Sie hat es wieder getan

Olga Grjasnowas zweiter Roman Die juristische Unschärfe einer Ehe

Von Johanna BackesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Backes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie hat es wieder getan: Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, 1992 nach Hessen übergesiedelt, inzwischen in Berlin lebend, hat ihren zweiten Roman geschrieben. Nach ihrem Debüterfolg Der Russe ist einer, der Birken liebt aus dem Jahr 2012 ist nun im August 2014 bei Hanser ihr zweites Buch Die juristische Unschärfe der Ehe herausgekommen.

Nehmen wir es schnell vorweg: Ja, es gibt viele Gemeinsamkeiten mit dem gefeierten Erstling. In Die juristische Unschärfe einer Ehe beeindruckt Grjasnowa wie schon in Der Russe ist einer, der Birken liebt mit hohem Erzähltempo. Unprätentiös und abgeklärt ohne zynisch zu werden findet Grjasnowa in beiden Büchern wenige, aber klare Worte für die tagtäglichen Gewalterfahrungen – im Privaten wie im Politischen. „Leylas Ballettlehrerin hatte sie schon früh die drei Grundarten des Schmerzes gelehrt: konstruktiv, destruktiv und chronisch.“

Das erscheint umso bemerkenswerter (oder medial wirksamer) als die Autorin sich in Interviews und auf Fotos unbetont-betont weiblich inszeniert: blasse Haut, lange Haare, weinrot geschminkte Lippen, dunkel betonte Augen. Und Feuilleton wie Leser lieben diese Inszenierung und schließen nur allzu gern von Grjasnowas Figuren auf Grjasnowa. Dabei spricht sie nicht – wie Mascha, die Hauptfigur des ersten Romans – fünf Sprachen fließend (sondern – laut Interviews – nur drei) und sie kann auch nicht – wie Leyla, eine von drei Hauptfiguren aus Die juristische Unschärfe der Ehe – hervorragend Ballett tanzen.

Was Grjasnowa dagegen fulminant beherrscht, ist das Spiel mit Lesererwartungen. Denn natürlich fühlt der Leser sich mit seinen aufgeklärt verdrängten Vorurteilen wohl, wenn ihm eine strenge, russische Musiklehrerin oder eine magersüchtige, geschminkte russlanddeutsche Studentin in Der Russe ist einer, der Birken liebt oder eben eine hart trainierende russische Ballerina in Die juristische Unschärfe der Ehe begegnen. Und natürlich fühlt er sich noch wohler, weil Grjasnowa nicht bei dem Klischee stehenbleibt, sondern ihre jeweiligen Figuren reflektieren lässt, inwieweit sie bestehenden Bildern entsprechen. Der Leser reagiert frei nach dem Motto: Ich hab keine Vorurteile gegen Migranten, ich lese Migrantenliteratur, die reflektiert, dass es keine Migrantenliteratur gibt. Migrantenliteratur ist keine Migrantenliteratur ist keine Migrantenliteratur.

Damit schließt Die juristische Unschärfe der Ehe auch inhaltlich an Der Russe ist einer, der Birken liebt an: Die drei Hauptfiguren des Romans, Leyla, Altay und Jonoun, sind – wie schon Mascha, Sami und Tal – postmigrantisch. Sie stehen für hybride kulturelle Wurzeln, die sich deutsch-jüdisch-kaukasisch-orientalisch verzweigen. Die Identität von Grjasnowas Figuren entzieht sich jedoch nicht nur bezogen auf Konstrukte wie Nation, Ethnie oder Kultur einer eindeutigen Zuordnung. Auch Sexualität und Begehren werden von ihnen – in beiden Romanen – mehrdeutig gelebt. Dass die sexuelle Hybridität ihrer Figuren im Debütroman weit weniger stark rezipiert wurde als ihre interkulturelle Herkunft, mag Grjasnowa bewogen haben, in ihrem zweiten Roman deutlicher zu werden. Während der Titel des Erstlings auf Kultur und Kulturbilder verweist, fokussiert der Titel des 2014 erschienen Romans auf Beziehungs- und Liebeskonzepte und die daraus hervorgebrachten gesellschaftlichen Institutionen (oder die aus gesellschaftlichen Institutionen hervorgebrachten Beziehungs- und Liebeskonzepte).

Im Prinzip ist der Titel von beiden Büchern irreführend, da er sich im Handlungsgeschehen nicht wiederfindet. Weder gibt es in Der Russe ist einer, der Birken liebt Birken, noch tauchen juristische Abwägungen zur Ehe in Die juristische Unschärfe einer Ehe auf. Stattdessen fungiert der Titel gleichsam als Motto (bei Kurzgeschichten würde man das literaturwissenschaftlich wohl einen verrätselnden, gleichnishaften Titel nennen). Die Titel verweisen auf konnotationsreiche Konzepte, zu deren Überprüfung Grjasnowa ihre Leser aufzufordern scheint: Was ist russisch? Was definiert eine Ehe?

Zurück zur Handlungsebene und wiederkehrenden Schemata in den Grjasnowa-Romanen: Figuren auf eine Reise zu schicken und sie so einen Bildungs- und/oder Entwicklungsprozess erleben zu lassen, hat eine lange literaturgeschichtliche Tradition, die übrigens gleichzeitig auch eine interkulturell geteilte ist (vielleicht also ‚einfach‘ ein anthropologisch-psychologisches Phänomen: „Wenn einer eine Reise tut, dann tut er was erleben“?). Die konkreten Reiseerlebnisse von Grjasnowas Figuren führen jedenfalls zu neuen und stärkeren Gewalterfahrungen: Im Erstling lernt Mascha den Israel-Palästina-Konflikt aus nächster Nähe kennen; jetzt landet Leyla als gescheiterte Ballerina und vermeintlich erfolgreiche Fahrerin illegaler Autorennen in Baku im Gefängnis, wo sie misshandelt wird. Um sich um ihre Freilassung zu bemühen, reisen ihr aserbaidschanisch-stämmiger, homo- oder bisexueller (Schein-)Ehemann Altay und ihre jüdisch-stämmige aus den USA nach Deutschland immigrierte lesbische oder bisexuelle Geliebte Jonoun ebenfalls nach Baku. Dank eines funktionierenden Systems aus Korruption und Vitamin B öffnen sich die Gefängnistore für Leyla schnell wieder. Während sie mit Jonoun eine Reise von Aserbaidschan nach Georgien und zurück unternimmt, verbindet sich Altay mit der örtlichen Kunst- und Politikszene und lässt sich auf eine Liebes- oder Sexbeziehung mit Farid, dem ältesten unehelichen Sohn des aserbaidschanischen Oppositionsführer ein. Leylas Mutter Salome bekommt ein blaues Auge und riskiert die Ermordung ihres Geliebten, Leylas Vater Nazir steht unter Überwachung, damit er seine zweite Ehefrau, die zum Clan des Regierungschefs gehört, nicht verlässt.

Bei allen Gemeinsamkeiten: Die Weiterentwicklung ist da. Die Formstrenge hat zugenommen. Das scheint zu den Protagonistinnen zu passen. Als Balletttänzerin ist für Leyla der Spiegel ein zentrales Arbeitsmittel, um die Kongruenz der tatsächlichen Form mit der erwarteten Form zu vergleichen. Durch die spiegelbildliche Anordnung der Kapitel in „Die juristischen Unschärfe einer Ehe“ wird der Leser ermahnt, genau diese Kongruenz zu prüfen – und wird feststellen, dass sich gewisse Unschärfen in die Spiegelstruktur eingeschlichen haben. Das permanente Scheitern der Figuren (und vielleicht insbesondere der ehrgeizigen Leyla) wird so auch formal gestaltet. Doch nicht nur Leyla wird ein Spiegel vorgehalten, sondern auch der Ehe von Leyla und Altay – und ihren Unschärfen. Nach Abschluss der Lektüre lässt sich nur schwer entscheiden, ob es sich hierbei nun um eine Scheinehe, eine Vernunftsehe, eine bürgerliche Ehe, eine offene Ehe, eine Freundschaftsehe, eine Liebesehe oder eine Ehe handelt, die sich aus gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnissen speist.

Und schließlich kann der Spiegel generell einen Zugang zu Grjasnowas literarischer Darstellungsweise versinnbildlichen: Ihre eigentliche Stärke ist, dass sie bei allem Erzähltempo und aller Konzentration auf wenige Figuren gesellschaftliche Themen und Fragen nicht ausblendet, sondern sie im Hintergrund aufblitzen lässt. Der Leser hat die Aufgabe, sie wahrzunehmen und sich zu positionieren.

Titelbild

Olga Grjasnowa: Die juristische Unschärfe einer Ehe. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
272 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446245983

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