Der verlorene Sohn sucht den Frauenkontinent

Hermann Burgers Roman „Die Künstliche Mutter“

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Leicht macht er es niemandem – weder seinen Kritikern noch seinen Lesern und am allerwenigsten sich selber. So kann er auch schwerlich zu den Lieblingen des Publikums gehören; und so wird er von den Rezensenten, wenn sie ihn denn überhaupt wahrnehmen, eher geschätzt als geliebt: Sie nähern sich den Arbeiten des Schweizers Hermann Burger meist mit ebensoviel Zustimmung wie Zurückhaltung, mit zögernder Hochachtung und zugleich mit unverkennbarer Befangenheit.

Dabei steht er der Zunft der Literaten keineswegs fern: Der promovierte und habilitierte Germanist verdient sein Brot als Dozent, Redakteur und Kritiker. Dennoch fällt er aus dem Rahmen des deutschsprachigen Kulturbetriebs. Er befremdet, ohne ein Fremdling zu sein. Offensichtlich wird er immer wieder als sonderbarer Außenseiter empfunden. Warum? Etwa weil dieser Artist, stets ohne Netz arbeitend, mit unnachsichtiger, mit wütender Beharrlichkeit aufs Ganze geht? Weil man blind und taub sein müßte, um nicht zu spüren, daß hier einer am Werk ist, der, ohne sich zu schonen, immer wieder seine gefährdete Existenz ins Spiel bringt, ja, mehr noch, aufs Spiel setzt?

Dies jedenfalls ist unzweifelhaft: Jene „Göttern und Menschen verhaßte Mittelmäßigkeit“, über die sich Goethe immer aufs neue entrüstete und der manch ein deutscher Autor hohe Auflagen zu verdanken hat – damals und auch und gerade in unseren Tagen –, kennen Burgers wunderliche Bücher nicht. Es sind Konfessionen eines schwermütigen Humoristen und Kabinettstücke eines unheilbaren Monomanen. Er ist ein verspielter Erzähler, doch einer aus dem Geschlecht der Getriebenen und Gejagten, der Gezeichneten.

So sind denn auch die Menschen, die Burgers hell, bisweilen sogar grell erleuchtete und doch unheimlich finstere Bühne bevölkern, Zerrissene und zugleich Besessene. Einer der  Helden seines Erzählungsbandes „Diabelli“ (1979) – ein Großillusionist, der sich entschließt, seine überaus erfolgreiche Karriere zu beenden – behauptet, daß „alle Giganten der Verwandlungs- und Täuschungskunst aus einem Milieu der Lieblosigkeit“ stammen und daß die Wurzel ihrer magischen Berufung  wahrscheinlich der Wunsch sei, die Leute möchten sich unausgesetzt ihrer annehmen und sich mit ihnen als „Denksportaufgabe in Person“ beschäftigen.

Ob dies tatsächlich auf alle Zauberkünstler zutrifft, sei dahingestellt; aber für Burgers Figuren gilt es bestimmt – für den Dorflehrer im Roman „Schilten“ (1976), der von seinen Vorgesetzten erwartet, daß sie seinen rund dreihundert Seiten umfassenden Brief studieren, ebenso wie für jenen hochgebildeten „Privatanarchen“ (im Band „Diabelli“), der auf Anmeldeformularen als Beruf „Freier Leser“ angibt und mit der Zeit zu dem geworden ist, was er gelesen hat, und somit selber eines Lesers bedarf.

Patienten sind sie allemal – oder sollten es sein. Was immer Burger erzählt oder seine Personen erzählen läßt, er bietet uns stets kunstvolle Krankheitsberichte. Genauer: Bruchstücke einer einzigen, einer großen Krankheitsgeschichte, an der er, wenn nicht alles täuscht, bis ans Ende seiner Tage arbeiten wird. Was sich dieser Geschichte abgewinnen läßt, was also der Schriftsteller Burger zu leisten vermag, das wissen wir freilich erst jetzt, da sein reichstes und kuriosestes Werk erschienen ist – der Roman „Die Künstliche Mutter“.

Wieder handelt es sich um einen Patienten, doch diesmal um einen, der seine Vorgänger in Burgers epischem Universum noch weit übertrifft, und zwar in jeder Hinsicht: Es ist Wolfram Schöllkopf, 39 Jahre alt, seines Zeichens Privatdozent für „Neuere deutsche Literatur und Glaziologie“ an der Eidgenössischen Technischen Universität in Zürich.

Eine geschlagene Dreiviertelstunde steht er im Treppenhaus des Universitätsgebäudes und blickt, an die Balustrade eines oberen Stockwerks gelehnt, trübsinnig hinab. Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: „Fünfundzwanzig Meter genügen, einer bereits zerschmetterten akademischen Existenz den Rest zu geben.“ Warum möchte er Schluß machen? Gewiß nicht nur deshalb, weil eine, wie wir ihm glauben müssen, schändliche Intrige zur „Erdrosselung“ seines (nur dürftig entlohnten) Lehrauftrags und somit gleichsam zur „Ermordung eines Privatdozenten“ geführt hat.

Denn Schöllkopf ist ein schwerkranker Mann, der schon seit Jahren von Sprechzimmer zu Sprechzimmer, von Labor zu Labor irrt. Auf dieser „kapazitären Odyssee“ findet er sich immer wieder zwischen Skylla und Charybdis, nämlich zwischen dem Orakel, sein Leiden sei rein psychischer Natur, und der, wie er meint, unverschämten These, die Schmerzen, über die er sich beklage, existierten überhaupt nicht.

Solche Sprüche sind schwerlich dazu angetan, Schöllkopf zu trösten, geschweige denn, ihm zu helfen. Er avanciert zwar zum „Omnipatienten“, er gilt bald als der „Patientissimus“ schlechthin, aber seine vielen Ärzte, die nie vergessen, saftige Honorare zu kassieren, sind immer aufs neue ratlos. Hätten wir es gar mit einem malade imaginaire zu tun? Neunmal klüger als Molière, wissen wir sehr wohl, daß derjenige, der sich seine Krankheit einbildet, letztlich doch krank ist und der Heilung bedarf. Soviel kann mit Sicherheit gesagt werden: Schöllkopf, den man nicht ohne Grund den Doktor Infaustus nennt, leidet. Aber woran denn?

Die Migräne quält ihn, indes eine „Unterleibsmigräne“. die „ihren Sitz zuvorderst in der Penisspitze“ hat. Das „Schwanzgrimmen“ macht ihm zu schaffen, Genitalkrämpfe und Penis-Spasmen bringen ihn fast um den Verstand. Da lächelt der Franzose vergnügt und empfiehlt: Cherchez la femme“, da schüttelt der Deutsche besorgt sein Haupt und denkt an das Ewigweibliche, das uns laut Goethe hinan- und laut Wedekind hinabzieht.

Ja, eine Frau ist die Schlüsselfigur im traurigen Leben des Dozenten Schöllkopf, nämlich seine Mutter. Wer nun den Schatten des auf erotische Irrwege geratenen Königs der Thebaner zu sehen glaubt, wird nachdrücklich eines anderen, wenn auch nicht unbedingt eines Besseren belehrt: Nicht Ödipus, den es zur eigenen Mutter trieb, fasziniert den unglückseligen Wissenschaftler, sondern Orest, der seine Mutter ermordet hat. So weit geht Burger nun doch nicht, gleichwohl wird unser Mann gejagt und gequält wie der Sohn Klytämnestras – nicht von Erinnyen freilich, wohl aber von Traumata, von Komplexen und Obsessionen.

Der Mutterhaß lastet wie eine düstere Wolke auf seinem ganzen Leben, seine Neurose heißt „Matrose“. Er ist „ein gefrorenes Meer an entbehrten Gutenachtküssen, er ist der verlorene Sohn, der vergeblich, um ein Linsengericht an Zuneigung bettelt“ und daher zum „internistisch verseuchten Showfreak“, zum „Lachartisten“ verkommt.

Und er ist überdies das Opfer einer Erziehung, die ihm zu suggerieren vermochte, „daß alles, was auch nur entfernt mit Zeugung zu tun habe, schmutzig sei“: Noch an seinem zwanzigsten Geburtstag mußte er seiner Mutter am Krankenbett hoch und heilig versprechen, nie mit einer anderen als mit der angetrauten Frau zu schlafen –  „auch nicht zu onanieren, denn Selbstbefriedigung ist Kommunismus“.

Gab es denn niemanden, der bereit und fähig gewesen wäre, ihn von der Mutter zu lösen? Es ist fünfzehn Jahre her, da interpretierte cand. phil. Wolfram Schöllkopf in einem kleinen Hörsaal zwei Gedichte Ingeborg Bachmanns. „Siebzehn Unentwegte“ lauschten ihm, aber er sprach, obwohl, wie es sich gehört, in „akademischer Mundart“, doch nur für sie, für die „sonnenblumenleuchtende Blondine mit dem leicht satteligen Nasenrücken, der schwindelerregenden Chauchat’schen Augenweite, den schräg nach oben geschnittenen Blaumandeln, den kräftigen Schultern und der sportlichen Postur, eine Skirennfahrerin in der Sommerpause …“

Dank ihr und mit ihr (übrigens keineswegs einer Sportlehrerin, sondern einer promovierten Juristin) erlebte der von des Gedankens Blässe angekränkelte Philologe jene „stärkste Macht der Welt“, über die er sich gelehrt verbreitete, die er aber nur aus der Dichtung kannte: die Liebe.

Was sie ihm zu sagen hatte, das sagen die Frauen den grübelnden, den gehemmten und zögernden Intellektuellen seit Jahrhunderten und Jahrtausenden. Bei Burger heißt das so: „Deine Aufgabe ist nicht, Kafka zu verstehen und, über ihn dissertierend, vor lauter Verständnis zugrunde zu gehen, du sollst mich in deine Arme schließen, dann wirst du nicht ein Leben lang vor dem Lichtspiel des Gesetzes sitzen …“ Und: „Ich breite meinen Ozean aus für dich, krebse nicht zurück, stürz dich ins Wasser und schwimm mir entgegen!“

Doch da war ja noch im Hintergrund die gestrenge, die übermächtige Mutter, von der es den jungen Mann zu befreien galt. Das brachte die liebende, die hochherzige Juristin durchaus nicht in Verlegenheit: „Ich bin Anwältin, also Fürsprecherin, und gehe für dich nicht nur ins Feuer, sondern vor die höchste Instanz … Töte sie, indem du mich liebst, wir schaffen sie gemeinsam beiseite in unseren Liebesnächten.“

Alles umsonst: Schöllkopf, der Schwierige, der schwache Schüler der ars amandi, erreichte das Klassenziel nicht. Ihm, der die Geschichte von Hero und Leander kannte, fehlten Kraft und Mut, sich in den Ozean zu stürzen, den eine Liebende für ihn ausgebreitet hatte: Er war zurückgekrebst in die elterliche Villa. So blieb es bei einer „kurzen Spanne taumeligen Glücks“.

Das liegt nun, wie gesagt, fünfzehn Jahre zurück – und jetzt, da der Muttergeschädigte auch noch von der Alma Mater Politechnica Helvetiae verstoßen wurde, ist es um ihn noch schlechter bestellt. Keine Hilfe weit und breit: kein Horatio, dem er sich anvertrauen könnte, kein Mephisto, der ihm einen Pakt anböte, keine Senta und keine Elisabeth, die ihn erlösten, kein Settembrini, der sich seiner annähme.

Der ewige Patient, der auf den „akademischen Schrottplatz abgestellte Privatdozent“, das neue „Sorgenkind des Lebens“, unser Schöllkopf also, was tut er? Er greift zu einem höchst banalen Mittel, auf das heutzutage viele Menschen ihre Hoffnungen setzen: Er inseriert. Er gibt Leidensannoncen auf. In einer Ärztezeitung bittet er um Hilfe. Prompt erhält er aus Göschenen am Nordfuß des Gotthards das telegraphische Angebot einer mysteriösen Klinik.

Er reist sofort und ohne Gepäck, denn: „Mein Gepäck, das freilich den ganzen Postwagen gefüllt hätte, bestand aus der achtjährigen Krankheitsgeschichte … Mein Gepäck waren vor allem die Depressionen.“ Die Diagnose lautet: Ein Muttermal bedecke seinen ganzen Körper, er bedürfe daher dringend einer Künstlichen Mutter.

Allerdings befindet sich das unterirdische Gotthardsanatorium im Rückzugsgebiet der Armee, dem „liebsten und teuersten Spielzeug‘‘ des Schweizers. Aus sicherheitspolitischen Gründen wird dem Bittsteller Schöllkopf der Zutritt zu den Befestigungsanlagen und damit auch zur Heilstollenklinik verwehrt. Indes gibt er nicht auf: Als Kurgast in einem benachbarten, schäbig-bizarren Hotel macht er allerlei Erfahrungen, die meist Sexuelles betreffen und die ihn eben deshalb erst recht an seiner „Penisschmach“ leiden lassen.

Im Traum sieht er ein Bordell, in dem schöne Dirnen an Barhockern lehnen: „Sie flöteten aber nicht: Komm, Schatz! sondern: Geh weiter, Bubi!“ Er trifft eine „Repräsentantin der Weltweiblichkeit“ und versteckt sich vor ihr unter der Decke. Verzweifelt fragt er: „Wo finde ich die Quelle, wo schlägt die Wünschelrute meines rostigen Riegels aus?“

Um jeden Preis will er versuchen, „in die Mutter Erde zurückzukriechen“: Wie den Tannhäuser in den Venusberg, so zieht es ihn in den „künstlichen Mutterleib“. In den „Granitschoß der Helvetia“. Doch zunächst muß er tun, was Kafka leider versäumt habe: Dieser wäre – lesen wir schon im ersten Kapitel des Romans – besser beraten, wenn er statt zweihundert Briefe an Milena und fünfhundert an Felice einen kardinalen an seine Mutter geschrieben hätte.

In einem leidenschaftlich-haßerfüllten „Brief an die Mutter“ will Schöllkopf vom römischen Rechtsgrundsatz Mater semper certa est“ freigesprochen werden: „Ich fordere, wenn auch zu spät … die freie Mutterwahl.“ Im Sanatorium soll gleichsam seine Geburt annulliert und eine amtliche Ungültigkeitserklärung besiegelt werden. Dort, im „Gotthardschen Uterus“, im „euterwarmen Höhlenraum“ möchte er „noch einmal, und zwar lustvoll, zur Welt kommen“.

Erst dieser Brief macht ihn reif für die Tunneltherapie – und jetzt kann niemand, auch keine bornierte Militärbehörde, ihm den Zugang zur ersehnten Unterwelt versperren. Was geschieht dort mit dem Patienten, in dessen „oberer Etage die Rotationsmaschinen auf Hochtouren laufen und Druckreifes ausspucken, während das Kellergeschoß in den Silen liegt“?

Die sich seiner annimmt – ist es eine Sexologin oder Pulsschwester oder Physiotherapeutin? –, muß den Herrn Dozenten „für alte und neue Innerlichkeit“, den alles, was er aufschnappt, an irgend etwas erinnert, nur nicht an das Hier und Jetzt, erst einmal belehren, daß sie weder Dantes Beatrice noch Botticellis Flora sei, sondern ganz einfach die Monica: „Und das hier ist nicht zum Anbeten – sie preßte, tatsächlich, meine Hand an ihre Brust – … das ist alles zum Anfassen.“

Aber was man in vier Jahrzehnten verteufelt hat, läßt sich so rasch nicht reparieren: Ein „Spitzenaufgebot von Frauen“ ist nötig, um aus der Bisswunde im Unterleib des Patienten das Moralingift zu saugen. Nun braucht er neben der Künstlichen Mutter auch noch eine Künstliche Schwester, die ihm indes die Erosklinik des Heilstollens nicht offerieren kann.

In einem „Liebesgesuch“ wird die Fernsehsprecherin des Norddeutschen Rundfunks um Hilfe gebeten, sie soll Schöllkopf als „nordische Helena“ zur Seite stehen, an ihrem Wesen soll er endgültig genesen. Sie ist zu einem kurzen Zwischenaufenthalt in Göschenen bereit, sie kommt tatsächlich, blond und elegant, doch anders, als der Patient sie sich vorgestellt hatte: etwas kleiner und das Profil leicht puttbackig, und gleich auf dem Bahnsteig erklärt sie ganz unpoetisch, sie habe „einen schrecklichen Kohldampf“.

Was von ihr, der ersehnten Künstlichen Schwester, erwartet wird, das versteht sie wohl kaum: Beim „Arbeitslunch“ im Bahnhofsbuffet von Göschenen redet man artig aneinander vorbei. Aber der Germanist und Fernsehzuschauer läßt sich durch die Kluft zwischen Ideal und Realität nicht beirren: Angestrahlt vom „alsterblonden“, vom „hanseatischen Nordleuchten“, von der Höhenflugsonne der „elektronischen Helena“ und beeindruckt freilich auch von ihrer warmen Stimme und perfekten Aussprache, fühlt er sich gerettet: Der Mutterschatten auf seinem Herzen ist verschwunden.

Jetzt lautet die Parole: „Raus aus dem Loch, zurück ins Leben.“ Die Wiedergeburt ist perfekt, der verlorene, der geheilte Sohn kann den Zauberberg verlassen, die Träne quillt, die Weiber haben ihn wieder, er wird nun, gleichsam ein helvetischer Störtebeker, „zur Eroberung des Frauenkontinents auslaufen“. Wohin? Gen Süden, versteht sich.

Das Schlußkapitel, euphorisch und ekstatisch und fast orgiastisch und noch allerlei Überraschungen bietend, spielt auf der anderen Seite des Gotthards, doch nicht etwa in Venedig – diesmal genügt Lugano. Und was unserem Privatdozenten, der sich an der „Universitas mundi der Frauen“ neu qualifiziert hat (und zwar für ein Studium generale!), dort in einem rauschhaften Furioso widerfährt, braucht man nicht zu verraten.

Gegen Ende heißt es: „Wer die Muße hat, uns zu studieren, soll ans Werk gehen, wer nicht, läßt es bleiben.“ Das klingt hochmütig, aber es trifft schon zu: Hier wird dem Leser viel zugetraut und abverlangt. Manches scheint dunkel oder gar rätselhaft. Professionelle Interpreten werden in dem Buch zahllose und auch schwierige Aufgaben finden, philologische Detektive darin noch lange umherirren, zumal Burger aus seiner immensen Bildung kein Hehl macht. Es wimmelt von Zitaten und Anspielungen, von literarhistorischen Marginalien, kulturgeschichtlichen Reminiszenzen (mitunter werden ganze Glossen mühelos eingefügt) und auch theologischen Verweisen. Viele Kränkungen und Traumata, christliche und, häufiger noch, schweizerische, finden in der „Künstlichen Mutter“ ein bizarres Echo.

Doch wie stark dieser Roman auch mit Wissen und Bildung befrachtet ist, weder kommt er gewichtig daher, noch wirkt er etwa schwerfällig. Nie droht ihm, trotz zahlreicher diskursiver Passagen, das Gespenst der Abstraktion, nie gerät er auch nur in die Nähe einer getarnten psychologischen oder soziologischen oder gar medizinischen Fallstudie. Das hat verschiedene Gründe, die indes alle mit dem Hochartistischen in Burgers Naturell zusammenhängen.

Ihm gelingt es immer wieder, phantastische und realistische Elemente ganz selbstverständlich miteinander zu verquicken. Die Skala seiner manieristischen, wenn auch nie manierierten Prosa reicht von verhaltenen poetischen Partien bis zu wütenden rhetorischen Ausbrüchen, von mächtigen Tiraden bis zu feuilletonistischen Einschüben. Trotz der Vielfalt der Mittel ist das Buch von verblüffender Einheitlichkeit – und das dank Burgers sprachlicher Kraft, dank der prallen Sinnlichkeit, der Anmut und Anschaulichkeit seiner Diktion. In diesem Schweizer haben wir einen Stilisten, dem nur ganz wenige deutschsprachige Schriftsteller der jüngeren und mittleren Generation das Wasser reichen können.

Burger ist es gegeben, die Dinge beim Namen zu nennen: Wie heikel die Phänomene und Motive, die er mit Vorliebe abhandelt, so wenig läßt seine Deutlichkeit zu wünschen übrig. Aber es glückt ihm, nie gegen den guten Geschmack zu verstoßen – womit freilich eine Kategorie ins Gespräch gebracht wird, die altmodisch anmutet und sich schwer definieren läßt, auf die wir dennoch nicht verzichten können und dürfen.

Seit einigen Jahren wirft man der deutschen Literatur die permanente Bauchnabelschau vor. Auch der Held dieses Romans befaßt sich vor allem und bisweilen ausschließlich mit sich selber, er ist egozentrisch bis zum Exzeß. Doch will es mir scheinen, dass sich in Hermann Burgers Geschichte vom depressiven und mit der Impotenz geschlagenen Wissenschaftler ein Gleichnis verbirgt – das Gleichnis vom leidenden und irrenden Intellektuellen, der sich um die Welt, in der er lebt, nicht kümmern will und der eben deshalb so exemplarisch ist für diese Welt und diese Zeit.

Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension von Marcel Reich-Ranickis erschien am 5. Oktober 1982 auf der ersten Seite der Buchmessenbeilage der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Wir danken Andrew Ranicki für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung in literaturkritik.de.