Mythen und Mysterien in Blau und Terracotta!

Giorgio Agamben und Monica Ferrando denken in Worten und Bildern über Persephone nach

Von Marie-Luise WünscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie-Luise Wünsche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom Logos der Mythen und den Mythen des Logos

Innerhalb der europäischen und amerikanischen Kulturgeschichte kann man (und das meint auch frau und kind) mit etwas Mut zur Vereinfachung zwei Hauptströmungen der wissenschaftspropädeutisch, wissensgeschichtlich, philosophisch, psychologisch oder philologisch interessierten Auseinandersetzungen mit mythischen (imaginären) und logischen (analytischen) Welturteilen ausmachen. Die Vertreter der einen finden, – immer noch – oft gegen Aporien ihres eigen Denkens immun, der Mythos sei ausschließlich infantilen Erdenbürgern vorbehalten. Selbstverständlich gilt er dann dort, wo diese Denker sich selbst ansiedeln, durch entsprechende Aufklärungsprozesse als vom Logos überwunden.

Mit infantilen, der phantastischen Welterklärung noch bedürftigen Erdenbürgern sind dann fast immer solche Menschen und Ethnien gemeint, die vermeintlich noch nicht aus der selbst verschuldeten ikonischen Selbstvergewisserung herausgefunden und zur begrifflichen Analyse aller sie und ihre Umwelt betreffenden Dinge fortschreiten konnten. Alles erscheint dann so, als gäbe es einen Mythos ohne Logos und einen Logos ohne Mythos wirklich, als wäre Wissen anders als relational, historisch geworden und zeitabhängig möglich.

Das basale Axiom, Kunst und Wissen seien einander oppositionell zugeordnet liegt dem zugrunde, danach nähmen sie also ganz und gar entgegengesetzte Positionen ein. Sie eröffneten so eben gerade kein Spannungsfeld im Zwischenraum zwischen a und b, innerhalb dessen sich notwendig all unser wissenschaftlich und oder künstlerisch motiviertes Nachdenken und Nachfühlen bewegen muss, ohne jemals den einen oder den anderen Pol vollständig erreichen zu können. Diese Annahme einer reinen Opposition verstellt den Blick auf jene Aporien, in denen derartig dogmatische Herangehensweisen sich wahrscheinlich immer und notwendig ansonsten aufreiben müssten.

Vor allem also ist die einfache Trennung mythischer von logischer Redeweise jenen, die diese Ansicht teilen, und gar als wissenschaftlich gewonnene und empirisch falsifizierbare Einsicht einführen, weder suspekt noch bedarf sie einer eingehenderen, historisch fundierten Textanalyse. Die Vertreter dieser, hiermit benannten Richtung spielen für die folgende Rezension eines so kleinen und trotz eines doch entscheidenden Versäumnisses insgesamt auch so feinen Bandes keine weitere Rolle. Sie wurden nur der Vollständigkeit halber erwähnt, um sie dann möglichst rasch, nämlich ab jetzt, rechts von unseren weiteren Ausführungen völlig unbeachtet liegen zu lassen.

Die anderen Wissenschaftler, die zur Skizzierung des kulturhistorisch relevanten Rahmens, innerhalb dessen der aktuelle Gedanken-Bild-Band sich zu verorten hat, von weit entscheidenderer und diesen mit bedingender Bedeutung sind, lassen sich abermals grob in zwei voneinander ganz gut zu unterscheidende Gruppen teilen. Den Gruppen sind sodann, der Zeitnot und dem begrenzten Raum geschuldet, je ein führender Philologe (Kyréni) respektive Philosoph (Blumenberg) zuzuordnen, dessen Forschungen jeweils für die jeweilige Schule von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind.

Da wäre zunächst der aus Ungarn stammende Alt-Philologe und Religionswissenschaftler Karl Kerényi zu nennen (1897-1973). Vielen ist er noch bis heute vor allem durch seine grandios erzählte zweibändige Geschichte zur „Mythologie der Griechen“ ein Begriff, die erstmals 1966 erschien. Wohl auch durch sein Interesse an der psychologischen Erweiterung der Mythologie bedingt, hatte Kyréni aber bereits 1941 gemeinsam mit Carl Gustav Jung einen Band „Einführung in das Wesen der Mythologie“vorgelegt. Dieser Band leistete eventuell sogar schon im Wesentlichen die praktische Erprobung an dem prominenten Beispiel antiker Mytheme einer frühen Fassung der apriorisch gesetzten „Archetypenpsychologie“ Jungs, lang bevor er diese systematisch ausgearbeitet hatte.

Das damit begründete psychologische Programm C. G. Jungs aber ist, sofern es sich als Rekonstruktion vorgegebener ‚Urtypen‘ versteht, natürlich höchst problematisch.

So hatte Sigmund Freud bereits sehr begründet dagegen einzuwenden gewusst, dass es nicht einer derartigen, Volksidentitäten allererst konstituierenden‘ Betonung des historisch gewordenen kollektiven Aspektes jeder individuellen Seelen-Geschichte bedürfe, mittels axiomatisch eingeführter vorgegebener Formen. Denn auch seine, also Freuds Psychoanalyse bedenke selbstverständlich den phylogenetischen Charakter ontogenetischer Entwicklung. Im Grunde genommen sind beide Modelle der Hypostasierung universaler und kollektiver Urstrukturen, die eine jede individuelle psychische Entwicklungsgeschichte konturieren helfen, nur spekulativ einzuführen und darin liegt immer ein Wagnis. Dies ist natürlich bis zu einem bestimmten Grad ein unvermeidbares Wagnis, da es zur Grundlegung einer an Therapie interessierten Theorie natürlich dazugehört, dass der Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen terminologisch abgesichert erscheint.

Dieser Teil der Freud‘schen Theorie, der die phylogenetische Entwicklung ontogenetisch zu erden versucht, handelte sich also gleich berechtigt denselben Vorwurf ein, wie man ihn an Jungs Modell der Urformen erheben muss. Allein: Freud verzichtet darauf, seinen „wissenschaftlichen Mythos“ von der Ur-Herde und den damit systematisierten und gleichsam ontologisierten Ödipuskomplex noch weiter als unbedingt für die Theorie und Praxis notwendig spekulativ zu differenzieren, was C. G. Jung allerdings, so die Überzeugung der Rezensentin, tat. Jung stellte ja nicht nur dem Ödipuskomplex – der bei Freud, obeohl man gelegentlich anderes lesen muss, für Mann und Frau gleichermaßen, nur jeweils anders dynamisiert, der entscheidende Entwicklungsschritt auf dem Weg in eine neurosenfreie Adoleszenz ist – einen Elektrakomplex zur Seite. Darüber hinaus führt er etliche Bilder als universelle und ahistorisch gültige Symbole ein, etwa den Engel und vieles mehr, sodass es eine Frage der Abwägung wird, ob man sich in seiner Rolle als Literaturwissenschaftlerin oder Literaturkritikerin überhaupt einem dieser psychologischen Wege verschreiben sollte oder gar müsste und wenn ja, dann bliebe freilich immer noch zu klären, welchem Modell kollektiver und individueller Seelennarrative es warum und mit welchen Analyse – und Interpretationsabsichten zu folgen gelte. Eine solche Entscheidung kann, inneren Konstitutionen des Gegenstandsfeldes geschuldet, durchaus immer wieder anders ausfallen und muss sich nicht notwendig mit einem Zugang als Methode jederzeit begnügen.

Agamben jedenfalls verweist auf den Band aus dem Jahr 1941, den Kerényi und Jung zur antiken Mythologie gemeinsam verfassten. Schon im ersten Kapitel seines Essays, das in das hier zu rezensierende Buch einführt, wird die „Einführung in das Wesen der Mythologie“ erwähnt. Agamben begreift diesen Band als wichtigen Bezugspunkt des eigenen Erkenntnisinteresses. Allerdings versäumt der italienische Philosoph, Jurist und Philologe es, bei dieser Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass Carl Gustav Jung eine wenig ruhmvolle Rolle innerhalb des Nationalsozialismus zukam. Das allein ist selbstverständlich innerhalb einer Rezension, die gleich noch allerlei Lobenswertes zu benennen wissen wird, durchaus vorab rügenswert.

Dazu tritt erschwerend noch der Tatbestand, dass die innerhalb des Vorworts zum „unsagbaren Mädchen“ verhandelten, möglichen Gründe dafür, warum diese mythologische Figurenbetrachtung einen so wenig passenden wissenschaftlichen Titel trug, sich unter Kenntnis der historischen Quellen und Dokumente als nicht zutreffend und deshalb äußerst unangemessen erweisen. In diesem Zusammenhang heißt es etwa wörtlich: „Es ist also möglich, dass der seriös und wissenschaftlich anmutende Titel ein Vorwand war, um der Aufmerksamkeit der nationalsozialistischen Zensur zu entgehen.“

So viel also zu einem singulären, aber keineswegs ganz unwichtigen Mangel der ansonsten so gelungenen Annäherung an Variationen über Persephone, die gleichbedeutend wird mit kore, was altgriechisch zunächst nicht mehr und nicht weniger als „Mädchen“ heißt.

Wieso nämlich sollte die „nationalsozialistische Zensur“ ausgerechnet einen Beitrag zensieren, an dem neben Kyréni, der allerdings zu ihren Kritikern zählte, auch C. G. Jung mitwirkte? C. G. Jung war nämlich genau jener Arzt, der schon sehr früh und sehr kategorisch im Sinne der Nationalsozialisten und gegen das von außen identifizierte, sogenannt „Jüdische“ Stellung bezog (hier teile ich eben nicht den Tenor der Darstellung, den „Wikipedia“ unter dem Namen des Schweizer Arztes präsentiert, da diese viele neuere Forschungsergebnisse ebenso wie manche etwas ältere unberücksichtigt lässt).

Andreas Peglau, der sich 2013 am Medizinischen Institut der Charité mit einer Arbeit promovierte, die mittlerweile auch als Buch vorliegt und den Titel trägt: „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“zitiert in Auszügen eine Passage C. G. Jungs, die dieser bereits 1934 im Zentralblatt für Psychotherapie veröffentlicht hatte und bewertet sie als „aggressivste Herabwürdigung im Zentralblatt für Psychotherapie“, die auf die Psychoanalyse Freuds ziele.

Peglau zitiert – und die Rezensentin folgt hier seinem Zitat – C. G. Jung so: „Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der bisherigen medizinischen Psychologie gewesen, dass sie jüdische Kategorien […] unbesehen auf den christlichen Germanen oder Slawen verwandte: […] Freud […] kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine germanischen Nachbeter sie kannten.“

Dies ist harter Tobak, der es nach verbietet, ein Werk C. G. Jungs als Bezugswerk eigener Forschung einzuführen, ohne dies detailliert, versiert, vor allem aber historisch fundiert zu kommentieren und zu begründen. Womit nicht gesagt worden ist, dass C. G. Jungs Psychologie insgesamt sich nicht des Nachdenkens und Lesens lohne. Sie braucht aus historischen Gründen eben noch dringender als dies für jede andere Theorie ohnehin und immer gilt, einen mitdenkenden und mitschreibenden, kritisch reflektierenden Leser, der statt einer generellen Verurteilung versucht, möglichst angemessen, fundiert und differenziert, auch im Vergleich zu anderen Psychologien zu Zeiten des Nationalsozialismus, den Grad der propagandatauglichen kollektiven Narrative innerhalb der Abhandlung (von wissenschaftlichem Anspruch) zu bestimmen und abzugrenzen von anderen, eventuell weniger fraglichen Theorie-Elementen.

Die Angelegenheit wird nicht nachvollziehbarer, bedenkt man zudem noch, dass Agamben in naiv wirkender Uninformiertheit darüber sinniert, welcher Kniffe und Tricks der Autoren es bedurft haben mochte, um eben diese, weiter oben bereits erwähnte „Einführung in das Wesen der Mythologie“an der nationalsozialistischen Zensur vorbeizumogeln.

Betrachtet man dies vor dem Hintergrund der schon lange bekannten Tatsache, dass C. G. Jung in Abstimmung und Kooperation mit M. H. Göring, unter dessen Leitung 1936 die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV) systemkompatibel gedreht wurde, aktiv und an ausgezeichneter Stelle die Entwicklung der „Deutschen Seelenheilkunde“ vorantrieb, so wird vollends unverständlich, warum hier Agamben, ein zweifelsohne exzellenter und wichtiger sowie historisch argumentierender Denker unserer Zeit, seine eigene Annäherung an einen antiken Mythos, der zugleich Mysterium ist, überhaupt an die Vorarbeiten von C.G. Jung ankoppelt (vermutlich ging es ihm in erster Linie um Kyréni) und warum das dann nicht wenigstens systematisch und historisch versiert kommentiert wird.

„Ich weiß nicht, wie ich sie fortan nennen soll“ oder das Mädchen zwischen Himmel und Erde

„Demetros arreton koren“, das „unsagbare Mädchen der Demeter“, so nennt Carcinos die Figur beim Namen, die zugleich Mythos und Mysterium ist. Und so, als Doppelgesichtige, stellt sie das Gegenstandsfeld des vorliegenden Bändchens dar. Dem habe ich auch diesen und die beiden gleich im Anschluss noch folgenden weiteren Belege entnommen.

Platon führt im „Kratylos“aus, viele hätten „vor diesem Namen Furcht“, um die Begründung dafür in einer Fehldeutung ihres Namens ebenso anzuschließen wie seinen Vorschlag der richtigen Deutung des Namens: „Denn sie denken an den durch Veränderung entstandenen Namen Persephone, die Überbringerin des Todes“, und es überkommt sie ein Grauen. Tatsächlich aber weist der Name auf ihre Weisheit hin. Denn weil die Dinge (pheromenai), also „ in Bewegung“ sind, so ist die Fähigkeit „sie anzufassen“ (ephaptomenon) und „ zu befühlen“ (epaphon) und ihnen nachzugehen nichts anderes als Weisheit. An anderem Ort vermerkt Platon dann noch „e de au par’emin kore kai despoina“, zu Deutsch: „bei uns Mädchen und Herrin“.

Kore ist zunächst die griechische Bezeichnung für das Mädchen, unstrittig die weibliche Form des Kindes, der mit koros, dem die Bedeutung Junge entspricht, dann noch eine männliche Form des Kindseins zugesellt wird.

Doch zugleich wird kore schon früh als Synonym für Persephone genutzt, für jene, die zwischen Himmel und Hades, zwischen Mutter und Mann, der sie raubte, hin und her gerissen wird, von Zeus, dem eigenen Vater in der Gestalt eines Stieres (laut anderer Quellen auch in der einer Schlange) geschändet und dann der Gleichgültigkeit preisgegeben, wird Persephone, kore, changierend in den Farben himmelblau bis erdfarben, zum Synonym des Unsagbaren schlechthin, auch des unsagbaren Leids und des unsagbaren Glücks, das eventuell untrennbar vom Erstgenannten erscheint. Dieses Unsagbare nun vertrauen Agamben und Ferrando ihrer ungewöhnlichen Annäherung an diese unendliche Geschichte des notwendig zu Verschweigenden an.

Der Dialog mit ungleichen Mitteln zwischen einem Philosophen und einer Malerin, die zugleich auch Philosophin ist, über das „unsagbare Mädchen“, etwas, was man nicht benennen kann und doch benennen muss, wenn auch notwendig nur unzutreffend, damit es nicht mehr ängstigt, wäre vielleicht argumentativ und historisch diskursiv noch überzeugender ausgefallen, wenn zusätzlich zu der vorgenommenen Verortung im Anschluss an Kerényi und Jung auf alle Fälle noch Hans Blumenbergs erstmals 1979 erschienene „Arbeit am Mythos“als für den eigenen Ansatz relevante Forschungsvorarbeit ernst genommen worden wäre.

Denn nur so hätte nachvollziehbar werden können, dass auch Wissenschaftsgeschichte im Flusse und also unter dem Diktum steter Veränderung sich selbst und ihren Gegenstand in den Blick bekommt. Genau dies aber, die Metaphorologie als die andere Seite jeder Begriffsgeschichte und die Begriffsgeschichte als die andere Seite jeder Metaphorologie darzustellen, das war eines der Hauptanliegen von Hans Blumenberg, des Wissenschaftshistorikers, Philosophen und Kenners der antiken Mythen. Seine angestrebte wechselseitige Erhellung von Mythengeschichte und Begriffsgeschichte, wie sie im großen wissenschaftshistorischen Projekt in kleinen Schritten mit historischem Sinn rekonstruiert wird, zeigt, dass jene Rede Kyrénis vom „Ur-Unentschiedenen“, vom „Urkind“, auf das Persephone sowohl als Mythos als auch als Mysterium verweisen soll, selbst eine mythische ist, da sie etwas voraussetzt, von dessen Existenz sie uns selbst allererst im Verlauf der Argumentation überzeugen will. Das ist kein Grund gegen sie, aber ein Grund dafür, sie nicht als evident vorauszusetzen, sondern als möglichen Grund aller Wirklichkeiten spekulativ zu bedenken. Denn auch der Logos dreht sich letztendlich gern im Kreis und ist in diesem hermeneutischen Zirkelschluss dem Mythos nah, beides aber dem Menschen unverzichtbare Weisen der Weltbetrachtung und der Selbstfindung. Das steht zumindest zu vermuten an.

Drei verschiedene Möglichkeiten vereint der Band, sich den Narrativen der Persephone, den Variationen und Remakes dieser griechisch antiken Figur, zu nähern. Zunächst führt Agamben essayistisch ein, in die Produktions- und Rezeptionsgeschichte eines Mythos, der auch Mysterium ist. Zugleich wird diese Einführung unterbrochen von einer zweiten Stimme, wenn man so will, die in teils farbigen, teils schwarzweißen Illustrationen von Monica Ferrando über das unsagbare Mädchen, bei dem es sich um Persephone handelt, schweigt.

Endlich finden sich viele unterschiedliche Quellen aus dem Altertum, die auf ebenso unterschiedliche Weise auf Persephone verweisen. Hier melden sich, thematisch geordnet, Homer, Ovid, Herodot, Euripides, Platon und Aristoteles und viele andere zu Wort. Im Grunde genommen prozessiert der Dialog mit ungleichen Mitteln das, was er behauptet: dass nämlich kore als Mythos unfassbar und als Mysterium unsagbar ist. „Kore ist das Leben“, so formuliert es Agamben einmal, „insofern es sich nicht „sagen“, also am Alter, an geschlechtlichen Identitäten und familiären oder sozialen Masken festmachen lässt.“

Tatsächlich setzen die vielen verbalen und zeichnerischen Annäherungen auf eine moderne und zeitgemäße Weise fort, was in der Antike bereits auf lexikografische, philosophische, lyrische, prosaische und dramatische Weise begann: die ohne eindeutige Klärung immer weiter fortschreitende Rede von dem „unsagbaren Mädchen Persephone“.

Von der Mutter betrauert wird die Tochter. Allerdings nicht, als sie Opfer des Vaters in Tiergestalt wurde. Ob Demeter davon wissen konnte, das sparen alle hier versammelten Varianten aus. Wohl aber betrauert Demeter ihr in den Hades verschlepptes Kind. Und in manchen Varianten des Mythos gelingt es Demeter dann, Kore vom Ehegatten aus dem Reich der Toten loszukaufen, allerdings nicht vollends.

Deshalb fristet Persephone innerhalb einiger Varianten ein Leben zwischen Himmel und Olymp der Götter einerseits und der Erde und des Abgrunds andererseits, zu dem die Zeichnungen Ferrandos passen. Blau wie der Himmel und Terracotta wie die Erde deuten diese stets mit aus der Aquarelltechnik bekannten Verwischungen nur an, was geschah. Doch in der Aussparung des Unsagbaren werden diese Illustrationen vielleicht gerade deutlicher als es jedes bürokratisch penible Polizeiprotokoll eines inzestuösen Übergriffs mit anschließender Entführung und Verschleppung durch einen zweiten Täter jemals könnte?

Gerade darin liegt die Kraft und Klarheit dieses Text-Bild-Dialoges begründet, einen antiken ästhetischen Freiraum des Umgangs mit Gewalt und Verlust, Trauer und Ohnmacht, aber auch Glück und Humor zu rekonstruieren, den man Mysterium oder Weihe nennt.

Immer dann, wenn die Dinge in mythischer Klarheit und abgegrenzt von all dem, was sie nicht bedeuten sollen, zu erscheinen beginnen, erwartet den Leser und die Leserin eine nächste Irritation, ein weiterer Hinweis, der den Übergang zum Mysterium vollzieht. Dieser führt dann rasch all die bis dahin fein säuberlich vorgenommenen Differenzierungen erneut ad absurdum. So künden etwa bestimmte Quellen von der Identität der Mutter mit der Tochter, also davon, dass Persephone mit Demeter identisch sei oder dass Persephone in Wahrheit jene sei, die man „epikaloumenes Kore cosmou“ nenne, also die „Kore vom Kosmos“.

Ganz offensichtlich ist die zentrale Figur der eleusischen Mysterien weder etymologisch noch begrifflich noch anders zu fassen.

Der Wort-Bild-Schlagaustausch jedenfalls, den der Philosoph Agamben und die Malerin Ferrando sich hier liefern, der ist – trotz der eingangs erwähnten Versäumnisse, – in einem außerordentlichen Maße lesenswert und betrachtungswert.

Ein Stück weit kann eine solche Lektüre vielleicht auch jene Jahreszeit hervorlocken, nach der wir uns langsam alle sehnen, etwa mittels dieser Worte aus dem „Hymnus in Cererem“, der von keinem Geringeren als von Homer stammt und in der Übersetzung in die deutsche Sprache wie folgt lautet:

„Wenn die Erde sich schmückt mit buntesten, duftenden Blumen,/wie sie der Frühling bringt, dann wirst du aus dämmrigem Düster/wieder auferstehn, – ein Wunder für Götter und Menschen“ – und eine echte Alternative zu dem berühmten literarischen Osterspaziergang, anlässlich dessen Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ bemerkt: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche/Durch des Frühlings holden, belebenden Blick.“

Titelbild

Giorgio Agamben: Das unsagbare Mädchen. Mythos und Mysterium der Kore.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
127 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783100005328

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