Wie ein schwäbischer Student um 1750 Dichter werden wollte

Neue Recherchen über Spuren des jungen Christoph Martin Wieland in Tübingen

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter den nicht wenigen Aktivitäten, Gedenkstätten, Museen und Schriftenreihen zur Erschließung und Pflege der Kultur- und Literaturgeschichte in den deutschen Regionen gehören die Angebote aus Schwaben seit vielen Jahrzehnten zu den profiliertesten – zur Kurzinformation für Nichtschwaben oder gar Norddeutsche: gemeint ist das Schwaben im Bundesland Baden-Württemberg, das Schwaben der Schiller und Hölderlin, Mörike, Schelling und Hegel („… das ist bei uns die Regel“), nicht das heute in Bayern gelegene Schwaben von Jakob Fugger bis Bertolt Brecht und W. G. Sebald mit seinem Zentrum Augsburg, und das nach 1945 irgendwie mit Württemberg zusammengebrachte Baden zwischen Heidelberg, Mannheim, Karlsruhe und Freiburg ist schon gar nicht gemeint. Die Deutsche Schillergesellschaft mit ihrem Sitz nicht in Stuttgart, sondern in Marbach am Neckar und das dortige Deutsche Literaturarchiv und Literaturmuseum der Moderne sind nicht die einzigen, aber die aktivsten und reichhaltigsten Einrichtungen dieser Literaturlandschaft. Drei ihrer Schriftenreihen (die man abonnieren kann) sind die 1956 von Bernhard Zeller begründeten „Marbacher Kataloge“ über die Sonderausstellungen früher des Schiller-Nationalmuseums, heute des Deutschen Literaturarchivs; dann das „Marbacher Magazin“, das ebenfalls Publikationen zu den großen, überregional beachteten Wechselausstellungen des Archivs bringt[1], aber dazwischen auch viele andere interessante Themenhefte, etwa Autorenporträts, die Nr. 1 von 1976 ist noch in Form eines Faltblatts erschienen und dem Thema „Goethe und Cotta“ gewidmet, „aus den Beständen des Cotta-Archivs“ bearbeitet von Dorothea Kuhn; und drittens die „Spuren“, eine Reihe der Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten der Schillergesellschaft, gegenwärtig herausgegeben von Thomas Schmidt, in der Essays und Archivrecherchen über das Verhältnis von Dichtern zu bestimmten Orten erscheinen. Die „Spuren“ gibt es seit 1988, gegründet wohl von Thomas Scheuffelen, und die vorletzte Nummer, das Jubiläumsheft 100 (von Anfang 2014), ist dem Besuch des französischen Philosophen Jean Paul Sartre (in der Gesellschaft Daniel Cohn-Bendits) in der Justizvollzugsanstalt Stammheim im Jahre 1974 gewidmet, auch das ein Gedächtnisort, und Gudrun Ensslin war bekanntlich eine schwäbische Pastorentochter.[2] Wenn man die Liste der bisher erschienenen „Spuren“ durchgeht, fällt zudem eine Kuriosität auf: Wirklich jedes Heft von 1988 bis heute umfasst genau 16 Druckseiten und kostet nicht mehr und nicht weniger als genau 4.50 €.

In den „Spuren“ Nr. 101, der auf das Jubiläumsheft folgenden Ausgabe, schreiben Dieter Martin, Neugermanist in Freiburg i. Br., und die junge Historikerin Andrea Riotte (aus Biberach) über die Studienjahre Christoph Martin Wielands (1733-1813) an der Landesuniversität des damaligen Herzogtums Württemberg in Tübingen.[3] Wieland kam aus der ehemaligen Reichsstadt Biberach im Südosten Württembergs („Oberschwaben“) und wurde in einem Dorf in der Nähe geboren, der Vater war lutherischer Pastor mit pietistischem Hintergrund. Der Sohn erhielt zunächst Privatunterricht, besuchte dann die „nach der Hällischen instruction“ August Hermann Franckes geführte städtische Lateinschule, ehe er an das Internat Kloster Berge bei Magdeburg geschickt wurde, wo ebenfalls im Halleschen Geist erzogen wurde. Nach einem Aufenthalt im Winter 1749/50 in Erfurt, wo er sich für Philosophie einschrieb, geht Wieland ein paar Monate nach Hause zurück und verbringt dann zwei Jahre vom Herbst 1750 bis Herbst 1752, von seinem 17. bis zum 19. Lebensjahr, als Jurastudent in Tübingen. Der Studienaufenthalt wird durch ein von Biberach mitfinanziertes Begabtenstipendium der Hochmann’schen Stiftung ermöglicht, und er wohnt am Neckar auch in der Einrichtung dieser im vorangehenden Jahrhundert gegründeten Studienstiftung, dem „Hochmannianum“. Dessen Leiter, der Theologe Johann Gottlieb Faber, unterrichtete die Artes, darunter auch Poetik und Poesie, wahrscheinlich im Stil der herkömmlichen Schulrhetorik. Die Häuser der zahlreichen Stipendien, die es in vielen Universitätsorten gab, wurden selbst „Stipendium“ oder „Stift“ genannt, so wie auch ein anderes in Tübingen: das bei weitem berühmtere, im frühen 16. Jahrhundert vom Herzog von Württemberg gegründete „Evangelische Stift“.

Der frühreife, bei aller Abhängigkeit offenbar ungewöhnlich selbstbewusste Jüngling verabscheut das Jurastudium und die gelehrte Profession dazu (obwohl solides juristisches und rechtshistorisches Wissen später in der Tätigkeit als Kanzleibeamter in Biberach und überall in den Werken des Schriftstellers nicht zu übersehen ist). Er strebt je länger desto entschiedener aus der akademischen Welt hinaus in die Welt der Poesie, aber nicht der vom Direktor Faber gelehrten Versemacherei im Nebenberuf, deren man überdrüssig ist, sondern der neuen, empfindsam-spekulativen Poesie, die den ganzen Mann erfordert und als deren strahlend-erfolgreiches Vorbild in diesen Jahren Friedrich Gottlieb Klopstock gelesen und verehrt wird. Sein wenige Jahren zuvor gedruckter „Messias“ ist auch der Leitstern der jungen Autoren und Kritiker um den Zürcher Professor Johann Jakob Bodmer, und so wünscht sich der Tübinger Pastorensohn nichts sehnlicher als eine Einladung nach Zürich, das vom Vater und dem Biberacher, aber auch dem Tübinger Milieu kulturell sehr viel weiter entfernt ist als geografisch.

Mit anderen Worten: Er möchte Dichter im Hauptberuf werden, wie dies um diese Zeit in Deutschland auch andere versuchen, wenngleich selten mit dauerhaftem Erfolg. Man denke an den jungen Lessing in Leipzig und dann in Berlin ein paar Jahre vorher, auch er Pastorensohn, der es aber mit anderer Praxis, in anderen Rollen versucht als Wieland, nämlich als Autor fürs Theater und als Kritiker. Noch vor Tübingen, während des kurzen Aufenthalts in der Heimatstadt, verliebt er sich und verlobt sich in aller Eile mit Sophie (der späteren, mit einem anderen Herrn verheirateten Autorin Sophie von La Roche), und nicht zuletzt mit dem Wind dieser ganz persönlichen Inspiration in den Segeln verfasst er, auch gewissermaßen als ‚Bewerbungsunterlagen‘, eine ganze Reihe poetischer Versuche, die alle noch bis Mitte 1752 gedruckt werden, – und hat tatsächlich Erfolg mit seinen Zürcher Aspirationen.

Die Texte der frühen Tübinger Dichterei (unter anderem „Anti-Ovid, oder die Kunst zu lieben“, „Lobgesang auf die Liebe“, „Zwölf moralische Briefe in Versen“, „Der Fryling“ – alles 1752) werden genannt, und zur institutionellen und personalen Seite des Aufenthaltes bietet das Heft eine Reihe gut recherchierter Details[4], die die Forschung so genau nicht kannte: besonders über das Hochmann’sche Stift und die Hintergründe der Beschaffung des Stipendiums, den Lehrer Faber (über dessen Lehrinhalte man aber dann doch zu wenig Konkretes erfährt) und sehr kurz auch über die vorausliegenden Stationen in Kloster Berge und Erfurt. Freilich werden diese Details nicht einmal in Ansätzen – die auch auf engem Raum immer möglich sind: man muss sie nur formulieren wollen/können – auf die größeren bildungs- und literaturgeschichtlichen Fragen der Umbruchzeit bezogen, die sich im mittleren 18. Jahrhundert auch in südlicheren Regionen Deutschlands ankündigen und in deren Konstellationen sie durchaus hineinführen können: etwa auf die Verschiebungen in den Curricula und Lehrinhalten der Schulen und Hochschulen, das allmählich veränderte Verständnis von dichterischer Invention, Poetik, Kritik und Rhetorik, das auf längere Sicht zur Entwertung dieser kulturellen Basisdisziplin geführt hat, die Differenzierungen und Umbesetzungen im Rollenspektrum des Dichters, generell des literarischen Autors, und auf vieles andere mehr.

Deshalb bieten diese neuen Mitteilungen aus Marbach leider kaum Neues über das hinaus, was man vor allem in den 3 Bänden von Starnes[5] und in den beiden Wieland-Handbüchern von München (Beck) 1994 und Stuttgart (Metzler) 2008 über die Tübinger Zeit und das Frühwerk Wielands lesen kann, von den (freilich spärlichen) älteren Spezialbeiträgen ganz abgesehen, und es wird auch nicht versucht, sie auf bekannte Fragestellungen (allenfalls auf andere schon bekannte Details) zu beziehen, von neuen Fragestellungen ganz zu schweigen.

Anmerkungen:

[1] Bis Ende März 2014 lief eine Ausstellung über den Ersten Weltkrieg: „August 1914. Literatur und Krieg“. Dazu das Marbacher Magazin Nr. 144, 2013, diesmal in 3 Bänden.

[2] Günter Riederer: „Sartre in Stammheim“. Reihe Spuren, Heft 100 (2013).

[3] Vgl. den Schwerpunkt zum 200. Geburtstag von Ch. M. Wieland in Heft 2/Februar 2013 von literaturkritik.de, mit sechs Essays über den Klassiker von Jan Philipp Reemtsma und anderen.

[4] Vgl. auch Andrea Riotte: „Diese so oft beseufzte Parität“. Biberach 1649-1825: Politik – Konfession – Alltag. Diss. Tübingen 2012.

[5] Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk; aus den zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt. 3 Bände. Sigmaringen: Thorbecke 1987. In Ermangelung der umfassenden Biografie bis auf weiteres die breiteste Grundlage für unsere Kenntnis von Leben und Werk des Dichters.

Titelbild

Dieter Martin / Andrea Riotte: Wieland in Tübingen.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2014.
16 Seiten, 4,50 EUR.
ISBN-13: 9783937384900

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