Ein Leben zwischen den Revolutionen

Über Monika Fink-Langs Biografie des Joseph Görres

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung geboren, im Schatten der Französischen Revolution und an der Schwelle zu einer weiteren Revolution gestorben. In dieser Spanne zwischen den Revolutionen, von 1776 bis 1848, lebte Joseph Görres. Dass die Eichstätter Historikerin und Mitarbeiterin an der Edition von Görres’ Gesammelten Schriften Monika Fink-Lang nun eine dem Stand der Forschung entsprechende, umfassende Biografie dieses schillernden Autors vorlegt, muss man als solches bereits als unbedingt anzuerkennendes Verdienst einschätzen. Trotz einiger jüngerer Forschungsarbeiten zu Görres fehlte ein solches Werk bislang (wenigstens in deutscher Sprache), eine Lücke, die Fink-Lang mit ihrem chronologisch nach den Lebensphasen aufgebauten, insofern narrativ und auch methodisch im besten Sinne konventionell angelegten Buch, auszufüllen vermag.

Wenn der Verlag Ferdinand Schöningh den Leser des Bandes dazu auffordert, mit Görres nun „einen der einflussreichsten Publizisten und Denker des 19. Jahrhunderts wiederzuentdecken“, so ist ihm uneingeschränkt zuzustimmen. Dies gilt zumal angesichts der Tatsache, dass Görres in seiner ihm eigenen Streitbarkeit und einem an Wendungen und Wandlungen nicht armen Lebensweg aus heutiger Perspektive eher im Schatten seines Nachlebens als Protagonist eines politisch wie kulturell selbstbewussten deutschen Katholizismus zu stehen scheint.

Joseph Görres wird 1776 in Koblenz geboren, seine geistige Entwicklung steht durch seinen Besuch des Gymnasiums der Stadt früh im Zeichen der Aufklärung und einer Distanz zum Ancien Régime, die ihn sein Leben lang begleiten wird. Der junge Görres verfolgt die Entwicklungen in der Folge der Französischen Revolution mit Begeisterung und begrüßt so auch die Besetzung seiner Heimatstadt durch die Franzosen während des ersten Koalitionskrieges 1794. Sein Engagement für eine Cisrhenanische Republik und dann auch für die französische Annexion der linksrheinischen Gebiete wird allerdings desillusioniert, nicht nur durch sein Bewusstsein einer nicht ohne Weiteres zu überbrückenden kulturellen und nationalen Differenz zwischen Deutschen und Franzosen, sondern auch durch den Staatsstreich Napoleons, der für ihn das Scheitern der Revolution dokumentiert. In den Jahren nach 1800 vertieft sich Görres als Sekundarschullehrer in Koblenz in naturwissenschaftliche und naturphilosophische Studien, und 1801 heiratet er Katharina von Lassaulx, die ihm auch zu einer Geistesgenossin wird. Durch sie gewinnt er, der aus einem einfachen bürgerlichen Elternhaus stammt, Zugang zur Koblenzer Gesellschaft und lernt so den um etwa drei Jahre jüngeren Clemens Brentano kennen.

In Görres’ Leben wechseln sich Phasen intensiverer publizistischer Aktivität mit solchen relativer Zurückgezogenheit in seine Studien, die sich anfangs naturwissenschaftlich, später immer mehr historisch orientieren, ab. In den Jahren zwischen 1806 und 1808 lebt Görres dank seiner Kontakte in Heidelberg, wo er zu einem Mittelpunkt des dortigen Romantikerkreises wird – im Gegensatz zu Brentano und Achim von Arnim, zu denen er seit dieser Zeit eine enge Freundschaft pflegt, lebt er in diesen Jahren dauerhaft in der Universitätsstadt. Er wirkt an Arnims „Zeitung für Einsiedler“ mit, schreibt mit Brentano die „Wunderbare Geschichte von BOGS dem Uhrmacher“ und beteiligt sich in seinen „Teutschen Volksbüchern“ an der Suche der Romantiker nach einem geistigen Wurzelgrund der deutschen Nation im Mittelalter. Auch hat er teil an den wechselseitigen Fehden der Romantiker mit einer rationalistisch-klassizistischen Partei, die sich in Heidelberg um Johann Heinrich Voß formiert.

Dem folgen für Görres weitere Jahre als Lehrer im ungleich provinzielleren Koblenz. Erst mit der Befreiung der Stadt aus französischer Herrschaft Anfang 1814 katapultiert er sich schlagartig in den Mittelpunkt der zeitgenössischen Publizistik. Kaum drei Wochen nach der Befreiung der Stadt begründet er den „Rheinischen Merkur“, der in den zwei Jahren seines Bestehens zur einflussreichsten Zeitung Deutschlands werden sollte. Anfänglich mit Unterstützung der preußischen Regierung, die ihm zugleich das Amt eines Direktors des öffentlichen Unterrichts im mittelrheinischen Generalgouvernement überträgt, schreibt er gegen das napoleonische Frankreich an. Doch tritt er ebenso entschieden für die Pressefreiheit und für eine Wiedererrichtung eines ständisch gegliederten deutschen Reiches ein. Dem folgt für ihn angesichts der Friedensverträge und der Ergebnisse des Wiener Kongresses die Enttäuschung auf dem Fuße, und er bringt sich mehr und mehr in Konflikt mit den deutschen Fürsten und schließlich auch der preußischen Regierung, die Anfang 1816 die Einstellung der Zeitung anordnet. Zugleich findet er sich intellektuell zwischen den Stühlen wieder: Seine ständischen Gesellschaftsvorstellungen sind den Liberalen nicht vermittelbar, während ihn zugleich sein regierungskritisches Auftreten und seine radikale Vergangenheit in den Augen der Konservativen verdächtig machen. Seine 1819 binnen weniger Wochen verfasste Schrift „Teutschland und die Revolution“, inhaltlich ein dieser Mittelposition durchaus entsprechendes Werk, führt schließlich zum offenen Konflikt. Das Buch wird beschlagnahmt und schließlich wird im Sinne der Karlsbader Beschlüsse gar Haftbefehl gegen Görres erlassen, dem dieser sich nur Hals über Kopf durch Flucht nach Straßburg – ausgerechnet nach Frankreich – entziehen kann. Die Jahre des Exils in Straßburg und in der Schweiz bedeuten für Görres zunächst eine finanziell und geistig schwierige Zeit – seine Papiere und seine Bibliothek wurden daheim beschlagnahmt –, doch kann er sich auf die Hilfe von Freunden und seiner Familie verlassen. Abgesehen von seinen mythengeschichtlichen Studien – die Arbeit an einer großen geplanten „Sagengeschichte“ wird jedoch 1824 abgebrochen – und einigen politischen Interventionen fällt in diese Jahre des Exils der Anfang von Görres’ Engagement für die katholische Sache. Ab 1824 wird er Mitarbeiter der Zeitschrift „Der Katholik“. Im Gegensatz zu einem früheren überkonfessionellen Standpunkt nimmt Görres nun dezidiert eine katholisch-kirchliche Position ein – von einer grundsätzlichen Veränderung in seiner Religiosität lässt sich allerdings nicht sprechen. Hatte er jedoch die katholische Kirche früher noch in ihren politischen Ansprüchen und in ihrer Haltung an der Seite des Ancien Régime attackiert, so nimmt er sie nun gegen die Aufklärung ebenso in Schutz wie gegen antikatholische Vorbehalte auf protestantischer Seite und gegen eine Marginalisierung zumal der rheinischen Katholiken innerhalb Preußens.

Im Jahr 1827 hat Görres’ Exil ein Ende, da er durch den neuen bayerischen König Ludwig I. an die von Landshut nach München verlegte Universität berufen wird. Die verbleibenden Jahre seines Lebens verbringt Görres überwiegend in der bayerischen Hauptstadt; seine rheinländische Heimat sieht er hingegen niemals wieder. Mit seinen Vorlesungen und Publikationen, besonders durch sein vierbändiges Werk über „Die christliche Mystik“ (1836-1842), rückt er in den Mittelpunkt eines nun katholisch-konservativen Intellektuellenkreises, zu dem etwa Johann Nepomuk Ringseis gehört, ferner der spätere scharfe Gegner des Ersten Vatikanischen Konzils Ignaz Döllinger und auch Clemens Brentano, welcher ab 1833 in München lebt. Trotz einiger Intrigen handelt es sich für Görres um die Zeit seines Lebens, in der seine Stellung am sichersten ist, nicht zuletzt dank der Gunst des Königs, der in Bezug auf den Katholizismus eine restaurative Politik verfolgt. Görres bezieht nun deutlich Position gegen Säkularisierung und Liberalismus, aber auch gegen Forderungen nach einer Trennung von Kirche und Staat, wie sie auf katholischer Seite etwa durch Felicité de Lamennais vorgebracht werden. Seine „Christliche Mystik“ mit langen Ausführungen über Wunder, Stigmatisationen und dämonische Erscheinungen bedeutet gleichwohl eine Provokation auch für seine Anhänger und Freunde, sie ist nicht zuletzt aber wohl auch eine kalkulierte Provokation wider den Zeitgeist. Bei allem Eintreten gegen antikatholische Polemiken und gegen einen vermeintlichen Ultramontanismus vertritt Görres selbst doch eine vergleichsweise maßvolle Position innerhalb der katholischen Fraktion. Insbesondere teilt er, der sich sein Leben lang für Religionen und Mythen aller Kulturkreise interessiert hatte und sich in persönlichen Beziehungen und Freundschaften nie von konfessionellen Grenzen einschränken ließ, viele der antiprotestantischen oder auch antijüdischen Ressentiments sowie die Engherzigkeit nicht, die in seinem Umfeld häufig in reaktionärer Form präsent sind. Freilich ist auch das Bayern Ludwigs I. längst kein rein katholisches Land mehr, nicht jeder polemische Angriff auf die andere Konfession ohne Weiteres möglich, etwa in der zu dieser Zeit gerade im katholischen Lager heftig diskutierten Frage der gemischtkonfessionellen Ehe – wo selbst der König einer solchen entstammte und seinerseits in einer solchen lebte.

Im Zusammenhang mit der politischen Relevanz dieser konfessionellen Streitfragen steht auch das sogenannte Kölner Ereignis, dessen publizistische Konsequenz Görres in Gestalt seiner Streitschrift „Athanasius“ (1838) auf den Höhepunkt seines Einflusses im katholischen Deutschland bringt – und 1839 zu seiner persönlichen Nobilitierung durch Ludwig I. führt. Görres’ Intervention auf Seiten des von der preußischen Regierung inhaftierten Kölner Erzbischofs Droste zu Vischering wirkte gleichsam als ein Appell an das Selbstbewusstsein der deutschen Katholiken und wurde retrospektiv häufig wie eine Gründungsschrift des politischen Katholizismus in Deutschland verstanden. Inhaltlich fordert Görres im „Athanasius“ eine Gleichstellung der Konfessionen und die Freiheit der Religion von staatlicher Einflussnahme – freilich nicht im Sinne einer liberalen Trennung von Staat und Religion, insofern der Staat innerhalb seiner Sphäre selbstverständlich auf christlichen Grundlagen beruhen sollte. Als Joseph Görres dann am 29. Januar 1848 stirbt, wenige Tage nach seinem 72. Geburtstag, ist es freilich schon nicht mehr nur der Liberalismus, der die katholisch-konservative Position bedroht, sondern auch ein aufkommender sozialistischer Radikalismus, den Görres noch zur Kenntnis nimmt. Die Abdankung Ludwigs I. hingegen und die revolutionären Ereignisse von 1848 erlebt er nicht mehr.

Monika Fink-Langs Biografie verbindet die Darstellung von Lebensweg und Werk von Joseph Görres in sehr überzeugender Weise, gerade auch im Hinblick auf deren Verknüpfung mit geistesgeschichtlichen und persönlichen Bezügen, in denen Görres stand beziehungsweise auf die er selbst einwirkte. Gleichwohl bleibt etwas im Unklaren, wonach man angesichts der Wendungen und Wandlungen des Joseph Görres unweigerlich fragen muss, nämlich das Verhältnis von Elementen der Kontinuität und Diskontinuität in seiner Biografie: Was verbindet den revolutionsbegeisterten Görres der 1790er-Jahre, den für ein geeintes Deutschland eintretenden Görres des „Rheinischen Merkur“ und den katholischen Görres miteinander? Zweifellos ist es, wie die Autorin in ihrem Vorwort feststellt, „der Glaube an den Fortschritt der Menschheit, das unbedingte Bekenntnis zu Recht und Gerechtigkeit und die Aversion gegen jede Art von Despotismus“. Und eine kompromisslose Streitbarkeit für das, „was er als wahr und richtig zu erkennen glaubte, mit dem Selbstbewusstsein eines geborenen Vordenkers und eines hellsichtigen Propheten“, mit dem er immer wieder auch Anstoß erregen musste, wenn er auch auf allen Seiten stets verhältnismäßig maßvolle Positionen wählte. Das ist gewiss nicht wenig Kontinuität für ein Leben.

Eindeutige Frontlinien, die man gerne ziehen würde, zwischen kosmopolitischen und national bewegten Intellektuellen, zwischen rheinisch-süddeutschen Katholiken und preußischen Protestanten, zwischen Konservativen und Liberalen sind, und dies bestätigt Görres’ Biografie einmal mehr, kaum je in ganzer Klarheit gegeben. Sein seit seinem Straßburger Exil gewachsenes katholisch-konfessionelles Bewusstsein, welches seine Frau übrigens nicht in Gänze nachzuvollziehen vermochte, verdankt sich wohl zu einem guten Teil seiner Begeisterung für das Mittelalter als einer Zeit, in der ein gemeinsamer christlicher Glaube das deutsche Volk geeint habe. Vorhaltungen gegenüber den deutschen Katholiken ob ihrer vermeintlichen nationalen Unzuverlässigkeit musste Görres daher umso mehr mit Ablehnung begegnen, verstand er doch nicht zuletzt die Reformation als jenen historischen Einbruch, welcher die Einheit der deutschen Nation jenseits ihrer politischen Verfassung erst infrage gestellt habe. Die Hoffnung auf eine politische und moralische Erneuerung Deutschlands verwies für Görres insofern auf eine religiöse und sittliche Erneuerung – einer Erwartung, in der er am Ende seines Lebens den Idealen der Aufklärung, mit denen er aufgewachsen war, im Grunde so fern nicht stand. Sollte eine Wiederentdeckung von Görres also notwendig sein, auch um einen vernachlässigten Aspekt konfessionell geprägter Geistesgeschichte wieder nachzuvollziehen, so ist ein Blick in diese Biografie auf jeden Fall zu empfehlen.

Titelbild

Monika Fink-Lang: Joseph Görres. Die Biografie.
Schöningh Verlag, Paderborn 2013.
384 Seiten, 36,90 EUR.
ISBN-13: 9783506777928

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