Gewogen und zu leicht befunden

Neues vom „Tolstoi Transsilvaniens“: Der zweite Teil von Miklós Bánffys meisterhafter „Siebenbürger Geschichte“ ist erschienen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die erste Hürde: die Namen der vielen Figuren. Für deutschsprachige Leser sind sie so unaussprechlich wie exotisch: ein Zsigmond hier, ein Pityu da, und dazu noch Laji, Gazsi, Dezső, Boldizsár und so weiter. Die zweite Hürde: gleich zu Beginn seitenlange Schilderungen einer Parlamentsdebatte und der verworrenen politischen Entwicklungen und Nationalitätenkonflikte in Ungarn und Siebenbürgen vor 1914. Und das heute, wo sich viele Leser schon von der Politik ihrer eigenen Zeit abwenden – und Siebenbürgen auf der literarischen Weltkarte allenfalls als Transsilvanien, der „jenseits der Wälder“ befindlichen Heimat Draculas, vermerkt ist.

Sperriger als Miklós Bánffys 600-Seiten-Wälzer „Verschwundene Schätze“ aus dem Jahr 1937 kann ein Roman wohl kaum beginnen. Zumal es sich auch noch um das Mittelstück einer Trilogie handelt. Andreas Oplatka hat ihn, wie schon den ersten Band „Die Schrift in Flammen“ (2012), erstmals ins Deutsche übersetzt und mit einem kenntnisreichen Nachwort versehen. Bánffys „Siebenbürger Geschichte“ ist ein Epochenpanorama, das die zehn Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wiederauferstehen lässt. Sie erschien von 1935 bis 1940 in Ungarn und wurde rasch vergessen. Nicht zuletzt, weil Bánffy, 1873 in Klausenburg geboren und 1950 in Budapest verarmt gestorben, als schreibender Aristokrat im kommunistischen Ungarn ins politische Abseits geriet. Wo sich seine Heimat Siebenbürgen seit jeher befand – vor 1914 äußerster Osten der ungarischen Reichshälfte Kakaniens, später Teil Rumäniens, dann wieder Ungarns, schließlich und bis heute wieder Rumäniens.

Wer diese „Verschwundenen Schätze“ aber entdecken will, wird reich belohnt. Unheimlich nahe etwa muten manche der politischen Exkurse über die Jahre 1906 bis 1909 an, mit denen Bánffy den Doppelplot um seine tragischen Helden Bálint Abády und László Gyerőffy immer wieder unterbricht: Ein internationales Finanzhaus, das mit billigen Krediten Regierungen verführt und Volkswirtschaften ruiniert. Die immer stärker werdenden zentrifugalen Kräfte in der Donaumonarchie. Und nicht zuletzt eine politische Klasse, die sich im Parlament gegenseitig blockiert und auf dem davor befindlichen Korridor in kleinliche Prestigekämpfe verstrickt.

Und die Namenshürde ist schnell genommen, so nachhaltig ist der Erzählsog dieses großartig komponierten historischen Romans. Wie geschrieben als Vorlage für ein Filmepos, schwelgt er nur so in farbenprächtigen Bildern und der Darstellung hinreißender Figuren. In den süffig zu lesenden Beschreibungen von Landschaften, Schlössern, den bunten Gewändern der Landmädchen und prächtigen Gespannen am „Hubertustag“, in der Schilderung eines Wohltätigkeitsbasars, einer nächtlichen Serenade mit Zigeunerkapelle für die Liebste oder der längsten Hasenjagd der Saison lässt Miklós Bánffy eine untergegangene Epoche mit all ihrem Pomp wiederauferstehen.

Es sind die Eliten Siebenbürgens, deren historisches Versagen Bánffy in den Jahren vor 1914 als Graf, Großgrundbesitzer und Mitglied des ungarischen Parlaments genau studiert hatte – und deren Bilanz „aus lauter Versäumnissen“ bestand. „Die Leute lasen die Auslandsnachrichten, als liefe vor ihnen ein noch nicht einmal besonders interessanter Film ab; als wäre alles eigentlich unwirklich, als spielte alles – wie auf der Leinwand im Kino – auf einer einzigen Ebene“, heißt es einmal angesichts des immer lauter werdenden Säbelrasselns der Großmächte. Unter dem alttestamentarischen Motto „gezählt, gewogen, zu leicht befunden und zerteilt“ wollte Bánffy mit seinem Epos ein Mahnmal für künftige Generationen errichten.

Auch Bálint Abády, das literarische Alter Ego des Autors, bewegt sich lange wie ein „Nachtwandler“. Dass der liberale Idealist aus seinem weltpolitischen Schlummer doch noch erwacht, liegt an der Begegnung mit einem dämonischen Berater des Thronfolgers Franz Ferdinand, der von einem Präventivkrieg gegen Italien träumt. Im Übrigen aber ist Bálint wie schon im ersten Teil vor allem mit seiner Liebe zur verheirateten Adrienne beschäftigt, die überraschend neu entflammt. Diesmal aber möchte Bálint dem für beide unwürdigen Zustand ein Ende machen, setzt die Geliebte unter Druck, sich scheiden zu lassen, ist sogar bereit, mit seiner Mutter, die Adrienne hasst, zu brechen und auf sein Erbe zu verzichten – sieht aber nicht, wie ausweglos Adriennes Situation an der Seite ihres dem Wahnsinn verfallenden Mannes tatsächlich ist. So endet der zweite Teil wie der erste mit einem Liebesverzicht – während zugleich Bánffys zweiter Protagonist, Balints Cousin László als verschuldeter Musiker seinen Weg der Selbstzerstörung fortsetzt und dabei aus gekränktem Narzissmus jede Hilfe, gerade auch von weiblicher Seite, verschmäht.

Bánffys „Siebenbürger Geschichte“ wurde erst vor wenigen Jahren als bislang unbekannter Klassiker des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt. Die häufig zu lesenden Vergleiche mit Robert Musil oder Thomas Mann gehen jedoch fehl, da Bánffys Trilogie mit ihrer streng linearen Erzählweise, Figurenpsychologie und von keinerlei Sprachzweifel angekränkelten Erzählfreude eher ins 19. Jahrhundert gehört; nicht ohne Grund nannte man den Autor den „Tolstoj Transsilvaniens“. Nicht in seinen ästhetischen Mitteln liegt das verbindende Moment zu einem Musil oder Joseph Roth – wohl aber am Thema, das heute, man denke nur an Florian Illies’ Bestsellererfolg „1913“, verstärktes Interesse findet: das einer um sich selbst kreisenden und dabei schnurstracks auf die Urkatastrophe ihres Jahrhunderts zusteuernden Gesellschaft.

Titelbild

Miklós Bánffy: Verschwundene Schätze. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Andreas Oplatka.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2013.
576 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-13: 9783552055964

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