„Sprachskulpturen, nach musikalischen Prinzipien komponiert“
Der Schweizer Michael Fehr liest auf Einladung von Juri Steiner beim Bachmannpreis
Von Halyna Pasichnyk
Der 32-jährige Berner Künstler und Autor Michael Fehr ist kein völlig Unbekannter. Er erwarb an der Berner Hochschule der Künste den Master im Fach „Contemporary Arts Practice“; sein Debütwerk „Kurz vor der Erlösung“, 2013 im Luzerner Verlag „Der gesunde Menschenversand“ erschienen, verschaffte dem Autor einige Aufmerksamkeit vonseiten des Literaturbetriebs. Der Roman besteht aus ganzen 17 Sätzen, die jeweils Geschichten von Menschen zur Weihnachtszeit erzählen: Geschichten – keine Weihnachtsgeschichten (!) –, in denen die Figuren, jede auf ihre eigene Art und Weise, zur Erlösung finden; Geschichten, in denen kuriose Ereignisse stattfinden. Während in der Hauptstadt die Glocken der Kathedrale schlagen, entdeckt ein Bauer im Stall ein „lustiges Zigeunerpaar“. Zur gleichen Zeit stimmt ein Männerchor in der Gaststube ein Lied an. An einem anderen Schauplatz folgt ein König einem Sternenschweif, ein mutmaßlicher Fischer trinkt einen über den Durst und städtische Musiker heitern das Volk vor der Kathedrale inmitten eines Schneesturms auf – so blickt Fehr in narrativen Momentaufnahmen von Ort zu Ort. Am Ende jeder Geschichte besinnen sich seine 17 Protagonisten jedoch allesamt auf Harmonie und stimmen ein Halleluja an.
Die 17 Sätze (oder Verse?) brechen mit den Regeln konventionellen Erzählens und zeigen die sprachliche Virtuosität des Autors. „Kurz vor der Erlösung“ entzieht sich der Genrezuordnung im Sinne der Gattungstrias: Die „Erlösungsverse“ bieten sich dem Leser im engeren Sinne nicht als Gedicht oder Roman an, sondern ermöglichen einen Einblick in ein außergewöhnliches Konstrukt: ein scheinbares Durcheinander literarischer Gattungen, arrangiert in scheinbar willkürlicher Syntax und Orthographie – eine „Eigenkreation“ im wahrsten und besten Sinne des Wortes. Fehr instrumentiert seine Kunstsprache nach allen Regeln der „spoken scripts“. Die gesprochene Sprache steht für Fehr im Vordergrund; Artikulation ist für ihn die Suche nach Bedeutung, Akzent, Rhythmus und Melodik jeden einzelnen Wortes. Das Sprechen ersetzt dem sehbehinderten Künstler (wenigstens teilweise) die visuelle Wahrnehmung der Welt, seine Liebe zur Musik wurde für ihn zum entscheidenden Impuls, sich neue Wege durch die literarische Tradition zu bahnen. Die Präzisierung jedes Lautes im Spannungsfeld seiner zeichenhaftigen Gestalt und seiner phonetischen Realisation belebt die Wörter und die Sprache in Fehrs Text; erst in der Distanzierung von der Schriftgestalt, durch das Lautvorlesen und Mithören, erkennt der Leser die Geschichte hinter den Buchstaben. Bei seinen Auftritten und Lesungen ‚performt’ Michael Fehr auf diese Weise seine Werke. Er liest nicht bloß Texte vor: Er übersetzt simultan; er inszeniert die Literatur als Partitur im Klang der Sprache – er befreit also das Wort von der Konserve der Schrift. Die Suche nach der Erlösung: Für Michael Fehr ist sie die Suche nach der Harmonie in der sprachlichen Äußerung. Ist das Prosa, Lyrik – oder nicht vielmehr ein Puls oder Takt, ein Rhythmus oder eine Melodie? Die Antwort des Autors lautet:
„Ich würde mich nie als Literat bezeichnen. Ich wandle sozusagen auf literarischen Pfaden. Ich suche Worte, aber sie fallen mir auch ein. Ich denke, damit man findet, muss man suchen. Und damit man einen Einfall hat, muss man offen sein. Das ist eine Art dialogischer Vorgang. Aber am Schluss mache ich eigentlich Sprachskulpturen, nach musikalischen Prinzipien komponiert. Die wichtigsten Kriterien sind vielleicht Repetition und Variation.“
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen