Das Geheimnis von Max Webers Größe

Einblicke in Paradoxien der Person und des Werkes 150 Jahre nach seiner Geburt

Von Hans-Peter MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Peter Müller und Steffen SigmundRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Sigmund

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2014

Das Jahr 2014 markiert die hundertjährige Wiederkehr des Ersten Weltkrieges. Es erinnert aber auch an den 150. Geburtstag von Max Weber. Das zufällige Zusammenfallen dieser beiden Ereignisse ist besonders aufschlussreich. Denn dieser Krieg zerstört das wilhelminische Kaiserreich und bringt damit die Gesellschaft zu Fall, in deren Kontext Max Weber vornehmlich gelebt und gewirkt hat. Unter Kaiser Wilhelm II. driften die Modernisierungskräfte in Gestalt von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik auf der einen Seite und die reaktionären Beharrungskräfte in Gestalt von Kaiser, Adel und Militär auf der anderen Seite in der wilhelminischen Gesellschaft immer weiter auseinander. Größe und Elend des Kaiserreichs treten somit deutlicher hervor. Es geht um weitere Traditionalisierung und Feudalisierung oder Modernisierung und Industrialisierung im Kampf zwischen dem preußischem Adel und dem erstarkenden Bürgertum und der Arbeiterklasse. Einerseits ist Deutschland zu einer wirtschaftlichen Großmacht herangewachsen, die seine europäische Konkurrenz hinter sich gelassen hat und auf Augenhöhe mit der anderen jungen Nation in der Neuen Welt, den Vereinigten Staaten von Amerika, steht. Andererseits sucht dieses deutsche Kaiserreich politisch unsicher nach seiner Rolle in Europa und der Welt, träumt von Lebensraum und Vorherrschaft in Mitteleuropa und begibt sich durch den Dreibund mit Italien und einem dem Untergang geweihten Habsburger Reich auf den absteigenden Ast der Geschichte.

Am Ende dieses Schlingerkurses steht der Beginn des Ersten Weltkrieges. Sein Verlauf wirft Deutschland auf den Status der politischen Bedeutungslosigkeit zurück. Die Revolution von 1918 und der Beginn der Weimarer Republik entsorgen zumindest den Traditionsballast, denn der Kaiser Deutschlands ist nach Holland geflohen, und so geht die Herrschaft der Hohenzollern sang- und klanglos zu Ende.

Max Weber ist ein durch und durch politischer Mensch, der schon in seinem bürgerlichen Elternhaus mit der nationalliberalen Partei und ihren Repräsentanten Bekanntschaft macht. Er ist ein aufrechter Patriot, dem Größe und Schicksal Deutschlands zur obersten Richtschnur politischen Denkens wird. Seine politische Sozialisation wird geprägt durch die Erfahrung mit den beiden Haupt- und Reizfiguren der Geschichte des Kaiserreichs: auf der einen Seite der eiserne Kanzler mit seinen Vorzügen, aber auch seinen unbestreitbaren Schwächen; auf der anderen Seite der jugendlich-nervöse Kaiser, der Deutschland mit allen Mitteln einen ‚Platz an der Sonne‘ verschaffen will.

Soziologisch gesehen, entwickelt Weber ein agonales Verständnis von sozialer Wirklichkeit, in dem Konflikt und der ewige Kampf um Macht, Herrschaft und Einfluss in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen dominieren. Im Zentrum seines Ansatzes steht deshalb eine Herrschaftssoziologie, die die Formen und Konstellationen von Machtgefügen nebst ihren Rechtsformen und Verwaltungsapparaten in der Geschichte zu untersuchen erlaubt. Flankiert werden Politik und Herrschaft durch Wirtschaft, Technik und Kapitalismus auf der einen Seite, Kultur, Religion und Wissenschaft auf der anderen Seite. Der Kapitalismus als Antriebsmotor der modernen Gesellschaft gilt Weber als „schicksalsvollste Macht des modernen Lebens“ und avanciert zum Anathema seiner Soziologie. Religion, Wissenschaft und Kultur hingegen sind die Mächte, die dem sozialen Leben und der Lebensführung der Menschen erst Sinn und Bedeutung verleihen. ‚Was soll ich tun?‘ und ‚Wie soll ich leben?‘ – sind Fragen, die klassischerweise die Religion als zentrale Lebensführungsmacht vor allem vormoderner Gesellschaften zu beantworten hatte. Die neuzeitliche Wissenschaft leistet Hilfestellung für das soziale Leben und für die individuelle Lebensführung, weil sie durch wachsende Erkenntnis und Technik immer weitere Bereiche der Gesellschaft mit dem Prinzip der Berechenbarkeit beherrschbar macht. So gesehen, werden Wirtschaft, Politik und Kultur in Antike, Mittelalter und Moderne je einzeln und in ihrem Zusammenspiel thematisch in Webers Werk und spannen einen weit gesteckten Forschungskosmos in seinen Arbeiten auf.

Gerade weil Weber als Kind seiner Zeit einerseits ein wilhelminischer Mensch ist, andererseits aber sein Interesse als moderner Mensch auf die Ambivalenzen, Widersprüche und Konflikte der Moderne richtet, steht er uns fern und ist uns fremd, um zugleich nah und vertraut zu erscheinen. Er wirkt fern und fremd, weil die genuinen Probleme und Spannungen des wilhelminischen Kaiserreichs heute allenfalls noch ein historisches Interesse zu wecken vermögen. Er wirkt überraschend nah und vertraut, wenn er über den Tellerrand seiner wilhelminischen Zeit hinausblickend die Eigenart und Einzigartigkeit der modernen Gesellschaft in Augenschein zu nehmen vermag.

Intellektuell frühreifes Sorgenkind

Am 21. April 1864 wird Max Weber in Erfurt als erstes von acht Kindern in die großbürgerliche Familie von Max Weber sen. und Helene Fallenstein geboren. Sein Vater ist Jurist, stammt seinerseits aus dem Bielefelder Handelspatriziat, ist Magistrat in Erfurt, um dann 1869 Stadtrat in Berlin zu werden und eine Karriere in der Nationalliberalen Partei im Preußischen Abgeordnetenhaus zu beginnen. Max Weber sen. verkörpert den Typus eines bürgerlichen Politikers, pragmatisch, tagespolitisch orientiert, also das, was man mit Wolfgang Mommsen als ‚selbstzufriedenen Honoratiorenliberalismus‘ bezeichnen könnte. Sein persönlicher Hedonismus und seine Lebenslust kollidieren immer wieder mit den pietistisch gefärbten Überzeugungen der Mutter. Denn Helene Fallenstein, deren Großvater Regierungsrat und später geheimer Finanzrat im Berliner Ministerium war, verfügt über eine hohe Bildung, durchaus untypisch für Frauen dieser Zeit, und setzte sich vor allem mit religiösen und sozialen Problemen auseinander. Ihr Engagement für die Armen führt zur Etablierung einer Armenverwaltung innerhalb der Charlottenburger Stadtverwaltung.

Max gilt als großes Sorgenkind, erkrankt mit vier Jahren an Meningitis, hat einen mächtigen Schädel, so dass man schon Angst vor einer Wasserkopfbildung hatte, und wird folglich von der Mutter übervorsichtig und protektiv erzogen. Gleichzeitig macht Max schon früh sein Recht als Erstgeborener geltend und fühlt sich in der Rolle als Kronprinz, aber auch als Vermittler in Streitfällen zwischen Eltern und Kindern. Als Jugendlicher in Berlin gilt er als verschlossen, nimmt die Welt vorwiegend durch die Brille seiner Familie und Verwandtschaft wahr. Er gilt als emotional gehemmt, zumal er sich schwer tut, Gefühle zu zeigen. Intellektuell nimmt er eine rasante Entwicklung: Mit 13 Jahren hat er Schopenhauer, Spinoza, Kant gelesen, das Werk von Goethe heimlich unter der Schulbank. Mit 15 Jahren hat er sämtliche antike Klassiker verschlungen wie Homer, Herodot, Vergil, Lucius, Cicero und Sallust. Entsprechend charakterisierte er sich selbst: „Ich bin intellektuell früh, in allem übrigen aber sehr spät reif geworden“.

Im Jahr 1882 legt er sein Abitur am Königlichen Kaiserin-Augusta-Gymnasium in Charlottenburg ab und beginnt mit dem Studium der Jurisprudenz, Geschichte, Philosophie, Theologie und Nationalökonomie. Zunächst verbringt er drei Semester in Heidelberg, 1883 absolviert er eine einjährige Militärzeit in Straßburg. Dort verbringt er viel Zeit in der Familie Baumgarten. Sein Onkel Hermann Baumgarten, ein alter 48er-Liberaler, wird zu einer Art Ersatzvater und Mentor für den politisch aufgeschlossenen Max. Danach studiert er 1883/84 zwei Semester Jura in Berlin, um dann noch ein Vorbereitungssemester in Göttingen dranzuhängen.

Max Weber ist ein vielseitiger und fleißiger Student. Auf Wunsch seines Vaters schließt er sich der Burschenschaft Alemannia in Heidelberg an, stellt seine ‚Satisfaktionsfähigkeit‘ auf dem Paukboden unter Beweis und frönt durchaus gern dem harten Renommiertrinken im burschenschaftlichen Kreis. 1886 macht er sein juristisches Staatsexamen, um dann auch aus pekuniären Gründen bis 1893, dem Jahr seiner Heirat, ins Elternhaus nach Berlin in die Charlottenburger Villa zurückzukehren. Er muss weitere sieben Jahre, in denen er bis zum dreißigsten Lebensjahr eine verlängerte ‚Postadoleszenz‘, wie man das heute wohl nennen würde, unter dem Dach des patriarchalischen Vaters und der seelisch dominanten Mutter verbringen muss – fürwahr eine narzisstische Kränkung für den „Kronprinzen“ und ältesten Sohn, der eine glänzende Universitätskarriere anzustreben sich anschickt.

1889 promoviert er sich bei Levin Goldschmidt über die Entwicklung des Solidarhaftprinzips der offenen Handelsgesellschaften in den italienischen Städten, 1891 folgt die Habilitation bei August Meitzen mit einer Arbeit über Römische Agrargeschichte. In diesem Jahr kommt auch die junge Marianne Schnitger nach Berlin, die von Webers Mutter wie eine Tochter aufgenommen wird. Auch Max und Marianne kommen sich näher. Doch Weber muss zunächst ein Verlobungsversprechen aus seiner Straßburger Zeit mit Emmy Baumgarten lösen, bevor er an eine Heirat mit Marianne Schnitger denken kann. Sein Werbungsbrief an Marianne lautet wie folgt:

„Hoch geht die Sturmflut der Leidenschaften und es ist dunkel um uns, – komm mit mir, mein hochherziger Kamerad, aus dem stillen Hafen der Resignation, hinaus auf die hohe See, wo im Ringen der Seelen die Menschen wachsen und das Vergängliche von ihnen fällt. Aber bedenke: im Kopf und Busen des Seemanns muß es klar sein, wenn es unter ihm brandet. Keine phantasievolle Hingabe an unklare und mystische Seelenstimmungen dürfen wir in uns dulden. Denn wenn die Empfindung Dir hoch geht, mußt Du sie bändigen, um mit nüchternem Sinn Dich steuern zu können.“

So sah sein Heiratsantrag aus, der von Erfolg gekrönt war, denn die Hochzeit folgte am 20. September 1893 in Oerlinghausen. Das Ergebnis war eine Kameradschaftsehe, die wohl sexuell niemals vollzogen wurde. Weber hatte Hemmungen, konnte sich nicht überwinden, und es sollte dauern, bis er die Erotik für sich entdeckte, dann aber nicht mit seiner Ehefrau.

Weber und die Frauen

„Max Weber und die Frauen“, ist ein besonderes Thema , wie Ingrid Gilcher-Holtey in einer Studie gezeigt hat. Es waren maßgeblich vier Frauen die für Webers Entwicklung bedeutsam waren: znächst seine Mutter Helene, die er als Heilige verehrt und geliebt sowie gegen die patriarchalische Anspruchshaltung des Vaters in Schutz genommen hat; seine Frau Marianne, mit der er eine lebenslange, unverbrüchliche Beziehung auf der Basis einer Gefährtenschaft einging, und Mina Tobler, eine Schweizer Pianistin und Klavierlehrerin in Heidelberg, zu der er sich erotisch-sinnlich seit 1907 hingezogen fühlt. Sie ist es, die sein Interesse an moderner Musik, Malerei, Plastik und Literatur zu wecken versteht. Im Zuge dieser Kunstphase fertigt er seine Studie über Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik an. Hinzu kam Else Richthofen-Jaffé, die erste Studentin von Weber, die zunächst mit seinem jüngeren Bruder Alfred, ebenfalls einem bekannten Soziologen, liiert ist, dann den vermögenden Edgar Jaffé heiratet, mit der erotischen Bewegung von Otto Gross in Berührung kommt und mit dem Guru der freien Liebe ein Kind zeugt, worüber ihre Ehe mit Edgar Jaffé zerbricht. 1910 setzt wieder ihre freie Beziehung zu Alfred ein. Im Jahre 1917 beginnt sie ein erotisches Verhältnis mit Max, um dann nach dessen Tod schließlich doch mit Alfred den Lebensabend zu verbringen.

Im Kontext dieser Frauen durchlief Weber einen Sozialisations- und Lernprozess in Folge dessen er , noch verheiratet mit Marianne, aber leidenschaftlich liiert mit Else, in der Zwischenbetrachtung seiner Religionssoziologie der Erotik den Status einer eigenständigen und mächtigen Lebenssphäre zuwies:

Gerade darin: in der Unbegründbarkeit und Unausschöpfbarkeit des eigenen, durch kein Mittel kommunikablen, darin dem mystischen „Haben“ gleichartigen Erlebnisses, und nicht nur vermöge der Intensität seines Erlebens, sondern der unmittelbar besessenen Realität nach, weiß sich der Liebende in den jedem rationalen Bemühen ewig unzugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt, den kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltags.

Am Ende seines Lebens wird Max Weber in Absprache mit den drei Frauen seines Lebens noch die Widmungen der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie absprechen: Band I mit Protestantismus und Konfuzianismus ist seiner Frau Marianne gewidmet – mit dem Zusatz „bis ins Pianissimo des höchsten Alters“; Band II über Hinduismus und Buddhismus ist Mina Tobler, Band III über das antike Judentum Else Jaffé-Richthofen zugeeignet.

Karriere und Krankheit des Wissenschaftlers

Nach der Heirat mit Marianne 1893 beginnt Webers steiler beruflicher Aufstieg. Im gleichen Jahr, im Alter von 29 Jahren, wird er zunächst außerordentlicher Professor für Handels- und deutsches Recht an der Berliner Universität, um bereits 1894 einen Ruf als Ordinarius für Nationalökonomie in Freiburg zu erhalten. 1896 folgt er dem Ruf auf den renommierten Lehrstuhl von Karl Knies in Heidelberg. Alles lief auf eine glänzende, in festen bildungsbürgerlichen Bahnen eingeschiente Karriere hinaus, wenn es nicht zum tödlichen Konflikt mit dem Vater gekommen wäre.

1897 besuchen Webers Eltern das junge Paar in Heidelberg. Zum ersten Mal traut sich der Sohn, dem Vater zu widersprechen. Stein des Anstoßes ist dessen autoritär-patriarchal-despotisches Verhalten, und Weber klagt ihn an, die persönliche Freiheit der Mutter zu beschneiden und ihren Seelenfrieden zu stören. Nach dem Disput wirft er den Vater hinaus, der allein nach Berlin zurückkehrt. Nach wenigen Wochen auf einer Reise nach Riga verstirbt Max Weber senior, ohne dass sich Vater und Sohn noch ausgesöhnt hätten. Diese Last erträgt Max Weber junior nicht, mit der Folge, dass er 1898 zusammenbricht. Die unheimliche Krankheit, eine schwere Nervenkrise, die ihn völlig lahmlegt, führt zum Rückzug aus der Universität. Zwischen 1900 und 1902 ist Weber kaum in Heidelberg. Vielmehr wechseln sich längere Aufenthalte in Sanatorien, Reisen und ‚stumpfes Brüten‘ ab. Die Genesung schreitet nur langsam voran, so dass Weber nicht mehr wissenschaftlich arbeiten kann. Angesichts seiner Krankheit ist er freigesetzt vom Beruf und führt ein unstetes Reise- und Wanderleben. 1903 scheidet er endgültig aus dem Heidelberger Amt aus und wird Honorarprofessor mit Lehrauftrag, aber ohne Promotionsrecht und auch ohne Mitspracherecht in seiner Fakultät.

Dieses ‚Schicksal‘ hatte bemerkenswerte Folgen. Max Weber, der große Kultur- und Sozialwissenschaftler und einer der größten Denker des 19. und 20. Jahrhunderts in einer Reihe mit Marx, Nietzsche, Freud und Einstein – wird Privatgelehrter und privatisiert. Aus heutiger Perspektive muss man diese Privatisierung als Glücksfall ansehen. Ohne diesen Rückzug und die Chance zu großer Muße dürfte die Nachwelt wohl kaum dieses umfassende Werk besitzen. Weber hatte es trotz dieses Schicksalsschlages nicht schlecht getroffen in seiner Villa am Heidelberger Neckarufer mit Blick auf das Schloss, dem üppigen Erbe seiner Frau und damit die Chance zu zahlreichen Reisen in die Sonne, wann immer er den depressiven Wirkungen des deutschen Dunkelwetters entkommen musste: Krankheit als Flucht, Krankheit als Chance zu einem großen Werk, Krankheit als Lebensform. Freilich ist das die Sichtweise der Nachgeborenen. Für Weber selbst markierte diese Phase eine tiefe Zäsur in seinem Leben. Nach dem titanenhaften Aufstieg des Götterlieblings des wilhelminischen Wissenschaftssystems folgte der tiefe Absturz in Krankheit und Depression, von der er sich zwar erholen sollte, aber nie mehr genesen konnte. Von nun an befand er sich gleichsam am anderen Ufer, ist doch die Welt der Kranken wie durch eine Scheidewand von der Welt der Gesunden getrennt.

Das Jahr 1904 markiert den Wiedereintritt von Max Weber in den Kosmos der Wissenschaft und des Diskurses. Auf Einladung von Hugo Münsterberg reist er zu einem wissenschaftlichen Kongress im Rahmen der Weltausstellung nach St. Louis, Missouri, und hält seinen ersten akademischen Vortrag seit sechseinhalb Jahren über „Deutsche Agrarprobleme“. Tief beeindruckt von den USA als Modell moderner Gesellschaft macht er fast die gleiche Rundreise wie Alexis de Tocqueville ein dreiviertel Jahrhundert vor ihm. Im gleichen Jahr übernimmt er mit Edgar Jaffé und Werner Sombart die Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik und publiziert dort gleich seinen berühmten Objektivitätsaufsatz, in dem er die methodologischen Grundlagen seiner Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft darlegt. 1904 erscheint auch seine berühmte Protestantische Ethik. Seine These einer Wahlverwandtschaft zwischen Protestantismus und Kapitalismus sollte eine lange Kontroverse auslösen.

1909 gehört er zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und bezeichnet sich von da an auch endgültig als Soziologe. Im Frühjahr 1913 und 1914 reist er nach Ascona am Lago Maggiore und beobachtet am Monte Veritá das Treiben von Anarchisten, Naturmenschen und Vegetariern, vor allem Otto Gross und Erich Mühsam. Er legt seine anfänglichen Ressentiments ab und beginnt die lebensreformerischen Bewegungen zu verstehen. Es scheint sich so etwas wie eine Empathie zwischen dem Nervenpatienten und den alternativen Lebensweisen zivilisationsmüder Aussteiger anzubahnen.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, 1914, unterbricht er seine wissenschaftliche Arbeit, da er als Reserveoffizier zum Dienst in das Lazarett von Heidelberg eingezogen wird. Weber, der zunächst die allgemeine Kriegsbegeisterung mit den meisten Deutschen teilt, wird schon bald skeptisch, vor allem angesichts der rasch ausufernden Kriegszielforderungen der Ultrarechten ab 1916. Bis zum Kriegsende 1918 hofft er noch auf eine halbwegs faire Friedensregelung, die Kriegsniederlage trifft ihn dann tief. Wie Lord Keynes auf englischer Seite, nimmt Max Weber 1919 als Mitglied der deutschen Friedensdelegation an den Verhandlungen zum Versailler Vertrag teil. Und ähnlich wie Keynes, der die französische Intransigenz und den naiven amerikanischen Idealismus Wilsonscher Prägung in seinem Buch The Economic Consequences of the Peace aus demselben Jahr kritisiert, in dem er den Zweiten Weltkrieg nach diesem Knebelfrieden für die Deutschen quasi voraussagt, kehrt auch Weber sehr besorgt aus Versailles zurück. Er mischt sich aktiv in die Politik ein, wird Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, arbeitet an der Weimarer Reichsverfassung mit und tritt für die Parlamentarisierung in Deutschland unter Führung eines vom Volk gewählten Reichspräsidenten ein.

1918 kehrt er auch an die Universität zurück und nimmt probeweise einen Lehrstuhl für Nationalökonomie in Wien an, um dann 1919 als Nachfolger von Lujo Brentano nach München zu wechseln, auch und vor allem, um in der Nähe von Else Jaffé-Richthofen sein zu können, die nach Wolfratshausen gezogen war. Den privaten Konflikt zwischen ehelicher Gefährtentreue und freier leidenschaftlicher Erotik muss er am Ende nicht mehr lösen. Die Wahl zwischen den beiden Frauen bleibt ihm erspart, denn er stirbt überraschend infolge einer zu spät behandelten Lungenentzündung am 14. Juni 1920 in München.

Ambivalenzen seiner Persönlichkeit

Versucht man, sich schließlich einen Reim auf die Person von Max Weber zu machen, so liefert Immanuel Kants berühmter Ausspruch aus seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784 einen passenden Kommentar dazu: „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden“. Im Falle Webers fallen gerade die Antinomien seiner Persönlichkeit und seiner Existenz ins Auge, die diesen Menschen zeit seines Lebens fast zerrissen hätten.

Weber war einerseits nüchtern, sachlich, asketisch und diszipliniert, und in diesem Teil seiner Persönlichkeit näherte er sich dem Gesamthabitus des Puritaners und seiner methodisch-rationalen Lebensführung an, wie er ihn in seiner Protestantischen Ethik beschrieben hat. Als Gelehrter verfocht er vehement das Postulat der Wertfreiheit, plädierte für wissenschaftliche Redlichkeit und Rechtschaffenheit, denn der Wissenschaftler kennt nur einen Wert, den der Wahrheit. Alle kulturellen, politischen und ethischen Erwägungen oder gar Vorschriften der ‚politischen Korrektheit‘, wie sie Öffentlichkeit, Politik und Geistes- und Sozialwissenschaften heute durchziehen, wären ihm unerträglich gewesen. Mit dieser objektiven und unparteilichen Haltung, sine ira et studio, zeichnete ihn eine unglaublich zielsichere wissenschaftliche und politische Urteilskraft aus, die nicht nur für seine Mitmenschen, sondern auch heute noch einen Gutteil der Faszination von Max Weber ausmachen. Selbst da, wo Weber sich geirrt hat, irrte er noch überzeugend.

Andererseits wohnten, wie es in Goethes Faust heißt, zwei Seelen in seiner Brust: eine enorme Leidenschaftlichkeit, wenn auch mit Unterdrückung und Hemmungen im Gefühlsausdruck verbunden, ‚kleine Laster‘, sei es sein Alkoholproblem, das ihm als Spätfolge seiner Existenz als Burschenschafter lange Jahre zu schaffen machte, sei es sein unbefangener Drogenkonsum, denn ähnlich wie Freud probierte Weber jede Droge aus, wenn sie ihm Linderung von seiner Krankheit zu verschaffen versprach. Schließlich kam auch noch seine spät entdeckte erotische Leidenschaft hinzu, die Verwicklungen auslöste, welche die Grundlage seiner bürgerlichen Lebensführung zu zerstören drohten. Ähnlich wie Goethe, der sich auch nochmals gehäutet und im fortgeschrittenen Alter seine erotische Erfüllung gefunden hatte, träumte auch Max Weber von mehr und anderem als der Gefährtenehe, als er sich auf eine intime Beziehung mit Else Jaffé-Richthofen einließ – einer in jeder Hinsicht lebens- und liebeserfahrenen Frau.

Diese Ambivalenz, die wir in Webers Persönlichkeitsstruktur ausmachen können, kehrt auch in der systematischen Ambivalenz seiner Beurteilung der westlichen Moderne wieder. Auf der einen Seite ist da der bürgerliche Berufs-, Karriere- und Erfolgsmensch, der sich zu einer methodisch-rationalen Lebensführung zu disziplinieren, fast möchte man sagen, zu vergewaltigen vermag. Das ist die eine Seite der Medaille – der Vorzeige-Weber, wie man ihm in hagiographischer Absicht bei vielen verehrungswilligen Interpreten, die auf den Spuren seiner Ehefrau Marianne wandeln, begegnen kann. Weber, der heroische Titan und „Mythos von Heidelberg“, wie er genannt wurde. Auf der anderen Seite ist da der Fluchtmensch, die Leidenschaft, die Sehnsucht nach einer anderen Lebensform, nach Aus- und Aufbruch zu neuen Ufern, ein „élan vital“, der das Vernunftgehäuse moderner Hörigkeit aufzusprengen suchte: Weber, der leidenschaftliche und zerrissene Mensch. Das ‚Faszinosum Weber‘, seine Größe und Ambivalenz, seine Kraft und seine Zerrissenheit, sein Genie und seine Dämonie, wird im Spiegel seiner Zeitgenossen deutlich. Daher rührt sein Interesse für den Monte Veritá und die Lebensreformbewegung, seine Beschäftigung mit der russischen Revolution und dem Anarchismus, seine Vorliebe für neue Formen der Kunst, überhaupt seine Beschäftigung mit Formen und Funktionen des Charismas, das die routinisierte Erstarrung gesellschaftlichen Lebens aufzusprengen vermag.

Es ist dieser Kampf mit sich selbst, mit der Askese und der Leidenschaft, mit den ‚Forderungen des Tages‘ und dem Leiden, aber auch mit den gesellschaftlichen Wertsphären und Lebensordnungen, deren ‚Götter‘ an den modernen Menschen unvereinbare, ja widersprüchliche Anforderungen stellen, die sich nicht ohne weiteres im Sinne einer Synthese oder eines höheren Wertes im Rahmen einer komplexen Lebensführung versöhnen lassen, die seiner Person eine durchaus tragische Note verleihen. Dieser tragische Grundzug kehrt auch in seinem Werk wieder.

Die Geburt eines Klassikers

Als Max Weber im Jahre 1920 plötzlich und unvermutet stirbt, ist die Bestürzung seiner Zeitgenossen denkbar groß und allgemein. Wie die zahlreichen Nachrufe zeigen, wird vor allem der großen Person, dem großen Deutschen und der intellektuellen Lichtgestalt nachgetrauert. Von seinem Werk dagegen ist kaum die Rede. Natürlich kannte man die Debatte um die Protestantische Ethik; wirtschafts- und sozialpolitische Kreise hatten seine Enqueten zu den Land- und Industriearbeitern verfolgt, ökonomisch interessierte Kreise seine Schriften über die Börse zur Kenntnis genommen. Aber dass Weber ein Werk vorgelegt hatte, das ihn zum Klassiker der Kultur- und Sozialwissenschaften machen sollte, blieb seinen Zeitgenossen erst einmal verborgen. Selbst Menschen, die ihm nahestanden, und dann ihr eigenes wissenschaftliches Arbeiten unter den Stern dieses großen Mannes stellen sollten, waren ahnungslos. Karl Jaspers bemerkt in seiner Gedenkrede auf Max Weber vor Heidelberger Studenten im Jahre 1920 lapidar: „Sieht man sein Werk an, wie es vorliegt, so findet man eine Fülle einzelner Arbeiten. Aber eigentlich sind alle Fragmente. […] Es ist kaum je ein Buch von ihm erschienen, früher einmal die Römische Agrargeschichte, eine Broschüre über die Börse, in den letzten Jahren einige Vorträge als Hefte, sonst nichts. Alles andere steckt in Zeitschriften, Archiven, Zeitungen.“

Vor diesem Hintergrund fragt sich Jaspers zu Recht: „Ist es möglich, angesichts dieses fragmentarischen Charakters Max Weber als den geistigen Gipfel der Zeit zu empfinden?“ Seine weiteren Ausführungen machen indes unmissverständlich klar, dass dies für ihn eine rein rhetorische Frage ist. Jaspers  sieht in Weber einen Philosophen, der den Geist der Zeit in sich verkörpert. „Einen existentiellen Philosophen aber haben wir in Weber leibhaftig gesehen. Während andere Menschen wesentlich nur ihr persönliches Schicksal kennen, wirkte in seiner weiten Seele das Schicksal der Zeit. […]. Der Makroanthropos unserer Welt stand in ihm gleichsam persönlich vor uns.“

Am Beginn der Rezeption schlägt die große Persönlichkeit also das große Werk. Erst dank der Herausgebertätigkeit von Marianne Weber und den heutigen Herausgebern der Gesamtausgabe wurde nach und nach der Umfang des Werkes von Max Weber einer größeren wissenschaftlichen Öffentlichkeit im In- und Ausland bekannt. Allmählich trat die Person hinter das voluminöse Œuvre zurück, auch wenn die Neugier auf Leben und Leiden Max Webers bis zum heutigen Tage ungebrochen ist.

Als der junge amerikanische Soziologe Talcott Parsons in den 1920er Jahren für ein Jahr zum Studium nach Heidelberg kommt, trifft er noch auf seinen Bruder Alfred und macht zum ersten Mal Bekanntschaft mit den Arbeiten von Max Weber. An der London School of Economics, an der er zuvor studiert hatte, war dessen Name kein einziges Mal gefallen. Parsons macht es sich zu seiner Lebensaufgabe, das Werk Max Webers einem anglo-amerikanischen Publikum näherzubringen. Er übersetzt Wirtschaft und Gesellschaft mit A.M Henderson und legt mit seiner Theoriegeschichte in systematischer Absicht, der zweibändigen Studie The Structure of Social Action (1937/1968) eine bis heute mustergültige Interpretation von Webers Ansatz vor. Andere soziologische Emigranten aus Deutschland beteiligten sich an dieser Herkulesaufgabe. Reinhard Bendix (1964) legte eine erste Werkbiographie vor, die weltweit großen Einfluss auf die Rezeption nehmen sollte. Guenther Roth und Claus Wittich (1968) lieferten die erste vollständige Übersetzung von Wirtschaft und Gesellschaft, während Hans Gerth und C. Wright Mills den Auswahlband From Max Weber (1984) zusammenstellten, mit dem bis zum heutigen Tag die Studierenden an amerikanischen Universitäten in das Werk von Weber eingeschult werden.

In Frankreich ist es vor allem Raymond Aron zu verdanken, dass Weber als einer der wichtigsten deutschen Soziologen bereits Ende der 1920er Jahre vorgestellt wird. Aron hatte die Zeit seines Studiums in Deutschland dazu genutzt, die wichtigsten Vertreter einer deutschen Soziologie wie Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber zu studieren. Sein kleines Büchlein wurde so einflussreich, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg auch in die deutsche Sprache übersetzt wurde. Max Weber figurierte auch prominent in Arons  zweibändiger Theoriegeschichte Hauptströmungen des soziologischen Denkens (1971). Da Aron aber als Gegenspieler von Jean-Paul Sartre als konservativer Sozialwissenschaftler in Frankreich galt, wurde diese Charakterisierung mit abträglichen Folgen für die Rezeption auch auf Max Weber übertragen. Erst der junge Pierre Bourdieu, der seine Studien zur Kabylei mit Hilfe von Webers Protestantismus-Studie schrieb, sollte in Frankreich für ein neues Bild von Weber als kritischem Soziologen sorgen.

In Deutschland hingegen nahm die Rezeption von Max Weber erst nach dem Zweiten Weltkrieg richtig Fahrt auf. Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass Max Weber aus Amerika nach Deutschland reimportiert wurde. Vor allem im Gefolge des Soziologentages von 1964 in Heidelberg anlässlich des hundertsten Geburtstags von Max Weber setzte eine intensive Diskussion ein, die seither nicht abgerissen ist. Mittlerweile hat diese intensive Interpretations- und Rezeptionstätigkeit zur Herausbildung eines Max-Weber-Paradigmas geführt. Wie hell der Stern von Max Weber am Himmel der Soziologie mittlerweile leuchtet, demonstriert die Wahl der International Sociological Association im Jahre 1998, denn unter den zehn wichtigsten Büchern des 20. Jahrhunderts rangieren zwei Studien von Max Weber: Die protestantische Ethik und Wirtschaft und Gesellschaft.

Dennoch sollte Karl Jaspers am Ende mit seiner Einschätzung Recht behalten. Auch jetzt, wo das Werk Max Webers durch die Gesamtausgabe mustergültig erschlossen wird, entpuppt es sich als großes ‚Fragment‘. Tatsächlich ist sein Œuvre ein riesengroßer Torso, wie die Max-Weber-Gesamtausgabe zum ersten Mal in anschaulicher Weise deutlich macht.

Werk und Person

Das Werk Max Webers wie seine Person sind ein Phänomen und ein Paradox. Sie sind ein Phänomen, denn unter allen Klassikern der Sozialwissenschaften gilt er weltweit als der größte und bedeutendste Soziologe. Sie sind ein Paradox, denn es ist bis heute keineswegs geklärt, warum das so ist. Worin genau besteht Webers Bedeutung, seine Größe und seine Wirkung? Warum nennen alle ‚Max Weber‘, wenn die Frage nach dem wichtigsten Soziologen oder Sozialwissenschaftler gestellt wird?

Das Geheimnis von Webers Größe besteht aus unserer Sicht in seiner ‚Unikalität‘. Was ist mit dieser These von der Eigenart und Einzigartigkeit seines Werkes gemeint? Im Laufe seines Lebens erwirbt Weber einen ungeheuren Wissensvorrat aus Philosophie, Geschichte, Wirtschaft, Recht und Politik von Antike, Mittelalter und Moderne. Ihm hilft ein fotografisches Gedächtnis, sich einmal angeeignetes Wissen zu merken. Der Modus der Wissensverarbeitung ist ein ganz besonderer: Er eignet sich alles jeweils so weit an, wie er es nutzen kann. Dieser Goethe verwandte Aneignungsprozess führt im Fall Webers zu neuartigen und überraschenden Kombinationen von Wissensvorräten. Selbst da, wo er sich scheinbar voll und ganz in bestehende Traditionszusammenhänge eingliedert, gehört er nie ganz dazu. Das gilt in der Philosophie und Methodologie für seine Zugehörigkeit zur südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, das gilt in der Nationalökonomie für seine Nähe zur historischen Schule, im Verein für Sozialpolitik für seine Anhängerschaft der jüngeren Generation, das gilt zudem für seine ‚Existenz’ als Soziologe. Er ist dort jeweils überall zu Hause und doch nicht daheim. Daheim ist er nur bei sich selbst.

Das ‚Weberianische Denken‘, wie man es vielleicht bezeichnen könnte, ohne ihn zu klassifizieren, sei es nach Zunftzugehörigkeit (Jurisprudenz, Geschichte, Nationalökonomie, Soziologie oder Politikwissenschaft) oder sei es nach Schulzugehörigkeit (Neukantianismus, methodologischer Individualismus, Handlungstheorie etc.), gewinnt diese Aura der Unikalität, weil Weber es stets bewusst versäumt hat, seine Ansätze in den verschiedenen Forschungsbereichen, in denen er zu Hause war, zu Ende zu denken. Man wird bei Weber also vergeblich nach einer Theorie suchen. Er treibt eben keine Gesellschaftstheorie wie etwa Karl Marx, der über die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise die Eigenart der modernen Gesellschaft zu erfassen suchte. Bestenfalls könnte man ihn als Vertreter der Gesellschaftsgeschichte fassen, wenn damit gemeint ist, historisch eigenartige und einzigartige Konstellationen universalgeschichtlicher Bedeutung, also das, was er „historisches Individuum“ nennt, aufzuzeigen. So gelangte er am Ende seines Lebens zu der Einsicht, dass der Westen einem eigensinnigen Rationalisierungsprozess von weltgeschichtlicher Bedeutung unterliegt, der so und in dieser Form nirgendwo anders vorkommt, geschweige in dieser Form wiederholt oder nachgemacht werden kann.

Am ehesten gelingt es noch, so etwas wie eine Systematik in seinem Denken zu entdecken oder zu rekonstruieren. Aber man wird kein System finden und wenn man glaubt, es gefunden zu haben, ist es nicht mehr Weber. Es muss dann nicht mehr als Webers Denken, sondern als Denken im Anschluss an Max Weber gelten. Doch gerade diese Unfassbarkeit seines Ansatzes treibt dazu an, sich Klarheit über Webers Denken zu verschaffen. Es ist einer der wichtigsten und mächtigsten Hebel, um die Industrie der Weber-Interpretation seit mehr als hundert Jahren auf Hochtouren laufen zu lassen. Angesichts der Eigenart und Einzigartigkeit von Webers Denk- und Arbeitsweise ist aber auch klar, dass alle diese Interpretationen nie zu Ende kommen können. Der Interpretationskonsens kann nur im breitest möglichen Dissens bestehen und einen ‚Polytheismus der Lesarten‘ heraufbeschwören.

Webers Werk ist ein einmaliges und einzigartiges Fragment. Es sind Probebohrungen auf dem noch jungen und weitgehend unbestellten Feld der Soziologie. Weber zeigt skizzenhaft und exemplarisch auf, welchen verheißungsvollen Beginn diese Wissenschaft nehmen kann, wenn man sie als historische und systematische Kultur- und Sozialwissenschaft begreift. So viel Anfang war nie, aber auch nie so viel Unvollendung. Aber es ist gerade die sich darin versteckende Verheißung, die das Charisma seiner Soziologie ausmacht. Es sind kongeniale Entwürfe eines der letzten Universalgelehrten, der das Zeug hatte zum „Makroanthropos unserer Welt“ (Jaspers). Auch nach hundertfünfzig Jahren stehen wir erstaunt im Bann dieses Werkes und dieser Person.

Der Beitrag übernimmt mit freundlicher Genehmigung des J.B. Metzler Verlages Teile der Einleitung aus dem von den Verfassern herausgegebenen „Max Weber Handbuch. Leben – Werk – Wirkung“ (Stuttgart 2014).

Titelbild

Hans-Peter Müller / Steffen Sigmund (Hg.): Max Weber Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2014.
425 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783476024329

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