Auf der Gegenfahrbahn

Franz Hohlers „Der Geisterfahrer“ sammelt Erzählungen aus vier Jahrzehnten

Von André SchinkelRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schinkel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt sie noch, die wunderlichen und gleichsam kühn auf den Abakussen des Schicksals die Perlen herumschiebenden Erzähler, deren Gabe es ist, ein um das andere Mal ein Gemisch aus Staunen und Verhängnis, Feixen und Ergriffenheit zu erzeugen, dass es einem ganz erlaucht einerseits und ziemlich bange andererseits mit einem Mal wird; euphorisch, zerknittert, begeistert und erschreckt, leicht und schwer zugleich. Man darf vermuten, dass es sich bei dieser Art der Bekundung und, ja, Unterhaltung auf den höheren Plateaus um harte Arbeit handelt: es ist der Spagat, den gutes Erzählen erzeugt, das um seine Staffage, seine Gegenstände bekümmert ist, ohne den Drall eines absurden Humors zu verlieren.

Diese Art Erzähler hat einen kleinen Verbreitungsschwerpunkt in der Schweiz, die sich damit offen und erdkreisverwandt hält – anders, als es momentan in offiziösen Verlautbarungen den Anschein erwecken mag. Sie ist zu finden in der weitläufigen Generation, die dem weltliterarischen Schweizer Doppelgestirn Frisch/Dürrenmatt folgt, zu ihr gehört neben dem eigenartig ins Verblassen geratenden Adolf Muschg, dem melancholischen Magier der Skurrilität, Urs Widmer, quasi als Benjamin Franz Hohler, dessen Erzählsammlung „Die Rückeroberung“ seinerzeit für eine Menge Aufsehen und Ruhm sorgte. Als Paradebeispiel für Hohlers Gabe, Witz und Irrwitz, Verlockung und Verhängnis in eines zu bringen, ist gerade dieser Zyklus in seinem Nebeneinander von Humor und Fatum längst kanonisiert.

Dieser ‚Benjamin‘ feierte nun seinen sage und schreibe 70. Geburtstag mit der nahezu vollständigen Sammlung seiner Erzählungen unter dem Titel „Der Geisterfahrer“. Der Leser findet sich in der Umfassung durch den Erzähler sofort, gewissermaßen folgerichtig, auf der Gegenfahrbahn dessen, was man von einem idyllischen Wie-auch-immer-Lesenachmittag erwartet. Mag es mit dem „Ostermundingen“-Einstand noch bedingt gemütlich losgehen, wird einem dann aber doch bald blümerant und anders: In einer Eiterbeule findet ein Festumzug statt. Ein Langläufer fühlt sich (grundlos, wie man später merken wird) verfolgt und bricht schließlich zusammen. Einer schönen Frau hängt ein Stück Darm aus dem Mund, und alles geht über den Jordan. Eine kleine Armada Titelhelden verschwindet im Verlauf der ihnen jeweils zugeordneten Texte. Und nur dem Stein ist es gleich, er liegt dort, wo die Umstände es für ihn vorgesehen haben und versinkt an eben der Stelle, wo man ihn ins Wasser hineinwirft, er hat am Glück und Unglück seiner Finder teil, ohne dass es ihn jemals berührt, die Gebrechen der Menschenwelt sind ihm egal.

Hohler scheint auf den ersten Blick der eingängigste der Schweizer Erzähler, im bestgemeinten Sinne der Kabarettist unter ihnen zu sein. Sein ausgeprägter Hang zur Überspitzung schlägt sich auch in den anderen Teilen seines umfänglichen und nur mit einiger Mühe überschaubaren Werks nieder: Romane, Miniaturen, Gedichte, Kinder- und eben auch kabarettistische Texte. Das vorgeblich leichte, sprachlich oft unaufwendig verpackte Spiel mit dem Ungeheuerlichen zeigt sich dabei durchaus wandelbar und facettenreich – gerade in den späten Sammlungen „Die Torte“ (2004) und „Der Stein“ (2011) gibt es durchaus eine Besinnung auf stillere Töne, in der furiosen Erzählung „Die Mönchsgrasmücke“ etwa oder im „Bianca-Carnevale“-Epos. Geschichten aus über vier Jahrzehnten sammelt „Der Geisterfahrer“, sechs Sammlungen Hohlers finden Beachtung, aus dem 2003er-Zyklus „Die Karawane am Boden des Milchkrugs“ gibt es nur die zwei offenkundigen Erzählungen, die kleinen Formen des Bands sind für eine spätere Auswahl im Rahmen einer Gesamtausgabe des Hohler‘schen Werks zumindest in Aussicht gestellt.

Eine echte Entdeckung: die Fortsetzungsgeschichte „Das verspeiste Buch“, die sich, Jahr für Jahr, Kapitel für Kapitel, Blatt für Blatt in den Großvater-Magen wandernd, ab 1987 bis Mitte der 1990er-Jahre ‚entfächert‘ und so etwas wie das heimliche Zentrum des Erzählens von Franz Hohler darstellt. Ausgehend von einem an sich banalen Missverständnis formt sich die ganze Welt, indem sie sich auf einen Punkt konzentriert und gleichzeitig Weite behält. Aber bis man dorthin gelangt, passiert bereits so einiges – bereits in den früheren Grotesken tarnt sich der Umstand eines ausweglosen Agierens mit einer gehörigen Portion Schreckensgelächter. Ein Teufel etwa – zufällig und unbedacht ins Haus geholt – erscheint bei Hohler durchaus als haltbares Haustier, auch wenn anhand seines Gebarens schnell offenbar wird, dass etwas nicht stimmen kann. Auch die Diktatur eines zu fütternden Kleinkinds, dessen Verhalten zu fürchterlichen Verrenkungen führt, gruselt und belustigt zugleich; sie lässt die Ambivalenz dieser Prosa seltsam schimmern.

Mit Versuchsanordnungen wie „Der Kuss“ und „Der Bleistiftstummel“ hält Hohler zudem ein, zwei Blicke auf die Mechanik seines Schreibens parat, die zeigen, dass eine Trennung zwischen dem (gelittenen) Genre der Erzählung und der (belächelten) Gattung der Miniatur bei diesem Autor eigentlich absurd ist. Das Entbehrlichste an diesem Buch indes dürfte das Begleitwort von Roger Willemsen sein – Willemsen, als eine Art Vorzeige-Intellektueller einer informationshysterischen Gegenwart, tut weder sich noch dem achtbaren Werk Hohlers einen sonderlichen Dienst damit. Dass es sich dabei um die freundliche Mitteilung von ausgesucht und zuweilen düster Exorbitantem handelt, mag jedem Leser am Ende dieser Ausgabe aufgegangen sein. Im Interesse einer größeren Rundheit wäre zu überlegen, ob man den Text in einer eventuellen Nachauflage des Bands nicht einfach weglässt.

Titelbild

Franz Hohler: Der Geisterfahrer. Die Erzählungen.
Luchterhand Literaturverlag, München 2013.
576 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873824

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