„Irgendwo im Gewebe des Textes lauert die Spinne“
Jürgen Nendza über das (Be-)Deuten von Gedichten – und die Stärken der Provinz
Von Maren Jäger
Jürgend Nendzas Moderator Norbert Scheuer ist – wenngleich er in der Eifel lebt – in Essen bestens bekannt, war er hier doch selbst im Jahr 2011 als Poet in Residence zu Gast. Außerdem hat er – gemeinsam mit LuM-Dozent Andreas Erb, der zu diesem Gemeinschaftsprojekt Collagen beisteuerte, im Lilienfeld-Verlag einen Band publiziert, Von hier aus, der in Text und Bild den (realen und literarischen) Ort Kall in der Eifel und seine Umgebung erkundet.
Scheuers Werdegang ist für einen Schriftsteller vermutlich eher untypisch: Nach einer Elektrikerlehre studierte er physikalische Technik; seine erste längere schriftliche Produktion ist eine Diplomarbeit über die Röntgenstrukturanalyse an Eisenoxiden, dann folgte (am Ende seines anschließenden Studiums der Philosophie) eine Magisterarbeit über Kant. Scheuer hat vier Romane (Der Steinesammler, 1999; Flußabwärts, 2002; Überm Rauschen, 2009; Peehs Liebe, 2012; ein fünfter – Die Sprache der Vögel – erscheint im März 2015) und je zwei Bände mit Erzählungen (Der Hahnenkönig, 1993; Kall, Eifel, 2005) und Gedichten (Ein Echo von allem, 1997; Bis ich dies alles liebte, 2011) vorgelegt und diverse Literaturpreise erhalten (etwa 2003 den Martha-Saalfeld-Förderpreis, 2006 den 3sat-Preis beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb sowie den Glaser-Preis und 2010 den Rheinischen Literaturpreis Siegburg); währenddessen ging er einem für einen Schriftsteller vermutlich eher untypischen Brotberuf nach: Er ist Systemprogrammierer bei der Deutschen Telekom. Die Moderationsanfrage habe er aus zwei Gründen schlicht nicht ablehnen können, sagt Scheuer, denn Nendza sei erstens ein Freund und schreibe zweitens – ein unverhohlenes Vorschusslorbeerkränzchen –„wunderbare Gedichte“.
Jürgen Nendza, der in Aachen lebt und 1957 in Essen geboren wurde, promovierte 1991 über das Problem der Fiktionalität in der Sprachzeichenkommunikation, bevor er ein Jahr später mit dem Gedichtband Glaszeit debütierte. Da war er bereits 35 Jahre alt, verglichen mit den meisten Lyrikern (etwa Jan Skudlarek aus Hamm, Jg. 1986, der im vergangenen Jahr mit Elektrosmog bei luxbooks debütierte) also kein ‚junger Lyriker’ mehr. Wann, so möchte Norbert Scheuer wissen, hat Jürgen Nendza „gemerkt“, dass er Lyriker sei? Man könne sich nicht „entscheiden“, Lyriker zu werden, so Nendza. Die ersten Gedichte von Eich, Celan, die Prosa Kafkas und Sartres habe er mit 15 Jahren gelesen, was einer Entdeckung poetischen Eigen-Sinns gleichgekommen sei.
Jürgen Nendza hat nach dem Debüt Glaszeit (1992) sechs weitere Gedichtbände (Finistère, 1993; Landschaft mit Freizeichen, 1996; Und am Satzende das Weiß, 1999/22004; Haut und Serpentine, 2004; Die Rotation des Kolibris, 2008; Amsel und Apfel, 2012) und einen Prosaband (Eine andere, eine Nacht, 2002) im Verlag Landpresse sowie im Rimbaud- und poetenladen-Verlag vorgelegt. Er ist in mehrere Sprachen übersetzt worden, etwa ins Niederländische und Englische (Vlieggeluid/Flügtöne, 2008; Die Gelegenheit der Wiese/The Chance of the Meadow, 2007/22009), mit seinen Gedichten, Essays und Features in unterschiedlichsten Anthologien (z.B. Die Hölderlin Ameisen, 2005), Zeitungen (SZ, Freie Presse, Kölner Stadtanzeiger u.a.) und Zeitschriften (u.a. Volltext, SpritZ, Lose Blätter, die horen, poet) vertreten und verfasst außerdem Prosa, Hörspiele, Radio-Features (WDR, SWF, DLF) und Funkerzählungen für Kinder (etwa Die kleine Frau Marie, 2000).
Die gemeinsam mit Eduard Hoffmann zusammengestellte Dokumentation der Aachener Ausstellung Vom Spielkaiser zu Bertis Buben (1999) zeigt, dass der 1998 mit dem Lyrikpreis Meran und (dreifach: 1998, 2006, 2011) mit dem Literaturstipendium der Kunststiftung NRW dekorierte Dichter sich auch für die schönste Nebensache der Welt interessiert – mehr noch: Er ist einer der exzellentesten Kenner nicht nur des Männerfußballs, wie die 2005 gemeinsam mit Eduard Hoffmann herausgegebene Frauenfußballhistorie Verlacht, verboten und gefeiert beweist.
Norbert Scheuer nimmt es auf sich, die Frage an Nendza zu richten, die alle nicht in Berlin lebenden Autoren nur zu gut kennen – gewiss auch der Moderator selbst, dessen ‚Lebensthema’ gewissermaßen der Mikrokosmos der Provinz ist (namentlich Kall in der Eifel) und dessen Gedichtband Bis ich dies alles liebte den Untertitel „Neue Heimatgedichte“ trägt. Warum also ist Nendza in den neunziger Jahren in Aachen geblieben – und nicht dem Ruf der Metropole gefolgt? Tatsächlich sei Köln – so Nendza – in diesen Jahren die interessantere Stadt gewesen, etwa als Heimat der sog. „Neuen Kölner Schule“ (ein nicht unumstrittener Begriff, unter den gern Beyer, Hummelt, Kling und Gräf subsumiert werden). Auch hinsichtlich der Verlagslandschaft sei Köln seinerzeit gut aufgestellt gewesen, während Aachen lediglich (aber immerhin!) Rimbaud und den Alano-Verlag vorzuweisen hatte. Hierin sieht Nendza die zweifache Stärke der Provinz: Erstens „hat man seine Ruhe“. Und zweitens läuft man dort nicht Gefahr, „der Schnelllebigkeit der Metropolen, dem Mainstream“ zu unterliegen. „Wie viele junge Autoren sind nicht in Berlin auf der Strecke geblieben!“ Dabei verlässt Nendza in seinen Gedichten durchaus den Raum der Provinz, um in die Weite auszuschreiten, in die ganze Welt zu gehen. Fest auf dem Boden Nordrhein-Westfalens steht jedoch sein bemerkenswertes jüngstes editorisches Projekt (gemeinsam mit Hajo Steinert): die Anthologie Stadtlandfluss mit Gedichten aus den vergangenen 25 Jahren von 111 Lyriker*innen aus NRW.
Warum über Gedichte reden? Warum über gute Gedichte reden, sind sie doch für Jürgen Nendza wie Songs, die man mag – und bei denen man Freunden einen Ohrstecker des MP3-Players aufnötigt, weil man will, dass sie auch ihnen gefallen. Die Musikanalogie kommt bei Nendza nicht von ungefähr, hat er doch zugunsten der schriftstellerischen Tätigkeit, die sich in ihn „existenziell eingeschrieben“ habe, eine Karriere als Musiker aufgegeben. Aber restlos ist ihm die Musik nicht abhandengekommen, das merkt man, wenn man ihn beim Vortrag seiner Gedichte hört.
In einem ersten Block der neunzigminütigen Veranstaltung liest Nendza einen Querschnitt aus den Gedichtbänden der Jahre 1999-2008, zunächst sechs Gedichte aus Und am Satzende das Weiß – etwa folgendes, das man auch auf lyrikline.org nachhören kann:
Die Kohlezeichnung der Stare vor dem kreidigen
Himmel. Deine Spur ist dieser Augenblick,
Ordnung in der Luft zu denken. Eine
unberechenbare Landschaft auffliegender
Punkte über einem Landstrich aus Boden.
Darin deine Haut. Was zu erkennen ist:
Jeder Punkt saugt auf deinen Blick
und am Satzende das Weiß
Belebte wie unbelebte Natur wird zur Zeichnung, Zeichen werden in die Natur eingeschrieben; Schrift, Landschaft, Menschen und ihre Gebärden und Sinneswahrnehmungen verschmelzen miteinander in der dichten Topographie der Sprache.
Wenngleich er in seiner Dissertation poststrukturalistische und hermeneutische Ansätze zur Sprachzeichentheorie auslotete, um zu ergründen, wie die Welt in Sprache übersetzt wird, ist der Lyriker Nendza sich sicher: Gedichte können mehr über Sprache sagen, als wissenschaftliche Prosa das vermag. Sie sind imstande, sich zugleich „horizontal und vertikal“ in der Zeit zu artikulieren, können unterschiedliche Orte und Zeitebenen synthetisieren und tragen die poetologische Reflexion ihres Verhältnisses zum sprachlichen Zeichen in sich.
Aus Haut und Serpentine (2004) liest Nendza (neben zwei einzelnen Gedichten) den Zyklus „Hinterland“, dessen grausiger Protagonist ein „Grenzhochspannungshindernis“ ist, ein Monstrum, das in keinem Geschichtsbuch Erwähnung findet. Dieser 1915 von den Deutschen im besetzten Belgien errichtete Starkstromzaun hat etwa zweitausend Opfer gefordert.
Oft ist es die (historisch und poetisch angereicherte) Landschaft des Dreiländerecks, in dem der Autor lebt, von der aus die Gedichte ihren Absprung in andere Orte und Zeiten nehmen, etwa in den Gedichten der Abteilung „Bulten und Schlenken“ aus Apfel und Amsel, die topographisch auf das Hohe Venn rekurrieren, ein Hochmoor im deutsch-belgischen Grenzgebiet. Der schallisolierte Raum der Moorlandschaft ist Wasser- und zugleich Erinnerungsspeicher. Beides vermag der Boden freizugeben: Zeit und Wasser, beides sind zentrale Motive – etwa im folgenden Gedicht, das Viviane Wollack, eine Studierende des Fachbereichs Design der FH Düsseldorf zu einer filmischen Miniatur angeregt hat, die Nendzas Wortfelder (mitsamt der Musik von Ekaterina Panteleeva) in bildliche Eigenwelten übersetzt:
Dein Lippenflimmern unter dem Wachsein
der Sprache: Flügelginster, Hirtenblicke
treiben aus dem Bodenhorizont. Ein offenes
Gelände unter Schwebstoffen, die Unüberbrückbares
miteinander verbinden. Wir sind Passanten
im Wort, sagst du und beklagst, dass Zeit
in deine Seele dringt. Torf. Ist es wirklich eine
geträumte Sommerstunde? In unserem Rücken
die Sonne wie knisterndes Backpapier.
Der Himmel faltet unsere Müdigkeit zusammen.
Nendza gibt zu, von bestimmten Räumen „eingefangen“ zu werden; wichtiger als reale Topographien sind jedoch diejenigen, zu denen sich Worte arrangieren. In den Schnittmengen und Zwischenräumen von Begriffs- und Themenfeldern sucht er die Scharniere auf, die Türen zu neuen Räumen öffnen.
In Die Rotation des Kolibris (2009) entführt er den Leser in die Karibik und verrät uns Mitreisenden nebenbei, dass eine Paradiesvogelart in Tobago ‚mot mot’ heißt, dass es keine Possessivpronomina im Kreolischen gibt und dass der schwirrende Flügelschlag des Kolibris „kein Auf und Ab“ beschreibt, „kein Vor und Zurück. Seine Flügel rotieren wie eine liegende Acht. Quasi eine Unendlichkeitsschleife an Bewegung, denn an keiner Stelle dieses Bewegungsablaufs entsteht ein toter Umkehrpunkt“ – so Nendza im in dem von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt herausgegebenen Band Umkreisungen. 25 Auskünfte zum Gedicht (poetenladen 2010). Und so klingt das im Gedicht „Vielleicht ist es das Erzittern“ aus dem Zyklus „… sagen die Luftwurzeln“:
I.
Vielleicht
ist es das Erzittern,
mit dem wir beginnen und enden,
während die Augen am Himmel saugen
im Rhythmus einer Sprache
ohne persönliche Besitzanzeige:
Kupfer, Zimt, ein türkisfarbenes
Fliegengewicht, sagen die Luftwurzeln,
und wir zerstäuben im Lichtfächer
des Kolibris, im Nonstoppflug, Jetlag:
drei Gramm Flugtöne und -rausch,
Variationen in Kalliopes Stimme.
So bleiben wir stehen
in der Luft, in einer Schleife
ohne toten Umkehrpunkt, während
unter uns die Landschaft
weiterzieht.
Diese Begegnung mit dem Flügelschlag des Kolibri hatte – wie Nendza in Umkreisungen verrät – „hinterließ ein federleichtes Bild, das Vergänglichkeit und Dauer, Melancholie und Begeisterung, Leben und Tod mit jedem Flügelschlag beinahe zyklisch in sich einschrieb: Eine liegende Acht, eine kreisförmige Haltung. Und irgendwann stellte ich fest, dass der Kolibri selbst zu einem Ausdruck für das Gedicht und seine Übergänglichkeit geworden war. Für ein Gedicht, das für einen Moment auffliegt und die Zeit anhält, indem die Lektüre des Atems es erwärmt, seine Worte aus torpider Wartehaltung entlässt und zu einer Geborgenheit ins Offene einlädt.“
Wie Gemälde mit vielen kleinen Schraffuren seien die Gedichte Nendzas, findet Norbert Scheuer, poetische Abbreviaturen, deren Komplexität sich erst bei genauem Hinsehen entfalte; dabei sei es jedem Leser/jeder Leserin freigestellt, die Gedichte auch wie gute (Sprach-)Musik zu rezipieren. Blickt man jedoch tiefer in die Texte, so zeigt sich ein enormer Anspielungsreichtum, etwa im dritten Gedicht aus dem Zyklus „Zypernkatzen“ (in Apfel und Amsel):
… in welche Richtung denn, Asphodele? Am Wegrand
unter Zedern hältst du Ziegen, die ihren Schatten fressen
auf verbrannten Hängen und deine Zärtlichkeit, sagt man,
kenne einen Grund neben Himmel und Hölle. Der Olymp
jedenfalls ist geteilt zwischen ham and eggs
und die Wetterstation da oben sitzt mir in den Knochen …
Die Asphodele etwa ist ein Lichtgewächs, in der antiken Mythologie der Göttin der Fruchtbarkeit Proserpina geweiht; steigt diese in den Hades herab, so verblüht das Leben auf der Erdoberfläche. Norbert Scheuer stellt die Frage, die manch einem Zuhörer gewiss schon des Öfteren beim Hören (oder Interpretieren) von Lyrik durch den Kopf ging: „Weiß man das alles schon ganz genau, während man ein Gedicht schreibt?“ Selbstredend seien einem nicht alle Bedeutungsdimensionen, die sich in ein Gedicht einschreiben, gleichermaßen evident und bewusst, entgegnet Nendza. Schließlich sei die Sprache immer klüger als der Autor und das Gedicht selbst – wie es im Beitrag zu den Umkreisungen heißt – „bekanntlich mehr als die Summe seiner Worte. Was sich in der poetischen Textbewegung des Schreibens zeigt, ist für mich ein unvorhersehbares Zusammenspiel von Konstruktion und Überraschung, Kalkül und Entdeckung, Handwerk und Rätsel.“ Nach Abschluss der ersten Rohfassung eines Gedichtes genieße er es, zunächst den „poetischen Erfolg auszukosten“ und erst am nächsten Tag den Text laut zu lesen – und ihm den rhythmischen Feinschliff angedeihen zu lassen; die „Suggestivität des Rhythmus“ könne „auch schwierige Bilder tragen“. „Irgendwo lauert im Gewebe des Textes die Spinne“, weiß sein Autor; und die multiplen Bedeutungen poetischer Sprache können Literaturwissenschaftler*innen lange Zeit beschäftigen; nichtsdestoweniger wird immer ein „geheimnisvoller Rest“ bleiben, der untrügliches Zeichen der „Anschaulichkeit, Intellektualität und Modernität“ lyrischen Sprechens sei.
Und – als Dank für die Vorschusslorbeeren seines geneigten Lesers (und Moderators) – schließt Jürgen Nendza mit einem Gedicht von Norbert Scheuers ‚Wunschliste’ (dem letzten Gedicht aus Apfel und Amsel, 2012):
NACHTS, wenn dein Körper Briefe schreibt,
glaubst du, du seist an mehreren Orten
Geboren und jeder habe einen Absender
in dir: die Wiese, der Balkon, der Lichthof
zwischen zwei Gebäuden. Die Dinge entdecken
dich, indem du sie verwechselst, zeigen das Eine
im Anderen. Manchmal kreist ein weißer Elefant
in dieser Schrift, wie auf einem Karussell,
auf dem Alarmglocken in Kindern läuten,
die lange zögern, eh sie untergehen
und die ganze Welt nicht reicht,
die Feuerwehr zu retten.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen