Überraschend modern

Brigitte Prutti beleuchtet Grillparzers Dramen

Von Andreas SolbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Solbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1993 hat der Germanist Jürgen Hein in einem kurzen Aufsatz dokumentiert, wie es um Grillparzer in der deutschsprachigen Welt bestellt ist: Selten aufgeführt und äußerst selten in Seminaren behandelt, bleibe im Wesentlichen nur seine Erzählung vom „Armen Spielmann“ als kanonischer Text für die Schule. Dieser Befund lässt sich für die inzwischen vergangenen zwanzig Jahre mehr oder weniger fortschreiben, denn Grillparzer gehört zwar nach wie vor zu den klassischen Autoren, die hin und wieder, gerne vor allem in Österreich, inszeniert werden, aber weder macht sich an der dramaturgischen Umsetzung seiner Werke ein Paradigmenwechsel bemerkbar, noch dienen sie insgesamt einer breiteren Leserschicht zum Vergnügen.

Erstaunlicherweise aber zählt Grillparzer auch nicht zu den bevorzugten Objekten der germanistischen Literaturwissenschaft, soweit sie die akademische Lehre betrifft; schon in den Statistiken bis in die neunziger Jahre hinein ist er unter den beliebtesten Seminarthemen und Autoren nicht zu finden. Seine früheren Generationen vertraute wohlklingende Dichtersprache ist, wie Versuche an heutigen Studierenden wiederholt zeigen, nur mit großem Aufwand vermittelbar, zu sehr hat sich das literarische Rezeptionsparadigma von der Sprachkunst zur Handlungsmotivation hin gewandelt, als dass ein Autor wie Grillparzer und dessen filigrane sprachliche Ästhetik noch unvermittelt wirken könnte.

Bei Reclam finden sich die bekanntesten seiner Stücke und „Der arme Spielmann“, aber wer sich auf eine genauere und ausgreifendere Lektüre Grillparzers einlassen möchte, muss sich älterer Ausgaben bedienen. Dass die historisch-kritische Ausgabe nie nachgedruckt wurde, ist möglicherweise verständlich, aber auch die Ausgaben bei Hanser und Winkler in vier beziehungsweise drei Bänden sind seit Jahrzehnten restlos vergriffen, und zumindest die Hanser-Ausgabe ist auch antiquarisch kaum noch zu finden. Das verdienstvolle Projekt Helmut Bachmaiers, eine vierbändige Ausgabe im Rahmen des Deutschen Klassikerverlags herauszubringen, ist nach den beiden Dramenbänden abgebrochen worden, so dass diese abortierte zweibändige Ausgabe das letzte verlegerische Lebenszeichen dieses schon zu Lebzeiten arg gebeutelten Autors für die Gegenwart bleibt.

Der allgemeinen Unwilligkeit, Grillparzer zu lesen beziehungsweise ihn im Seminar und weitgehend mittlerweile auch im Schulunterricht zu unterrichten, entspricht nun aber nicht, wie man vermuten könnte, eine mangelnde akademische Aufmerksamkeit im Bereich der Forschung. Eine einigermaßen vollständige Bibliografie des akademischen Schrifttums zu Grillparzer bis in die Gegenwart hinein zeigt überraschenderweise eine breite Beschäftigung mit dem Autor, die in den letzten vierzig Jahren zwar nicht mit der Aufmerksamkeit der anderen kanonischen Klassiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konkurrieren kann, die aber dennoch auf einem mittleren Niveau eine konstante Publikationsdichte aufweist, die davon zeugt, dass Grillparzer auch weiterhin eine in Germanistenkreisen zu situierende interessierte Leserschaft besitzt.

Diese literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Autor findet allerdings in weit überwiegendem Maße nicht in monografischer Form statt, sondern als wissenschaftlicher Aufsatz in Zeitschriften und Jahrbüchern. Das gilt bis zu einem gewissen Maße auch für Brigitte Pruttis Arbeit über Grillparzers Welttheater, denn vier der sieben Kapitel ihres Buches sind bereits in früherer Fassung als Artikel erschienen. Dennoch ist es erfreulich, wieder einmal eine monografische Darstellung von Grillparzers dramatischem Schaffen anzeigen zu können, vor allem, weil es sich bei der vorliegenden Arbeit nicht um eine der klassisch-‚drögen‘ germanistischen Laufbahnschriften handelt, sondern um eine zwar nicht direkt einem zentralen Argument folgende Darstellung, dafür aber eine facettenreiche Beleuchtung Grillparzers, die Lust auf erneute Lektüre und Auseinandersetzung macht. Prutti behandelt sieben Stücke von Grillparzer in sechs Kapiteln („Ahnfrau“, „Sappho“, „Des Meeres und der Liebe Wellen“, „Ein treuer Diener seines Herrn“, „Weh dem, der lügt!“, „Königs Ottokars Glück und Ende“ und „Die Jüdin von Toledo“), wobei man sich möglicherweise eine etwas andere Auswahl gewünscht hätte, aber die Autorin schafft es, jedes ihrer Analyseobjekte auf eine intellektuell anregende und teilweise auch brillante Art und Weise zu interpretieren. Dabei verbindet sie germanistische Tugenden und philologische Pedanterie mit unerwarteten und erhellenden Durch- und Weitblicken. So entkommt sie etwa der germanistischen Endlosdebatte um die Frage, ob es sich bei „Sappho“ um ein Liebes- oder Künstlerdrama handelt, dadurch, dass sie zumindest in der Grillparzer-Forschung erstmals die neue und hier produktive Disziplin der celebrity studies nutzt, um dieses Drama aufzuschlüsseln. Sie verbindet in allen ihren Studien vorzügliche und dokumentierte Kenntnisse der Deutungsgeschichte mit einer nicht selten überraschenden argumentativen Stoßrichtung, die sich allenfalls als stellenweise zu stark am biografischen Objekt orientiert bemerkbar macht. Prutti tritt Grillparzer ohne falsche Bescheidenheit und durchaus kritisch gegenüber, ohne ihn für seine ideologischen Beschränkungen ostentativ abzustrafen. So entsteht ein zwar nicht einheitliches und geschlossenes Bild, aber doch eine in vielen Schattierungen überzeugende Darstellung eines Autors, dessen Lebendigkeit und durchaus überraschende Modernität Resultat einer intelligenten und auf moderne disziplinäre Zugriffe gestimmten konzentrierten Optik ist.

Titelbild

Brigitte Prutti: Grillparzers Welttheater. Modernität und Tradition.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2012.
478 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783895289552

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