„Uns bleibt die Poesie“
Nancy Hüngers ‚Familienalbum‘ „Wir sind golden, wir sind aus Blut“ in der edition AZUR
Von Maren Jäger
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWar die edition AZUR in den ersten Jahren nach ihrer Geburt im Jahr 2005 – mit dem Erscheinen von Jan Röhnerts „Die Hingabe. Endloser Kokon“ – noch eine Reihe unter dem Dach des Jenaer glaux-Verlags, hat sie sich seit 2009 als eigenständiger Verlag etabliert, dessen Schwerpunkt (ein kühnes, weil riskantes Unternehmen!) auf der jüngsten deutschsprachigen Gegenwartslyrik liegt: Debüts von jungen Autoren wie Nancy Hünger, Stephan Turowski oder Sascha Kokot werden flankiert von Publikationen renommierter Dichter wie Thomas Kunst, Gisela Kraft oder Sudabeh Mohafez. Aber auch Kurz- und Kürzestprosa hat die edition in der Backlist, daneben großartige Anthologien wie die von Andreas Kramer und Jan Volker Röhnert herausgegebene: „Die endlose Ausdehnung von Zelluloid. 100 Jahre Film und Kino im Gedicht“. Der größte kommerzielle Erfolg (und mittlerweile in zweiter Auflage erschienen, nachdem die Erstauflage von 2010 rasch vergriffen war) gelang dem kleinen Verlag mit der prominentesten Kürzestform: Aphorismen – in einem von Alexander Eilers und Tobias Grüterich herausgegebenen Band, der unter dem Titel: „Neue deutsche Aphorismen“ über Tausend Aphorismen von über hundert zeitgenössischen Autoren versammelt, darunter Elazar Benyoëtz, Franz Josef Czernin, Peter Handke, Franz Hodjak und Martin Walser. Hinter der edition AZUR steht mit Helge Pfannenschmidt (geboren 1974) ein ebenso trotziger und mutiger wie engagierter und beharrlicher junger Verleger, der zu seinen Autoren und Autorinnen steht und sein Unterfangen als „Entdeckerverlag“ beschreibt, oder „als Podium für Autoren, die vor der Unübersichtlichkeit der Zustände nicht die poetischen Waffen strecken, sondern eine adäquate Sprache für sie suchen; für Autoren, die sich der Gegenwart an die Fersen heften, ohne ihr auf den Leim zu gehen; für die Versprengten und Vereinzelten, die jenseits der Diskursmoden schreiben …“ Dass diese Selbstdarstellung auf der Verlagshomepage keineswegs ein Realitätsverlustgeschäft kaschiert, sondern Teil eines äußerst lebendigen Programms ist, beweist die Kontinuität des Unterfangens: In zehn Jahren sind nunmehr dreißig Bände erschienen, zunächst in Faden- oder Klammerheftung und Klappenbroschur (wie die Blaue Reihe, die neben Röhnerts Langgedicht Bände von Stephan Turowski und Matthias Jeschke und eben Nancy Hünger umfasst). Mittlerweile kommen zunehmend Hardcover aus der Werkstatt der Gestalter Frauke Wiechmann und Vincent Kraft: bislang erfreulicherweise ohne jegliches Corporate Design, dafür mit einer Ausstattung, die jeden Einzeltitel sparsam, aber klug inszeniert und kommentiert.
Schön und eigenwillig präsentiert sich auch der Band „Wir sind golden, wir sind aus Blut“ mit Gedichten von Nancy Hünger, die – mit wenig mehr als 30 Jahren (geboren 1981) – schon fast den Rang einer ‚Hausautorin‘ beanspruchen darf, da dies bereits ihre fünfte Publikation in der edition AZUR ist. Nach zwei Lyrikbänden („Aus blassen Fasern Wirklichkeit“, 2006, und „Deshalb die Vögel. Instabile Texte“, 2009) und einer CD mit Gedichten („Aus einem erfundenen Land“, 2009) erschien zuletzt 2012 der lyrische Prosatext „Halt dich fern“. Die Gedichte der mehrfach (zuletzt mit einem Stipendium des Künstlerhauses Edenkoben) ausgezeichneten Autorin, die ihr Studium der Freien Kunst an der Weimarer Bauhaus-Universität 2007 mit einer Arbeit zur Ästhetischen Theorie Adornos abschloss, findet man aber auch in der Anthologie „Lyrik von Jetzt zwei“ (2008) oder Zeitschriften wie EDIT (Nr. 40, 2006), Manuskripte (Nr. 181, 2008), Sinn und Form (H. 1, 2009) oder BELLA Triste (Nr. 26, 2010).
Der Untertitel „Ein Familienalbum“ lässt an uninspirierte, aus spröde gewordenen Fotoecken rutschende biedermeierliche Schnappschüsse von rotäugigen Familienmitgliedern mit Kindern und/oder Haustieren denken, an private Momentaufnahmen von begrenztem Interesse und noch begrenzterem Unterhaltungs- oder gar ästhetischem Wert. Tatsächlich enthält das quadratische Bändchen auf seinen 80 Seiten ein Dutzend farbige Bilder, die zwischen die im Blocksatz arrangierten Texte eingelegt sind. Aber von vergilbter Nostalgie keine Spur.
Wie eine Notiz am Ende des Bandes verrät, fanden die Autorin und der Fotograf in einem Abrisshaus eine Kiste mit Fotos, die die Feuchtigkeit zu Stapeln verklebt hatte. Nancy Hünger und Andreas Berner wurden zu Archäologen dieser fremden Familiengeschichte: „Schicht für Schicht lösten sie die Bilder voneinander ab und verfolgten – jeder für sich – verschiedene Stränge der sich vor ihnen ausbreitenden Erzählung.“ In den behutsam bearbeiteten Fotos scheinen Fragmente, Augenblicke von Familiengeschichte auf, manchmal treten aus den opaken, schlierenhaften Quadraten Figuren hervor, das Profil eines Mannes, mal die Hand eines Kleinkinds, mal ein Hund, eine Strandszenerie, Handtücher, Körbe, Kisten, Requisiten heimischer Wohnräume. Die Fotos sind vielschichtig, beschädigt, gleichsam sedimentierte, verdichtete Zeit, in Schichten übereinandergewachsen – wie auch die Prosa von Nancy Hünger Zeitschichten aufeinanderlegt, ineinanderflicht zu einer Gegenwart, in der Erinnerungen aus unterschiedlichsten Tiefen implodieren: „Wir haben also nichts in der Hand, nur unser beschädigtes Gedächtnis: Etwas war einmal, bevor wir denken konnten, hatte alles bereits begonnen, wir wissen nichts mehr und das ist nicht wahr.“
Der stream of consciousness entpuppt sich als stream of memory sprachlich überformter Erinnerung, der auf das Präteritum als notorisches Erzähltempus verzichtet – und gerade durch seine wiederkehrenden Beteuerungen des Nichtwissens, Nichterinnerns, des Nichterzählenkönnens an Authentizität gewinnt.
Das Buch ist in 26 Kapitel unterteilt, die oft nicht mehr als eine Seite lang sind; in jedem ist ein Satzfragment in Kapitälchen hervorgehoben, das zur Überschrift wird. „HIER FEHLT EIN AUGE“ heißt eines dieser Kapitel, ein anderes „WIE MAN MIT DEN ALTEN TEIFELN UMGEHT“.
Nancy Hüngers kunstvoll rhythmisierte Prosa nimmt ihren Ausgang von Sinnlichem, denn „bevor wir denken konnten, konnten wir sehen, riechen, hören, schmecken und fühlen“; sie entzündet sich am Duft des Obstes, dem Gestank einer verwesenden Amsel hinterm Ehebett der Eltern, an den „Ähren auf dem Feld, die weich waren wie das Fell der Kätzchen“, stößt sich ab von im Wortschatz „abgesunkenen Reimen“, nostalgisch-populär-volkstümelnden Fragmenten wie roten Rosen, schwarzbraunen Haselnüssen oder griechischem Wein, von kindlichen Sprachspielen wie „Ich packe meinen Koffer“, die in immer neuen Anläufen poetisch angereichert werden. Solche verbrauchten Slogans sind nur verbales Treibgut im Strom von Hüngers Text, der der Mechanik der Sprache eine neue Form abgewinnt, sie in eine fluide Syntax bringt, deren Bezüge sich mit jedem neuen Wort überraschend rearrangieren. „Eine Herrin der Worte“ nennt Gisela Kraft die junge Lyrikerin, die alle Register beherrscht, über ein gewaltiges Lexikon verfügt, aus dem sie für ihre tastenden poetischen Annäherungen an die Wirklichkeit ältere Sprachstufen und vergessene Vokabeln wiederbelebt, Archaismen mit Neologismen versetzt und in kunstvoll modulierten Mustern aus anaphorischer Verklammerung, Wiederholung und Variation zu einer „Litanei aus den Worten“ formt: „Wir klopfen auf Holz“, „Wir sitzen am Katzentisch“, „Wir sitzen im Sarg“, „Wir sagen ex und hopp“ und „Wir sind über 30 und stehen in unseren Kinderschühchen, stehen im Sonntagsstaat rauchend auf dem Schindanger, der eigentlich ein Garten ist, und ziehen Kreise in den Staub, denn hier ist unsere Sprache am Ende, auf dem Schindanger muss man nämlich schweigen, HIER HERRSCHT TOTENRUHE, BITTESCHÖN!“
Ist das Prosa? Lyrik? Ein Langgedicht? Wer spricht hier? Und: mit wem? Philologische Orientierungsmarken versagen: Nicht nur der Flattersatz ist – wie schon Heissenbüttel konstatierte – dem Gedicht abhandengekommen, auch das ‚lyrische Ich’ ist längst obsolet geworden. Immer wieder geht hier das vor sich hinsprechende, die Dinge besprechende, Erinnerungen beschwörende Ich in einem Wir auf, wird eins mit seinen Geschwistern, seinem Cousin und seinem Gegenüber: „wen kümmerts, sind wohl wir, weil wir ja identisch, schreibst du, du bist ich und umgekehrt, die Rechnung gefällt mir nicht, ich rechne, eins und eins ist eins“.
Ein Stilzug, der den Ton aller Texte Nancy Hüngers prägt, ist die Suggestion von Mündlichkeit. Aus diesem Buch spricht es: „Du sollst nicht traurig sein“, fragt es: „HÖRST DU DAS“; „merk dir das“ befiehlt ein autoritärer Erwachsenenton, „nicht wahr?“ wirbt eine leise Stimme um Einvernehmen, „sag“ fordert es, und „weißt du noch“ flüstert es immer wieder als verschwörerisches Leitmotiv gemeinsamer Erinnerung. Und auf einmal ist der Leser Teil der lyrischen Erinnerungsarbeit und ihrer Versprachlichung: „Weißt du wo, sag mir wie diese Geschichte beginnt, beginnen sollte, haben wir etwas damit zu schaffen, sag, wann hat alles begonnen, hast du den Anfang zur Hand einen Faden für mich das Leichte zu vernähen uns aneinander, hast du alles verstanden oder nur einen Teil, kommt es dir nicht vor, als hätten wir alles schon einmal gehört, als liefe diese Platte seit Anbeginn hat einen Sprung, wiederhole ich mich, wiederholst du dich, HABEN WIR EINEN SPRUNG und erzählen immer Immergleiches nur neu sortiert ist es doch das Immerimmergleiche wird wohl nicht weniger wichtig, nutzt sich nicht ab oder doch. Wiederhole ich mich, wenn ich frage, wenn ich wieder und wieder frage, wie das denn alles angefangen habe, wiederhole ich mich, wenn ich frage, ob sich da etwas fortsetzt, fortschreibt, forterzählt in uns, mit uns, durch uns.“
Diese – wie es in der Verlagsankündigung heißt – „abgründige, restlos desillusionierte Erzählung“ über Abschiede, Vergeblichkeiten, über „Kinder, die ewig Kinder bleiben werden“, ist tieftraurig, manchmal zornig, zugleich von einer bestechenden Schönheit – wie die erschütterndsten Passagen aus Inger Christensens „alfabet“ durch ihre poetische Kraft schön sind. Das Motto der edition AZUR lautet: „Uns bleibt die Poesie“. Diese trotzige Gewissheit macht Nancy Hünger mit ihrer leisen poetischen Prosa, ihrer präzisen Feinarbeit am Sprachkörper zu einer der stärksten Stimmen der jüngsten deutschsprachigen Lyrik.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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