Der alte Löwe leckt Blut: August 1914
Max Weber und der Erste Weltkrieg
Von Dirk Kaesler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHeute wissen wir, dass nicht alle Menschen in Deutschland am 1. August 1914, an dem das Deutsche Reich den Krieg gegen Russland erklärte, in taumelnden Jubel verfielen. Insbesondere auf dem Lande war die Stimmung schon bei Kriegsbeginn eher gedrückt als aufjubelnd. Am Sonntag, dem 2. August 1914, waren viele Kirchen so überfüllt wie sonst nur an hohen Festtagen, man sah eher weinende Frauen und Kinder auf den Kirchenbänken. Still und gedrückt gingen die meisten Menschen wieder nach Hause, in Sorge um ihre Söhne, Verlobten, Männer, Väter und Großväter. Auf dem Lande waren spätestens am Weihnachtsfest des Jahres 1914 alle Ansätze euphorischer Kriegsstimmung erloschen, nach nur fünf Monaten gab es Gefallene, Verletzte und Vermisste mehr als genug. Die Hoffnung auf ein schnelles, siegreiches Ende des Krieges war passé. Die einfachen Leute, deren Männer und Söhne wie in jedem Krieg den größten „Blutzoll“ – wie die „besseren“ Kreise das gerne nannten – entrichteten, hatten sehr bald genug vom Großen Krieg. Sie hatten genug von Tod und Trauer, genug von Mangelwirtschaft und Abgabepflicht. Sie wollten in Frieden und bescheidenem Wohlstand leben und ihre Ruhe haben. Und doch: Als treue Untertanen wollten auch sie ihre Pflicht tun. Darum trugen sie ihr Schicksal, darum gingen sie nicht auf die Barrikaden. Aber deswegen musste man auch nicht unbedingt Hurra schreien, weder am Anfang und erst recht nicht am Ende des Krieges.
In den großen Städten Deutschlands, und vor allem in Berlin, sah das ganz anders aus. Dort spielten sich jene Szenen ab, die das kollektive Gedächtnis bis heute gespeichert hat: Menschenmassen auf den Straßen und um die Bahnhöfe, die den blutjungen Soldaten Blumen, Girlanden und Sprüche zuwarfen wie: „Giftwagen für Russland, täglich frische Engländer und Franzosen zu Einkaufspreisen.“
In der Universitätsstadt Heidelberg herrschte unter Akademikern, den Studenten wie den Professoren, ähnliche Kriegsbegeisterung wie in Berlin. Und im Hause Ziegelhäuser Landstraße 17 ganz besonders, wie Marianne Weber notiert: „Die Stunde ist da und von ungeahnter Erhabenheit. […] eine Stunde höchster Feierlichkeit – die Stunde der Entselbstung, der gemeinsamen Entrückung in das Ganze. Heiße Liebe zur Gemeinschaft zerbricht die Schranken des Ich. Sie werden eines Blutes, eines Leibes mit den andern, zur Bruderschaft vereint, bereit, Ihr Ich dienend zu vernichten.“ Seit 30 Jahren hatte Max Weber keine Uniform mehr getragen, nun endlich durfte er sie anziehen. Es war Krieg. Der Offizier der Reserve zog in den Kampf.
Aus der Feder von Berta Lask verfügen wir über eine sehr viel weniger sentimentale Reportage über jene famosen Tage am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Hause Weber. Mit ihrem Roman „Stille und Sturm“ über die Heidelberger Kreise Max Webers wollen wir uns in das Haus Ziegelhäuser Landstraße 17 versetzen, wobei wir die „Klarnamen“ verwenden: „Max Weber hatte mit leidenschaftlicher Anteilnahme die Vorgänge nach dem Attentat von Sarajewo verfolgt. Er war sich von Anfang an darüber im klaren, daß England nicht neutral bleiben würde. Mit Entsetzen sah er diese Entwicklungen, sah er das Hineingleiten Deutschlands in einen Krieg mit übermächtigen Gegnern.“ Berta Lask schildert die Begegnung Max Webers mit einem jungen Sozialdemokraten, der ihn besucht und dem er – nachdem er ausruft: „Es wäre ein Verbrechen, uns in eine militärische Auseinandersetzung zu verwickeln. Der Krieg läßt sich vermeiden“ – seine Vision einer deutsch-englischen Weltdurchdringung bei gleichzeitiger innerer Demokratisierung Deutschlands nach englischem Muster erläutert. Der Besucher ist entsetzt, beschimpft ihn als „Edel-Imperialisten“, als „Phantasten“ und als „Don Quichote“: „Sie phantasieren von Freiheit im Innern durch Demokratie nach englischem Muster zu einer Zeit, da die bürgerliche Demokratie längst entartet ist und Herrschaft des Finanzkapitals bedeutet.“ Auch Berta Lask zeichnet das Bild eines Zerrissenen, eines Mannes, der zwischen allen Stühlen sitzt, der gegen die Alldeutschen ebenso wettert wie gegen die Sozialisten, der sich in wilden Wutausbrüchen gegen die „dilettantischen Politiker“ ergeht, der über den Kaiser – diesen „Fatzke“ – tobt und der Generalität und Diplomaten beschimpft.
Dessen ungeachtet meldet sich am 2. August 1914 der Premierlieutenant der Reserve, Max Weber, freiwillig beim Garnisonskommando Heidelberg. Der 50-Jährige wird als zu alt und körperlich untauglich für den unmittelbaren Kriegseinsatz eingestuft und darum als militärisches Mitglied an die Reserve-Lazarettkommission Heidelberg abgeordnet. Von nun an oblag ihm der sofortige Aufbau mehrerer Reservelazarette. Zunächst ohne ausreichendes Personal musste er – unterstützt von befreundeten Kollegen, vor allem dem Psychiater Hans Walter Gruhle und dem Anatom Hermann Braus – zügig und weitestgehend improvisiert handeln, um innerhalb der folgenden zehn Tage die ersten Verwundeten aufnehmen zu können. Bereits am 18. August 1914 berichtet Marianne Weber an die Schwiegermutter in Charlottenburg, dass vier Lazarette fertiggestellt seien und der erste Transport französischer Verwundeter seit vorgestern aufgenommen worden sei. Nachdem im Laufe der anschließenden Wochen weitere Lazarette in Heidelberg eingerichtet waren, deren Verwaltung Max Weber zu verantworten hatte, konzentrierte sich seine Tätigkeit als „Disziplinaroffizier“ vor allem auf die Durchsetzung von Disziplin und Ordnung in „seinen“ Lazaretten. Zudem unterrichtete er dort – zusammen mit zahlreichen Mitgliedern des Lehrkörpers der Heidelberger Universität und einigen Volksschullehrern – die Verwundeten in diversen allgemeinbildenden Fächern.
Weitgehend ungerührt vom menschlichen Elend, mit dem Max Weber in der Erscheinungsform schwer verwundeter und sterbender deutscher und französischer Soldaten täglich konfrontiert war, jubelte er geradezu über diesen Krieg, wie sein Brief an Karl Oldenberg vom 28. August 1914 – „Denn einerlei was der Erfolg ist, – dieser Krieg ist groß und wunderbar“ – belegt. Hatte er noch am 27. Juli 1914 – vier Tage vor Kriegsbeginn – an den Verleger Paul Siebeck geschrieben: „ich bin seit 2 Monaten sehr schlechter Gesundheit […] Wann ich endlich wieder arbeiten kann, weiß ich nicht“, so erwachen nun ganz offensichtlich alle seine Kräfte, wie etwa der mit Max Weber befreundete Heidelberger Kunsthistoriker, Carl Neumann, registriert: „Es war, wie wenn ein alter Löw, der das Reißen schon fast verlernt hat, plötzlich wieder zu Sprung und Schlag ansetzt und vollends zum Menschenfresser wird, wenn er erst einmal gehörig Blut geleckt hat.“ In seinem Brief an den Kieler Kollegen Ferdinand Tönnies vom 15. Oktober 1914 wird Max Weber deutlich: „Dieser Krieg ist bei aller Scheußlichkeit doch groß und wunderbar, es lohnt sich, ihn zu erleben – noch mehr würde es sich lohnen, dabei zu sein, aber leider kann man mich im Feld nicht brauchen, wie es gewesen wäre, wenn er rechtzeitig – vor 25 Jahren – geführt worden wäre.“
Seit der Kriegserklärung des Deutschen Reiches sehen wir vor uns nicht mehr den nervösen Briefschreiber, sondern den uniformierten Premierleutnant Weber – Beförderung zum Hauptmann der Landwehr zum 27. Januar 1915 –, den Disziplinaroffizier in der Reserve-Lazarettkommission beim Bezirks- und Garnisonskommando Heidelberg, der in dieser Eigenschaft für 42 ihm unterstellte Lazarette die militärische und vor allem auch wirtschaftliche Verantwortung trägt. Zahlreiche Briefe sowohl an Familienmitglieder als auch an Bekannte und Kollegen belegen, wie tief ihn die Verweigerung der Kämpferrolle kränkte, gerade im Vergleich zu seinen vier Brüdern, wie er seiner Mutter am 24. April 1916 schreibt: „Es ist ja doch eine eigentümliche Lage: ich glaube, von allen Deinen Söhnen hatte ich die stärksten angeborenen ‚kriegerischen’ Instinkte, und da ist es eine schiefe und unbefriedigende Lage, jetzt nicht brauchbar zu sein für Das, was in erster Linie not thut, und dann nicht einmal eine wirklich ausfüllende und zweifellos nützliche Verwendung finden zu können.“ Wirklich „nützlich“ wäre ihm wohl allein ein direkter militärischer Einsatz erschienen. Dass er dabei hätte gegen Franzosen kämpfen – und diese möglicherweise töten – müssen, scheint ihn dabei nicht sonderlich bekümmert zu haben. Gerade erst vier Jahre zuvor hatte er – auf dem „Ersten Deutschen Soziologentag“ im Jahr 1910 – über sich selbst gesagt: „Meine Herren, würde man unter ‚Rasse’ […] das verstehen, was der Laie darunter üblicherweise sich denkt: in Fortpflanzungsgemeinschaften gezüchtete erbliche Typen, dann wäre ich in ganz persönlicher Verlegenheit; ich fühle mich nämlich als Schnittpunkt mehrerer Rassen oder doch ethnischen Sondervolkstümer und glaube, es gibt in diesem Kreis sehr viele, die in ähnlicher Lage wären. Ich bin teils Franzose, teils Deutscher, und als Franzose sicher irgendwie keltisch infiziert. Welche dieser Rassen – denn man hat auf die Kelten die Bezeichnung ‚Rasse’ angewendet – blüht denn nun in mir, resp. muß blühen, wenn die gesellschaftlichen Zustände in Deutschland blühen, resp. blühen sollen?“
In dieser Situation seines geliebten Vaterlandes empfand Max Weber sich ganz offensichtlich ausschließlich als Deutscher, der zu seinem großen Schmerz nicht auf französische Soldaten schießen durfte, im Gegensatz zu vielen Männern in seiner unmittelbaren Umgebung. Max Webers jüngster Bruder Arthur diente als Berufsoffizier bei den Garde-Pionieren in Berlin und war daher von Kriegsbeginn an im Einsatz. Seine beiden anderen Brüder, Alfred und Karl, sowie sein Schwager Hermann Schäfer hatten sich ebenfalls sofort als Reserveoffiziere gemeldet. Alfred Weber stand – im Alter von 46 Jahren – als Ordonnanzoffizier bei der 55. Brigade der Landwehr zwischen Mühlhausen im Elsaß und Basel an der Front. All das schmerzte den kriegerisch gestimmten Erstgeborenen – selbst dann noch, als sowohl sein Bruder Karl (August 1915) als auch sein Schwager Hermann Schäfer (August 1914) ums Leben gekommen waren. So heißt es etwa im Brief an Frieda Gross vom 14. März 1915: „Nachdem dieser Krieg nicht, wie er gesollt hätte, vor 17-20 Jahren – wo ich, als Hauptmann die Kompagnie an den Feind geführt hätte – geführt ist, sondern jetzt, so daß ich statt dessen hier im Heimatgebiet von 8-8 täglich, auch Sonntags, Lazarette regiere, – es ist das ein widriges Schicksal, welches ich ‚zum Übrigen’ lege.“
Der Mann, der am 2. August 1914 seinen Kampf an der Heimatfront in Heidelberg aufnahm, war nicht mehr derselbe, der noch wenige Jahre zuvor bewegungslos zum Fenster hinausgestarrt hatte oder kleine Figuren aus Ton modellierte. Die „Gesundung“ des psychisch angeschlagenen, immer noch überbeschäftigten Privatgelehrten Max Weber, der im Umkreis seiner Universität an seinen eigenen Projekten arbeitete, ohne wirklich zu deren Abschluss zu gelangen, war die anormale Reaktion eines anormalen Menschen auf eine für ihn ganz normale Situation. Für jemanden, für den das Leben schlechthin Krieg und Kampf bedeutete, war der militärische Krieg eine nicht nur normale Situation – es war eine großartige Situation. Kein sonderliches Wunder, dass so jemand gesundet bei Krieg und Kampf, auch wenn es statt nach Pulver sehr viel mehr nach Chloroform riecht. Blut floss jedenfalls genug, wenn auch nicht das eigene. Ein Mann, der im ganz normalen Routineleben mit Schlaf- und Essstörungen, Alpträumen, Schuldgefühlen, Wutausbrüchen und erhöhtem Tablettenkonsum zu kämpfen hatte, konnte nun im anormalen Ausnahmeleben ohne alle diese Beschwerden schwungvoll seinen kriegerischen Aufgaben nachgehen.
Ungeachtet seiner strapaziösen Militärtätigkeit findet Max Weber hinreichend Zeit für sein unermüdliches Briefeschreiben. Die Briefe jener Jahre, unabhängig von ihren jeweiligen Adressaten, vermitteln ein genaues Bild der politischen Ansichten Webers im und zum Ersten Weltkrieg, und sie dokumentieren sein unermüdliches, aber vergebliches Bemühen um politischen Einfluss. Die tiefe Betrübnis, nicht aktiv an der Front und in den Schützengräben mitkämpfen zu dürfen, lässt ihn in aufmerksamster Weise die täglichen Lageberichte sowohl des militärischen als auch des politischen Geschehens verfolgen, die er in seinen Briefen kommentiert. Es ist ganz eindeutig: Weber glaubte an die regierungsoffizielle Interpretation, der zufolge dem Deutschen Kaiserreich ein „Verteidigungskrieg“ von außen aufgezwungen wurde, in dem es sich nun zeigen werde, ob Deutschland zum Kreis der Großmächte dazugehören würde oder eben nicht. Der Analytiker Weber verfiel jedoch im Gegensatz zu vielen anderen seiner Statusgruppe nicht in größenwahnsinnige Träume: Durchgehend spricht er sich gegen alle Annexionspläne aus, fordert nachdrücklich die Wiederherstellung Belgiens nach dem Krieg und wendet sich gegen alle Überlegungen, deutsche „Protektorate“ in Polen und im Baltikum zu errichten. Insgesamt konzentrieren sich seine Überlegungen auf die Sicherung Deutschlands als einer Weltmacht, gleichrangig mit Frankreich, Großbritannien und Russland. Je länger der Krieg dauert, desto pessimistischer wird der Ton, die Siegeszuversicht weicht einem leicht verbissenen Siegeswillen, der Glaube an einen guten Ausgang für Deutschland wird zunehmend schwächer, die Überzeugung wächst, dass, wenn die Vereinigten Staaten in den Krieg eingreifen würden, dieser für Deutschland verloren wäre.
Die Themen aller Briefe, ob sie sich nun an die in der Schweiz weilende Geliebte Mina Tobler richten oder an seine professoralen Kollegen, umkreisen vor allem vier Felder: die Wiederherstellung eines selbstständigen Belgien, die kompromisslose Verurteilung der Absichten eines „unbeschränkten“ U-Boot-Krieges, die Verdammung der Annexion polnischer Territorien, die unverzichtbare parlamentarische Kontrolle der Reichsregierung. Als Generalbass unter diesen politischen Themen erklingt eine geradezu hasserfüllte Wut Webers auf Kaiser Wilhelm II., auf dessen unberechenbare Entscheidungen und öffentliche Äußerungen: „die ekelhafte hysterische Eitelkeit dieses ‚Monarchen’.“
Aber aller Zorn und alle klugen Analysen helfen nichts bei seinen vielfältigen Bemühungen, tatsächliche politische Mitgestaltungsmöglichkeiten zu erlangen. Max Weber muss erkennen, dass er als „politischer Einspänner“ gilt, wie er sich in einem Brief vom 1. Mai 1917 an Conrad Haußmann, diesen überaus einflussreichen liberalen Berufspolitiker, der für einen Zeitraum von 32 Jahren Abgeordneter zum Deutschen Reichstag war, charakterisiert.
Die von ihm eingeschlagenen Strategien werden in den Briefen dokumentiert: Nach der Auflösung der Heidelberger Lazarettkommission, der er ein ganzes Jahr angehört hatte, versucht er unablässig, seinen Freund Friedrich Naumann zu seinem politischen Sprachrohr auf der nationalen Bühne zu machen; außerdem bemüht er sich darum, die „Frankfurter Zeitung“ als publizistischen Resonanzkörper seiner Ansichten zu nutzen, nicht nur durch Artikel – mit oder ohne Namensangabe –, sondern vor allem durch eine Serie von fünf umfangreichen Beiträgen im Zeitraum April bis Mai 1917 über die zukünftige Gestaltung des politischen Gemeinwesens in Deutschland, die im Frühjahr 1918 gesondert als Broschüre unter dem Titel „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“ veröffentlicht wurde.
Max Weber kämpfte auch direkt vor Ort um Gehör für seine politischen Vorstellungen; so weilt er im August 1915 auf eigene Kosten in Brüssel, wo er sich vergeblich darum bemüht, ein offizielles Mandat für die Mitarbeit an den Plänen des dortigen deutschen Generalgouvernements zu erringen. Am längsten antichambriert er in der Hauptstadt Berlin, in der er sich zuerst in den Monaten November und Dezember 1915 aufhält, um dann nochmals von Februar bis August 1916 beim „Arbeitsausschuss für Mitteleuropa“ von Friedrich Naumann mitzuwirken. Trotz all dieser Gespräche, Treffen, Briefe und Zeitungsartikel, es wird alles nichts. Resigniert kehrt er nach Heidelberg zurück, an den häuslichen Schreibtisch und in die dortige Universitätsbibliothek. Seine in den Briefen spürbare Frustration über dieses Scheitern stieg noch zusätzlich, als sein ohnehin von ihm so ungeliebter Bruder Alfred im Anschluss an seinen Kriegseinsatz im Elsaß durch Vermittlung des mit ihm befreundeten Staatssekretärs Karl Helfferich in das Reichsschatzamt abgeordnet wird.
Max Weber arbeitete sowohl in Heidelberg als auch während der acht Monate in Berlin, an seinen Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen weiter zu seiner großen inneren Freude, wie er seiner Frau berichtet: „Ich fühle mich so wohl und arbeitsfähig, sobald ich mit chinesischen und indischen Sachen zu schaffen habe; sehne mich sehr danach.“ Dennoch ist erkennbar, dass ihn die wissenschaftliche Arbeit gerade nicht in jenen Jahren erfüllt, in denen Deutschland um seine Zukunft kämpft. Am deutlichsten artikuliert Weber seine tiefe Enttäuschung über alle gescheiterten Versuche, politische Gestaltungskraft zu erlangen, in seinen Briefen an Mina Tobler, so etwa in jenem vom 27. Mai 1917: „Und natürlich auch das Politische. Es ist meine alte ‚heimliche Liebe’, – und diese Menschen verderben Alles, was Einem teuer war. Abgesehen von dem völligen Dunkel der Zukunft, politisch, auch persönlich-materiell, vor dem man steht. Wenn aber Einem so ein Strick um den Hals liegt und Jemand dreht daran, langsam, langsam, drei Jahre lang, immer enger, immer enger, – dann kann man nicht, man mag empfinden wie man will, sagen und schreiben, was ist.“
Für einen verhinderten Kämpfer war die Arbeit in der Heidelberger Reserve-Lazarettkommission letzten Endes zutiefst unbefriedigend, so dass Max Weber um seine Entlassung aus dem Militärdienst ersuchte, die zu Anfang Oktober 1915 erfolgte. Zu seinem Abschied verfasste der Herr Professor und Hauptmann der Reserve eine Mehrzahl von Dokumenten, von denen sein abschließender „Erfahrungsbericht“ über die Lazarettverwaltung auch heute noch von erhellender Bedeutung ist, wirft er doch ein bezeichnendes Licht vor allem auf ihren Verfasser. Er beginnt mit der Feststellung: „Die hiesige Lazarettverwaltung begann als eine nahezu reine Dilettanten-Verwaltung. Diesen Charakter hat sie endgültig erst abgestreift, nachdem die bisherige Reservelazarett-Kommission, welche zuletzt aus zwei Nicht-Berufs-Militärs bestand, durch Ernennung eines militärischen Chefarztes ersetzt ist. Die Darstellung der Entwicklung der Lazarette ist daher eine Darstellung des Übergangs von einer rein dilettantischen freien zu der geordneten bürokratischen Verwaltung.“ Der Text ist interessant, weil in ihm sowohl ein vermutlich sehr zutreffender Bericht über die tatsächlichen Tätigkeiten Max Webers zu finden ist als auch eine Vielzahl von Beobachtungen notiert wird, die den Blick des Soziologen verdeutlicht. So etwa, wenn er über die „Liebesgabenverwaltungen“ berichtet, jenen „Pseudo-Patriotismus“, durch den Heidelberger Familien die Genesenden in ihre Häuser einluden, diese dort mit Speise und Trank „regaliert“ wurden, insbesondere zum Alkoholgenuss, „dem sie entwöhnt und nicht gewachsen waren“ und die somit zum „Schwatzen und Renommieren provoziert“ wurden. Dadurch stiegen, nach Max Webers Bericht, Unzufriedenheit und Renitenz, was ihm als Disziplinarvorgesetztem steigende Probleme bereitete. Ebenso besorgt äußert er sich über die Art und Weise, wie der Lazarettkranke seine sexuellen Bedürfnisse an ihm fremden Orten befriedigt, wo er auf die Prostitution angewiesen sei, was zum drastischen Anstieg von Geschlechtskrankheiten führe. Er illustriert ganz vortrefflich zwei Typen der freiwilligen Krankenpflegerinnen, mit denen er in „seinen“ Lazaretten auskommen musste: Zum einen „das typische deutsche „junge Mädchen“ mit seiner meist sehr ehrlichen Begeisterung, seiner Sentimentalität und seinem unbewußten Sensationsbedürfnis. Dieser Typus ist für Lazarettpflege ungeeignet, ist stets der Neigung zur Verweichlichung der Lazarettkranken und nicht selten der Gefahr erheblicher Entgleisungen ausgesetzt.“ Zum anderen die „intellektuell oder durch berufliche Arbeit geschulten Mädchen und Frauen“, die für diesen Dienst in hohem Grade geeignet seien, sogar noch eher als die im Inland verbliebenen Berufsschwestern. Ihr hoher Bildungsgrad, ihr Verantwortungsgefühl und ihre Befähigung zur „Sachlichkeit“ mache sie für diese Aufgaben überaus wertvoll.
Der Erste Weltkrieg gehört ganz zweifellos zu den entscheidenden Zäsuren im Leben des Max Weber. Vergegenwärtigt man sich seine äußere und innere Lage in den Jahren vor dem 1. August 1914, so sehen wir vor uns den inaktiven und ordentlichen Honorarprofessor an der Universität Heidelberg, Dr. Max Weber, einen deutschen gentleman scholar und „Rentier“. Der Lebensunterhalt des Ehepaars Weber musste bestritten werden aus den – zunehmend kleiner werdenden – Zinserträgen des Erbes von Marianne Weber, deren Großvater 1907 gestorben war und sie in der Erbfolge an die Stelle seiner 1873 verstorbenen Tochter Anna Schnitger eingesetzt hatte. Hinzu kamen die unregelmäßigen Zuwendungen der Mutter in Charlottenburg. Wir sehen den Autor des „Objektivitäts“-Aufsatzes (1904) und der Aufsatzfolge zur „Protestantischen Ethik“ (1904/05), den Gelehrten, der fünf Monate durch die USA gereist war, den Hauptherausgeber des einflussreichen „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, den „Schriftführer“ des „Grundriss der Sozialökonomik“ und den Mitorganisator der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“. Wir sehen einen unermüdlichen Briefeschreiber, einen umtriebigen Fädenspinner.
Der stets streitlustige und schnell aufbrausende Max Weber erhob seine Stimme in den unterschiedlichsten Angelegenheiten innerhalb und außerhalb der akademischen Welt, und er leistete sich dies mit einer „vielleicht unbequeme[n] Gewohnheit, Das, was Andre – viele Andre – privatim sagen, offen auszusprechen“, wie er das 1909 Wilhelm Windelband gegenüber bezeichnete. Wer in Max Weber bisher einen unterkühlten, „werturteilsfreien“ und „rein sachlichen“ Gelehrten sah, sollte schon bis hier zu einem anderen Bild gelangt sein und in ihm sehr viel mehr jenen „so leicht verstimmbaren Menschen“ erkannt haben, als der er sich bereits früh in einem Brief an seine Mutter selbst charakterisiert hatte. Man muss sie lesen, diese Briefe an Kollegen, Freunde und Lehrer, und die zornige Stimme hören, die gegen „ladenschwengelhafte Flegeleien“ der professoralen Kollegen wütet und gegen deren „widerwärtige, ewige Gekränktheiten“ tobt. Hier äußert sich ein Mann, der für sich mit dem universitären Intrigenspiel ein Ende gemacht hat, ein akademischer Außenseiter, der genau weiß, wovon er spricht, wenn er schreibt: „Daß viele Professoren Canaillen sind, ist mir aus eigner Erfahrung und am eignen Leibe gründlich bekannt.“
Wir sahen in den Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs einen Mann vor uns, der sich in seiner unablässigen Korrespondenz mit seiner Ehefrau, seiner Geliebten, seiner Mutter, seinen Geschwistern und sonstigen Verwandten als empfindlicher, ständig von Schlafbeschwerden und Dauermigränen geplagter, ruhelos Umherreisender zu erkennen gab, ein rastlos lesender und schreibender Mensch, der den Eindruck eines Getriebenen machte. Angesichts dieses Bildes kann es einen schon verwundern und beeindrucken zugleich, wie all dies von dem geplagten Mann abzufallen schien in dem Moment, als er seinen Posten in der Heidelberger Lazarett-Verwaltung übernahm.
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel übernimmt, mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages, ein Kapitel aus dem am 10. März 2014 erscheinenden Buch von Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße – Denker – Muttersohn (C.H. Beck).
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