Das Gegenteil einer Mogelpackung

Über Christoph D. Brumme „111 Gründe, das Radfahren zu lieben“

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Cover verspricht unbeschwerte Freiheitsgefühle: blauer Himmel, ein paar Wolken, als Silhouette ein Fahrradakrobat. Und dann erwartet man die lange Reihe von Gründen, 111 Stück. Die Einteilung derselben in 13 Etappen lässt die an einschüchternde Menge bewältigbarer erscheinen. Von „Ich – Extrem-Radfahrer“ über „„Komm ins Offne Freund“ und „Kulturgeschichtliches“ bis „Endspurt“ geht Christoph D. Brummers Fahrt. Der hat nach vier Romanen, zahlreichen Artikeln und Blogbeiträgen ein umfangreiches Buch über seine Reisen mit dem Fahrrad von Berlin an die Wolga und zurück geschrieben: „Auf einem blauen Elefanten“. Die „111 Gründe, das Radfahren zu lieben“, das merkt man schnell, verdankt dem Vorgänger einiges, und das ist auch gut so. Statt nämlich nur Grund an Grund zu reihen, spielt Brumme mit der Form, indem er alte und neue Touren in den Osten als Belege und als Beispiele nimmt, um dem Fahrrad als „vielleicht größter Erfindung der Menschheit“ zu huldigen. So bekommt man erwartbare Gründe geliefert, also energieeffiziente, menschliche und individuelle Fortbewegung mit dem Rad, und gleichzeitig intime Einblicke in die Lage vor allem der Ukraine, aber auch Russlands. Kleine Reportagen führen uns mit dem Autor, der sehr passabel Russisch spricht, in die Kreise der Kumpel im Donezgebiet, gebildeter Kiewer Jugendlicher, der Polizei und Miliz, Feldarbeiter, kleinerer und größerer Ganoven, Veteranen, Kioskbetreiber an einsamen Landstraßen. Immer kommt ihm zupass, dass er als Radfahrertourist aus dem Westen ein Unikum ist, dessen Fortbewegungsart allein schon Vertrauen erweckt: „Denn man reist aus eigener Muskelkraft, zeigt sich offen und strampelt wie ein Baby, um vorwärts zu kommen. Harmloser kann man nicht auftreten.“

Nicht nur das erinnert an ein altehrwürdiges Vorbild: Johann Gottfried Seume (1763-1810). Der spazierte von Grimma in Sachsen nach Syrakus in Sizilien und vertrat die bestechende These: „Ich bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge.“ Brumme, übrigens in Sachsen geboren, wie Seume schätzen den einzelnen Menschen, verachten Vorurteile, Nationalismus, Dünkel, kennen Stolz, aber nur den aufs Selberdenken, sind weniger demokratisch als republikanisch, vor allem aber human und kämpferisch gesinnt. Beide nehmen sich selbst nicht zu ernst. Beide sind pessimistische Skeptiker und nachsichtige Menschenfreunde in Personalunion. Beiden schätzen die Details, das konkrete Wissen, die Konfrontation mit der Wirklichkeit. Beide erfahren das Reisen als Glück und Befreiung und Bildungserlebnis. Sie haben viel aus Büchern gelernt und Bücher geschrieben, nun kommt die Straße, die Weite, die Natur an die Reihe.

Brumme beschreibt das Fahrradfahren sogar als eine Rettung, und handelt dabei viele der natürlich erwarteten Gesundheitsaspekte ab. Als Schreibtischtäter machte er sich fast zum Krüppel, auf Tour mit dem bepackten Rad weiten sich die Lungen, verschwinden die Rückenschmerzen und – genauso wichtig – die beschwerend düsteren Gedanken.

Dass Radeln kein Spaziergang ist, erfährt der Leser natürlich auch: „Wind kann hart wie eine Wand sein, doch man kann ihn nicht anfassen, nicht beiseiteschieben, schon gar nicht mit Hilfe von Tabletten seine Wirkung mildern.“ Als Radfahrer, der sich den Problemen der Landstraße stellt, lernt man viel über die eigene Persönlichkeit, die eigenen Kräfte, das eigene Leben. Deshalb überzeugt der fast ausnahmslos subjektive Zugang Brummes. Er lässt den Leser, indem er ihn – Grund für Grund für Grund – mit auf die Fahrten in den Osten nimmt, teilhaben an seinen Erfahrungen und Bildungserlebnissen. Da lernt man, warum Radfahren im Kommunismus ein politisches Problem war (Individualismus), welche Kleidung unterwegs notwendig und ratsam ist, dass man mit dem Rad durch strengkontrollierte Grenzen hindurchgewinkt wird, dass man ironisch radeln kann und gerade bei Langstrecken ganz eigene Gefühle sich einstellen: „Alle Langzeitradfahrer berichten vom Vergessen von Raum und Zeit, von der gänzlichen Hingabe ans Fahren, von der Freude über flüchtige Begegnungen unterwegs, vom Rausch.“

Brummes Buch ähnelt auch darin Seumes „Spaziergang nach Syrakus“, dass es kulturkritisch gestimmt ist, den Leser aufwecken will aus dem Eingelulltsein durch das aktuelle System westlich kapitalistischer Medien-Gesellschaften. „Das Gehirn wird industrialisiert“, schreibt der Autor, und er meint mehr als den allgegenwärtigen Computergebrauch. Es geht ihm um unsere Art zu denken und zu existieren, all die Sachzwänge, die Verblendungszusammenhänge. Und weil er sich selbst als – immer wieder komisches und anschauliches – Beispiel für allerlei Verbildungen und Kuriositäten des Daseins präsentiert, liest man inmitten der Fahrradliebeserklärungen gut unterhalten und produktiv irritiert über Bürokratieexzesse, sozialpolitische Chimären, Emanzipationsfragen und wirtschaftliche Fehleinschätzungen. So trägt die Autoindustrie nur zu 2,7 % des BIPs bei, macht sich in der öffentlichen Wahrnehmung dagegen viel, viel breiter.

Wie anders der Radler, der sich, wie Brumme schreibt, fern von Hybris im Alltag farbenfroh verkleidet, eigensinnig Wege sucht und eher selten sein Fahrzeug einsetzt, um Statusüberlegenheit zu demonstrieren. Eine besonders schöne Erkenntnis findet sich mit dem Grund 43: „Weil man als Radfahrer Vorurteile widerlegen kann“. Da geht es um das Misstrauen, das man immer gegenüber der nächst östlich wohnenden Nation hat. So warnen Berliner Brumme heftig vor den Gefahren der verbrecherisch gefährlichen Ukraine. Der belustigt sich über diese treudeutsche Einstellung: „Man kennt den Nachbarn im eigenen Mietshaus nicht, weiß aber genau, dass der Schleusenwärter am Dnjepr ein Dieb ist.“ Immerhin ist es in Polen oder Weißrussland nicht anders. Das alte Sprichwort bewahrheitet sich: „Jedes Land hat seinen Osten.“

Was ist das nun für ein Buch und taugt es für ganz normale Fahrradenthusiasten? Ja, um die letzte Frage zuerst zu beantworten. Man erfährt über die Höchstgeschwindigkeit, Varianten (Trial, Renn-, Langstrecken-, Kunstradfahren etc.) und Geschichte des Fortbewegungsmittels wirklich sehr viel, dazu über Klickpedale, Fahrradmessen und Eigenreparatur. Außerdem findet man zahlreiche gut umsetzbare Tips für das Alltags-, mehr noch für das Fernfahren mit dem Rad. Dann lernt man aus den Fahrraderlebnissen Brummes eine Menge über die erstaunlichen Möglichkeiten, die in dieser modernen Zentauerdaseinsform stecken. Das Buch aber gleicht seinem Gegenstand, insofern es schon sehr gut erdacht ist, prima funktioniert und rund läuft, aber sehr individuell benutzt werden kann. Es ist mehr als ein zufällig zusammengedengeltes thematisches Lesebuch, weil der Autor fast immer im Mittelpunkt steht und alles prägt. Es geht über Abhandlungen, deren Argumente es freilich präsentiert, weit hinaus, indem es Schnurren, komische Dialoge, kleine philosophische Exkurse und landeskundlich historische Abschweifungen wagt.

Ach ja, literarische Vorbilder und Freunde begleiten Brumme auf der Fahrt auch, so dass man en passant noch manchen Wink von Hölderlin, Kafka, O’Brien, Beckett, Dostojewski erhält. Zur Abschluss seien noch ein paar Gründe einfach aufgezählt: Weil man als Radfahrer keine Bonuskarten braucht, weil man als Radfahrer die Polizei verspotten kann, weil man auf dem Fahrrad keinen Ballast mitnehmen kann, weil Radfahren ein gutes Mittel gegen Computersucht ist, weil man als Radfahrer mit Helm lustig aussieht, weil man als Radfahrer von armenischen Boxern nicht verprügelt wird, obwohl man als Radfahrer böse stürzen kann, weil Fahrräder so schöne Namen haben, weil man als Radfahrer leicht berühmt wird, weil das Leben schön ist.

Titelbild

Christoph D. Brumme: 111 Gründe, das Radfahren zu lieben. Vom Rausch der Geschwindigkeit, dem Geheimnis der Langsamkeit und dem Wissen, dass das Glück zwei Räder hat.
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2014.
272 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783862653607

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