Die Verteilung der Preise

Vom Ereignis zum Feld der literarischen Preisverleihungen in Deutschland

Von Heribert TommekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Tommek

Die Vergaben literarischer Preise sind Ereignisse im regelmäßigen Rhythmus. Hinter der Vielzahl der Akteure und Ereignisse existieren jedoch Strukturen, die sie hervorbringen, und die sich mit Pierre Bourdieu als literarisches Kräftefeld bezeichnen lassen. Dieses spannt sich zwischen den Polen einer kulturell-symbolischen und einer ökonomischen Auszeichnungslogik auf. Wie die Salons im 18. und 19. Jahrhundert sind Preisverleihungen auch heute noch Knotenpunkte, in denen sich Literatur, Ökonomie, Politik und mediale Öffentlichkeit begegnen. Die Auszeichnung eines Werkes und seines Autors unterliegt daher zumeist einer Kompromissbildung, die sich nicht als solche zeigen darf, wenn die soziale Magie funktionieren soll.

Preisverleihungen sind eingebunden in ein Ritual- und Glaubenssystem. Am Ende – im Ereignis der Preisverleihung – geht es um die Behauptung einer regelrechten Transsubstantiation: Denn die Erhöhung des Werks und seines Autors durch den Akt der Auszeichnung ist allein schon eine Wesensverwandlung, auch wenn nicht jeder in der Gemeinde auf die Knie fällt und den ‚Leib’ gewordenen Geist anbetet: „Sehet, hier ist X, der diesjährige Preisträger.“ Im Akt der Auszeichnung findet sich bereits ein Moment der Anerkennung. Wie ein glücklich oder unverdient gewonnenes Spiel im Sport lässt sich die legitimierte Auszeichnung nicht mehr rückgängig machen, sie lässt sich höchstens früher oder später vergessen. Je mehr ‚Konsekrationsinstanzen’ und Preisauszeichnungen es aber gibt, je schneller sie aufeinander folgen und je schneller sie auf diese Weise zugleich veralten, desto mehr ist der magische Sprechakt der Transsubstantiation lediglich eine temporäre Aufforderung zur Anbetung ohne weitere Verinnerlichung. Hinzu kommt, dass die Institution der Literatur schon lange keine einheitliche ‚Kirche’ mehr bildet. Es wäre aber falsch, aus der Pluralisierung den Schluss zu ziehen, es gäbe keine übergeordnete Struktur mehr oder kein System der Unterschiede zwischen literarischer und ökonomischer ‚Größe’ (Bestseller).

Wie einst die literarischen Salons in einer hierarchischen Ordnung standen, so gibt es auch heute eine Struktur der Abstände zwischen den Preisen. Wie aber lassen sich ihre Verteilungsmuster im deutschsprachigen literarischen Feld bestimmen? Nach welchen Gegensätzen werden die feinen Unterschiede markiert? Grundlegend ist nach wie vor die Polarität zwischen Kunst und Kapital, zwischen den sich eigentlich ausschließenden Gesetzmäßigkeiten literarisch-ästhetischer und ökonomisch-medialer Größe. Die autonome, literarisch-ästhetische Auszeichnungslogik steht unter dem Regime der ästhetischen und literarischen Zeit. Diese Uhr tickt recht langsam, da es hier um den Eingang in die ‚lange Zeit’ der Kanonisierung und des literarischen Gedächtnisses geht. Dagegen bemisst sich die Herstellung einer ökonomisch-medialen Größe nach der lauter und schneller tickenden Uhr der sozialen Zeit, also des medial vermittelten Ereignisses. Zur Polarität von kulturellem und ökonomischem Kapital, ästhetischer und sozialer Zeit kommt die Opposition zwischen ästhetischer Form und (moralischem, weltanschaulichen) Inhalt: Je stärker die literarische Größe der ästhetischen Zeit unterliegt, desto mehr geht es um Qualitäten ihrer Literarizität, ihrer Form. Dagegen sind Auszeichnungen, die unter der Bestimmung der sozialen Zeit stehen – sowohl die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Franck) als auch die Ökonomie des Absatzes – tendenziell am Inhalt, am ‚geistigen Gehalt’ oder am ‚Zeitgeist’ orientiert: „X trifft mit seinem neuen Roman den Nerv der Zeit“. „Y ist eine Sensation“. Schließlich hängt mit den genannten Gegensätzen die Art und Weise der Transsubstantiation zusammen: Während die Wesensverwandlung am kulturellen Pol auf die Sichtbarwerdung eines Autors und seines Werks zielt, wie Michel Foucault in Was ist ein Autor? (1969) gezeigt hat, steht am anderen Pol der Nobilitierung die Wesensverwandlung in eine sozial honorable und medial sichtbare Person im Vordergrund. Die Person wird hier weniger für ihr Gesamtwerk als für ein Einzelwerk ausgezeichnet. Dieses einzelne Buch bringt entweder eine bürgerlich-honorable Weltanschauung oder ein Thema zum Ausdruck, das den Nerv oder den Geschmack der Zeit trifft und sich deswegen gut verkauft. Hier ist der Ort für Preise mit einer gesellschaftspolitischen und/oder ökonomischen Trägerschaft, so zum Beispiel der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, der 1993 vom Ministerpräsidenten Bernhard Vogel ins Leben gerufen wurde und 2014 den Medienphilosophen Rüdiger Safranski für die „Versöhnung des Ästhetischen mit dem Politischen“ ehrt. Dieser Preis ist also an der Schnittfläche zwischen dem literarischen und dem politischen Feld angesiedelt.

Innerhalb des deutschsprachigen literarischen Feldes existiert eine kaum mehr zu überschauende Vielzahl von Preisen. Nur die drei bekanntesten seien nach ihrer Position und ihrer Funktion skizziert. Zunächst gibt es die Ingeborg-Bachmann-Preisvergabe im Rahmen der Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Sie inszeniert mit ihrem von der Gruppe 47 übernommenen Modell der pseudo-akademischen Kritik nochmals das ‚Theater’ einer literarischen Öffentlichkeit. In diesem öffentlichen, d.h. medial vermittelten „Salon des literarischen Raisonnements“ findet eine Kompromissbildung zwischen den Interessen der Literaturkritik, der Landespolitik (nicht zuletzt vertreten vom ORF) und der Sponsoren statt. In Szene gesetzt werden eine Textualität, d.h. das ‚Herauslesen’ eines ‚Werkes’ aus der ‚Saubohne’ des vorgelesenen Textes und zugleich die persönliche Präsenz des Autors wie auch der Literaturkritiker als Ereignis oder Performance. Der diesjährige Preisträger, Tex Rubinowitz (eigentlich: Dirk Wesenberg), der Cartoonist, Musiker, Reisejournalist und gelegentlich auch Schriftsteller ist, passt hier gut ins Bild. So besteht die paradoxale Funktion des Bachmannpreises in der Reproduktion eines offenen Literaturbegriffs unter Beibehaltung der für das literarische Feld konstitutiven illusio der Textualitäts- und Werkidee. Die Zusammenführung an sich widersprüchlicher Logiken – die Divination eines zukünftigen Werkes und die Öffnung für „Gelegenheitsdichtungen“ im Kontext einer allgemeinen Symbolproduktion – entspricht dem Fetisch der heutigen Literaturkritik: das temporäre Meisterwerk, das sich unterhaltsam liest und für alle offen zugänglich ist, aus dem aber nichts weiter folgen muss.

Dagegen geht es am kunstautonomen Pol des literarischen Feldes um die Auszeichnung eines Werkes in einer ästhetischen Langzeitperspektive. Für diese Initiationspassage vom einzelnen Schriftsteller und seinen mit der Zeit geschriebenen Büchern hin zum Autor eines einheitlichen Werkes steht traditionell der von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergebene Georg-Büchner-Preis: In der Laudatio für den diesjährigen Preisträger Jürgen Becker heißt es, er sei „eine maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie, sein Werk hat die deutschsprachige Dichtung über Generationen entscheidend geprägt. In seinem über Jahrzehnte gewachsenen Werk hat er die Gattungsgrenzen von Lyrik und Prosa beharrlich neu vermessen und verändert.“ Da der Literaturbetrieb weniger auf Langzeitentwicklungen als auf Kurzzeit-Ereignisse ausgerichtet ist, gestaltet es sich auch für die Jury des Georg-Büchner-Preises immer schwieriger, ein für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur maßgebliches und repräsentatives Werkes auszeichnen zu können – da müssen auch schon mal ein paar wenige Bücher ausreichen, wie im Falle Sibylle Lewitscharoffs im letzten Jahr, im guten Glauben an das daraus sich noch bildende Œuvre.

In der Satzung des Büchner-Preises steht, dass Werke ausgezeichnet werden, die „an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.“ Diese Bestimmung nahm Uwe Wittstock in seinem Blog zum Anlass, die diesjährige Preisverleihung an Jürgen Becker zu kritisieren, da dessen Werk nicht für die Gegenwartsliteratur, sondern für die Literatur der sechziger und siebziger Jahre von Bedeutung gewesen sei. Wittstock hatte sich schon Anfang der neunziger Jahre für eine neue, unterhaltsame Gegenwartsliteratur mit ästhetischem Anspruch nach angelsächsischem Vorbild ausgesprochen. Hier geht es vor allem um ein neues Erzählen im nach-modernistischen Roman. Dessen zentrale Konsekrationsinstanz ist der letzte der hier zu skizzierenden Preise: der Buchpreis des Börsenvereins des deutschen Buchhandels.

Der deutsche Buchpreis ist die dominante Legitimierungsinstanz eines Kompromisses zwischen einer ökonomischen und einer ästhetischen Wertordnung. Nach dem Vorbild des Booker Prize in Großbritannien verfolgt er den Anspruch, „den besten deutschsprachigen Roman des Jahres“ auszuzeichnen (so die Selbstdarstellung). Bei dem Preis geht es um die Vergabe eines Gütesiegels für den literarischen Markt der Erfolgsbücher. Seine ökonomische Hauptfunktion liegt darin, schon bekannte und potentielle Erfolgsbücher zu realen Bestsellern zu machen. Dabei spielt die mediale Wegbereitung für den internationalen Durchbruch eine zentrale Rolle. Mit einer umfangreichen Berichterstattung über die lange Liste (longlist) der nominierten Kandidaten und mit der einige Zeit darauf als Auswahl zusammengestellten kurzen Liste (shortlist) wird nicht nur buchhändlerische, sondern auch eine allgemeine mediale Aufmerksamkeit erzeugt. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass der Deutsche Buchpreis Romane eines gegenwartsbezogenen Realismus favorisiert. Gesellschaftliche Relevanz von Literatur wird hier also einerseits über den Stoff, andererseits in Form von medialer Präsenz und Steigerung des Absatzes hergestellt. Der diesjährige Preisträger – Lutz Seiler mit seinem Roman Kruso – ist insofern überraschend, als Seilers lyrische Sprachgestaltung die Präferenz für einen gegenwartsbezogenen Realismus unterläuft. Andererseits liefert der Roman den passenden Stoff zum 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer. Daher liegt die Vermutung nahe, dass Seiler nicht wegen, sondern trotz seiner ästhetischen Form aus Gründen des zeitgeschichtlichen Stoffes – in Anlehnung an Uwe Tellkamps Der Turm, der 2008 den Deutschen Buchpreis erhielt – ausgezeichnet wurde.

Seit seinem Bestehen bevorzugt der Deutsche Buchpreis den realistischen, zeitgeschichtlichen oder historischen Roman. Seine Funktion besteht einerseits in der diskursiven Konsensbildung und Herstellung neuer Repräsentationen des deutschen Zeitgeistes; andererseits ist der Preis Ausdruck für eine allgegenwärtige Wettbewerbs- und Ranking-Doktrin – es geht immerhin um den „besten Roman des Jahres“. Last but not least ist er Ausdruck des Strebens nach einem Anschluss an den internationalen Markt literarischer Bestseller oder an eine globalisierte world literature. Diese neuen Formate einer world literature der im Jahresrhythmus produzierten literarischen Bestseller sind zu einem großen Teil Produkte des Buchhandels und der Literaturkritik. Nicht nur die Bücher und ihre Stoffe, sondern auch ihre nationalen Auszeichnungsinstanzen sind vergleichbar und kompatibel: Sowohl der Buchpreis des deutschen Buchhandels als auch der Prix Goncourt in Frankreich und der Booker Prize in England sind durch ihre Mittelstellung zwischen ästhetischer und kommerzieller Wertschöpfung geprägt. Diese Konsekrationsinstanzen der gemischten Werte sollen die internationale Zirkulation der ‚jahresbesten Romane’ zwecks größeren Absatzes fördern. So stellt der medial und ökonomisch gestützte literarische Kosmopolitismus zunehmend eine Konkurrenz für den traditionellen, kunstautonomen Internationalismus und Universalismus der kanonisierten „Weltliteratur“ (longseller) dar. Allerdings bleibt ein Rest im magischen Akt der Transsubstantiation – ein Geheimnis, dessen Schleier nur die Zeit lüften kann: ob nämlich den Werken dieser neuen world literature der Sprung in die ästhetische Langzeitrechnung gelingt oder ob sie ins Reich des Vergessens stürzen. Die heilige Kommunion haben sie alle empfangen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen