverlässigkeit respektive Glaubwürdigkeit der Zeugenhaftigkeit des Körpers diskutiert.

Im Kapitel ‚Widerstände‘ finden sich gleich zwei Studien zu Bernward Vespers „Die Reise“, von Christian Sieg und Julian Reidy. Sieg weist für diesen Text die diffizile Verfassung von (korpo-realer) Autorschaft nach, Reidy rekurriert  auf die an der Körperlichkeit ablesbare (gewollte und gescheiterte) Identitätsbildung bei Vesper, die zugleich autotherapeutisch angelegt ist. Zu ‚Widerstände‘ steuern Jenny Willner und Luisa Banki noch jeweils einen Artikel über Peter Weiss bei – Willner zum Psychosomatischen in der „Ästhetik des Widerstands“ und Banki über den Kurzroman „Der Schatten des Körpers des Kutschers“.

‚Latenzen‘ schließlich umfasst etwa Tobias Schmidts kundigen Beitrag zu Thomas Hettches „NOX“, mit dem das Konzept ‚Nachkriegskörper‘ anhand eines Textes expliziert wird, dessen historisches Setting das sogenannte Ende der Nachkriegszeit darstellt. Schmidt bietet eine von Bachtin inspirierte Lesart an, die das Groteske der Hettche’schen Körperpoetik pointiert herausarbeitet. „These were acts of war“, hatte George W. Bush seinerzeit die Anschläge auf New York und Washington D.C. am 11.09.2001 kommentiert. Insofern lässt sich nach dem literarisierten ‚Nachkriegskörper‘ auch mit Blick auf 9/11 fragen. Simone Sauer-Kretschmer tut dies in ihrem Aufsatz, der einen Überblick über verschiedene (korporeal inspirierte) literarische Darstellungen im Nachgang zu den Terroranschlägen bietet.

Nachteilig ist, dass angesichts dieser Bandbreite an Studien jegliches Beispiel aus der DDR-Literatur fehlt, und dies obwohl ohne Einschränkung von ‚der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts‘ und einem „Zeitraum wie ‚Nachkrieg‘“ die Rede ist. Sollte dies schlicht an der durch die eingegangenen Beiträge bestimmten Auswahl gelegen haben, wäre diese klaffende Leerstelle in dem sonst spannenden Konferenzband wenigstens seitens der Herausgeber zu thematisieren gewesen.

Titelbild

Christoph Steier / Sarah Mohi-von Känel (Hg.): Nachkriegskörper. Prekäre Korporealitäten in der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2013.
250 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783826048739

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