Erbstreitereien in Literatur, Wissenschaft und Weltkultur

Über Stefan Willers „Erbfälle“ sowie über den gemeinsam mit Sigrid Weigel und Bernhard Jussen herausgegebenen Sammelband „Erbe“

Von Sebastian SchreullRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schreull

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Projekte an der Universität legitimieren sich meist damit, dass eine Lücke endlich geschlossen wird. Man weiß nachher mehr, als man vorher wusste. Man hat ein Wissen vermehrt, das den Nachfolgenden überliefert wird: Die Welt ist reicher an Erkenntnis geworden. Das betrifft auch Gegenstände, die so unbedeutend sein mögen wie die Neuedition eines entlegenen, frühromantischen Werks oder die Konsonantenabschwächung im Südhessischen. Wenn es aber nicht nur um einzelne Untersuchungen geht, sondern wenn man danach fragt, wie Wissenschaft sich entfaltet, sich historisch entwickelt, Wissen vermehrt oder vielleicht sogar etwas als veraltetes Wissen zurückweist, dann kann man dem Begriff des Erbes nicht ausweichen.

Im Begriff des Erbes vergewissern wir uns, dass wir unser Wissen überliefern werden, aufgeklärt und nicht begriffsstutzig. Wir müssen daher unser Erbe verändern, weil sich unser Wissen verändert. Im Erbe selbst  überschneiden sich aber das Natürliche, das scheinbar Unveränderliche, und das Gesellschaftliche: Zuweilen hat man Gene oder Meme als Ursachen für dieses gesellschaftliche Erbe angegeben, als das eigentliche Erbe. Andere haben dagegen eingewendet, dass solch ein Erbe der Natur uns nicht gegeben ist.

Es streiten sich also verschiedene Parteien und Wissenschaften um diesen Begriff, nicht nur um das Erbe selbst wird gestritten. Die UNESCO verleiht seit vier Jahrzehnten den Titel „Weltkulturerbe“. Was damit ausgezeichnet wird (seit 2013 auch das „Kommunistische Manifest“)  und unter welchen Kriterien dies geschieht, ist leider nicht so klar, auch wenn es programmatisch versprochen wird. In Frankreich oder den USA findet in den Wissenschaften schon lange eine kritische Auseinandersetzung mit Konzepten des Erbes statt. In Deutschland sind nun zwei Bücher erschienen, die sich mit dem Erbe in der Biologie, dem Recht, der Wissenschaft, der Kunst und der Aufklärung so materialreich und exakt befassen, dass sie zum Anfang einer fundierten Debatte um das Erbe auch hierzulande führen könnten. In beiden Bänden ist man nicht im naturwissenschaftlichen Sinne exakt, sondern man interpretiert die untersuchten Gegenstände, um die historische Genese des Problems bewusster zu machen.

Stefan Willers Habilitationsschrift „Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Überlieferung in der Moderne“ rekonstruiert luzide das Handgemenge, dem in der Universität wieder und wieder eine Bühne geboten wird. Es geht darum, wie der Begriff des Erbes in den unterschiedlichen Disziplinen gebraucht wurde, sei es in der Philosophie, der Genetik, der Rechtswissenschaft oder der Literaturwissenschaft. Die dort geführten Diskussionen rekonstruiert Willer mit erhellender Systematik, argumentativer Stringenz und anschaulichen Beispielen.

Um eine möglichst genaue, für alle Zeiten und Kulturen gültige Definition des Erbe-Begriffes geht es ihm nicht, sondern um einen gegenwärtig angemessenen Gebrauch, der die vergangenen Verwendungsweisen in sich aufgehoben hat. Mit der konsequent historischen Perspektive gelingt es ihm so auch, einen Widerspruch im Konzept des „Weltkulturerbes“ deutlich zu machen. Es folgt einerseits der Maxime, dass möglichst der Zustand beibehalten werden soll, den der damit ausgezeichnete Ort oder der Gegenstand vor der oder im Moment der Ernennung zum Weltkulturerbe hatte. Dass sich ein Erbe verändert, wird damit ausgeschlossen. Andererseits fordert das Erbe eine Praxis ständiger Aneignung und Aktualisierung, die historische Veränderungen mit einschließt. Dass das Erbe so stets in Gefahr bleibt, veruntreut, verschwendet oder zerstört zu werden, mit dieser Verantwortung muss man umzugehen lernen. Schließlich habe die gegenwärtige Erbengemeinschaft nicht das Recht, „zukünftige Generationen ihren Gesetzen zu unterwerfen“ (Thomas Paine). Dieser Pathos der Erneuerung und Aneignung ist in den gegenwärtigen Debatten verloren gegangen. Willer kritisiert dies vernünftig. Es sei „an der Zeit, eine Kritik der Nachhaltigkeit zu betreiben und wieder stärker an einer Dialektik des Erbes zu arbeiten“. Erst eine solche Dialektik macht begreiflich, warum eine Erbe sich verändert. Kein Erbe kann einfach in einem bestimmten Zustand konserviert werden, ein Erbe erstarrt vielmehr, wenn das als Erbe gilt, was bloß anhand bestimmter Kriterien als solches ausgewählt wird.

Gemeinsam mit Sigrid Weigel und Bernhard Jussen hat Willer einen Sammelband herausgegeben, der die historische Brisanz des Erbe-Begriffs weiter verdeutlicht und dabei die Auseinandersetzung mit dem Mittelalter verstärkt. Die Konzeption der Familie als Gemeinschaft der Erben im Mittelalter wird untersucht, aber auch der Wandel des Erbrechts in der Neuzeit. Die Aufsätze sind systematisch angeordnet, so dass sie in gewisser Weise aufeinander verweisen. Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn wir von einer Postmoderne sprechen, die das Erbe der Moderne schon hinter sich gelassen habe, werden dabei nicht übergangen. Einfache Epocheneinteilungen sind nicht das Instrument dieser Untersuchungen.

Wer nach der Lektüre beider Bücher vom Erbe spricht, weiß, dass dies wenig mit jungkonservativen oder gegenmodernen Tendenzen zu tun haben muss. Wer das Erbe der Aufklärung bloß konservieren will, wird scheitern, weil Aufklärung sich stets selbst aufklären, sich also fragen muss, was ihr Erbe gewesen sein wird. Aufklärung ist dann weder dogmatisch noch orthodox, sondern als „wirkliche Bewegung“ zu verstehen, die sich in den Auseinandersetzungen mit dem Erbe vollzieht. Eine solche Aufklärung kann nicht vergessen, sich ein Testament auszustellen, das nicht nur die Generationen überdauern wird, sondern auch das Erben selbst vergegenständlicht: als offene Aneignung, die im Widerstreit von Vernunft, Erbe und Wirklichkeit zu bestimmen ist.

Titelbild

Stefan Willer / Sigrid Weigel / Bernhard Jussen (Hg.): Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
275 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296523

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Titelbild

Stefan Willer: Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
397 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783770550685

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