Olimpia in der Fußgängerzone

Nils Tredes dritter Roman ist die lakonische Beschreibung eines zweifachen Scheiterns

Von Michael KurzmeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Kurzmeier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welchen Zweck hat ein Arzt? Er soll heilen oder zumindest die Leiden seiner Patienten lindern. Welchen Zweck hat ein Gastwirt? Er versorgt seine Gäste mit Speisen, Getränken und Unterhaltung. Also sind beides konstruktive Berufe, möchte man annehmen. Doch da ist Xavier, der Protagonist aus Nils Tredes drittem Roman „Das versteinerte Leben“ ganz anders. Obwohl er Arzt und Gastwirt in einem ist: Seine Handlungen sind weder heilend noch erhaltend. Denn Xavier ist ein Amtsarzt. Seine Patienten kommen deshalb nicht freiwillig zu ihm, um sich untersuchen zu lassen, sie werden ihm von der Polizei vorgeführt. Dann stellt er ihre Haftfähigkeit fest, sucht nach versteckten Drogen oder intubiert Asylsuchende, die ein Koma vortäuschen, um ihre Abschiebung verhindern zu wollen. Nach der Untersuchung seiner Subjekte notiert er: „Beschwerden: Angst haben, Unwohlsein verspüren, eingesperrt sein, nicht schlafen können, panisch sein, in einem Käfig sein, Kälte- und Hitzewallungen haben, Entzugserscheinungen haben, Verätzungen im Magen haben, nicht atmen können usw. […] Ich notiere das auf den fünf Zeilen. Dann kreuze ich in der Regel das Kästchen, das ‚vereinbar‘ lautet, an.“. Xavier hat einen guten Sinn für seine Patienten, er arbeitet sie mechanisch ab, ein simulierender Asylsuchender entgeht ihm dabei ebenso wenig wie ein geschlagenes Kind.

Auch als Gastronom erfüllt er seine Pflichten gewissenhaft, bringt Fisch und Wein zu den wartenden Gästen, das von den Eltern übernommene Restaurant ist stadtbekannt und gut besucht – doch auch hier ist Xavier nicht ein jovialer Wirt, sondern gefangen in der Rolle des Kellers, der dem Gast immer nah und vertraut ist, aber doch stets distanziert bleiben muss.

Den Einzelgänger fällt es schwer, diese Rolle zu erfüllen, er beobachtet seine Gäste mit einer Mischung aus Neid und Abscheu. Als eines Tages ein junges Paar in das Restaurant kommt, entsteht bei Xavier eine verhängnisvolle Obsession für die junge Frau. Er kauft eine Wohnung, nur um sie dem Paar zu verbilligter Miete anbieten zu können. Nach dem Tod seiner Mutter schwankt der sonst so reservierte Arzt zwischen Selbstvernichtung und grundlosen Glücksmomenten, stiehlt das Methadon aus der eigenen Praxis und läuft im Wahn durch die Straßen der vereisten Stadt. Wie Nathanael aus E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“ erlebt Xavier, wie ihn sein Narzissmus zunehmend zerstört. Als er die Hand einer Schaufensterpuppe hält, bemerkt er: „Sie hatte feingliedrige und zarte Finger. Ich sah auf dem Boden ein Fläschchen Nagellack. […] Ich fühlte nun etwas Handähnliches in meiner Brust, eine Hand, die mein Herz ergriff und es zusammenpresse, zärtlich zunächst, dann stärker und stärker.“. Diese Erfahrung wird er darauf hin am Objekt seiner Fixierung wiederholen. Nach einem vorgetäuschten Unfall gelangt er in die Wohnung der Hilfsbereiten, an der er tut, was die tote Puppe an ihm getan zu haben scheint. „Ich legte meine Hände auf sie. […] Doch ich erinnere mich an eine Hoffnung: Dass sie es mir gleichtäte. […] Ich spürte sie zwischen meinen Fingern. […] Ich machte weiter, bis ich ein Geräusch hörte, das ich nicht zu deuten verstand. Ich ließ sie los und ging weg.“ Nach der Tat steigt Xavier allerdings nicht auf den Kirchturm, auch das winterliche Meer lässt Trede als allzu plakatives Ende des Romans außen vor. Am Grab seiner Mutter trifft er in einer merkwürdigen Deus-ex-machina-Szene den Bestatter, der sich als Friedhofspsychologe entpuppt, welcher Xavier das Leben wieder schmackhaft macht.

„Ich wollte leben“ heißt der letzte Satz dieses trotz seines halbherzigen Endes empfehlenswerten Romans. Trede erzählt die Gesichte in einer etwas distanzierten-lakonischen Art, was gut mit dem emotionalen Zustand seines Protagonisten korreliert. Er tut der Erzählung den Gefallen, die Symbolik der auf zwei Inseln gelegenen Stadt und des winterlichen Wetters nicht dominieren zu lassen, so unterstützt Tredes Symbolik die scheinbar nüchterne Darstellung des Wahns, anstatt sie plakativ zu überlagern. Auch peinliche Nacherzählungen bekannter Werke bleiben dem Leser erspart. Wo es Anspielungen etwa auf „Der Tod in Venedig“ oder „Faust I“ gibt, sind diese sehr subtil und lassen der Geschichte die benötigte Eigenständigkeit. Der Roman beschreibt die Verzweiflung eines Menschen, dessen Leben beruflich und privat unerfüllt geblieben ist.

Titelbild

Nils Trede: Das versteinerte Leben. Roman.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2012.
113 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783905951141

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