„Europa“ in der Zwischenkriegszeit
Florian Greiner untersucht einen schillernden Begriff und seine historische Bedeutung
Von Martin Munke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEuropa – ein Wort, das nach wie vor große Wünsche und Sehnsüchte ausdrückt. In der Ukraine gehen Menschen dafür auf die Straße, Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten riskieren ihr Leben für die Versprechungen, für die es steht. Doch wo liegt es, dieses Europa? In den öffentlichen Debatten der Länder, die sich dem „Westen“ zugehörig fühlen – noch ein solches großes Wort – ist „Europa“ heute zumeist ein Synonym für die Europäische Union, um deren Strahlkraft es aktuell nicht allzu gut bestellt ist. Zu unsicher zeigt sich die zukünftige Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Situation. Und so scheint die Phase an ein Ende gekommen, in der „Europa“ als eine uneingeschränkt positiv gewertete Bezugsgröße galt.
Der lange Zeit in Wissenschaft und Feuilleton vorherrschende Trend einer Europa-Historiographie, die eine überwiegend gelungene europäische Integration seit 1945 in den Blick nimmt, hat so in den vergangenen Jahren einige Ergänzungen erfahren. Hier gerät nun auch die Epoche der Weltkriege in den Blick, und damit ein Zeitraum, dem man angesichts seiner zahlreichen nationalen und internationalen Antagonismen lange Zeit unterstellte, keinen Platz für ein wie auch immer geartetes Europabewusstsein besessen zu haben – abgesehen von Ansätzen wie der viel untersuchten, seinerzeit aber kaum breitenwirksamen Paneuropa-Bewegung eines Richard Coudenhove-Kalergi. Hier setzt nun die Arbeit des Augsburger Historikers Florian Greiner an, der in seiner Dissertation die Bezugnahmen auf den Begriff „Europa“ in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien der ersten Jahrhunderthälfte untersucht.
Am Anfang steht eine These: „Der menschliche Erfahrungsraum und Erwartungshorizont war […], ohne dass dies zwangsläufig reflektiert wurde, deutlich europäischer ausgerichtet als gemeinhin angenommen.“ Um dies zu untermauern, betrachtet Greiner die Europabezüge in den Artikeln führender Qualitätszeitungen der Epoche – die Kölnische und die Vossische bzw. ab 1934 die Frankfurter Zeitung für Deutschland, die Londoner Times und den Manchester Guardian für Großbritannien sowie die New York Times und die Chicago Tribune für die Vereinigten Staaten. Schon die rein quantitative Analyse ergibt hier den Befund, dass im Durchschnitt des Betrachtungszeitraums jeweils etwa fünf Prozent aller Artikel in den genannten Blättern quer durch alle Ressorts einen Bezug zu „Europa“ aufwiesen. Neben das „gedachte Europa“ der Intellektuellen trat so offensichtlich auch ein „erlebtes Europa“, wie Greiner mit Bezug auf den französischen Historiker René Girault herausstellt. Dieses manifestierte sich in drei Dimensionen.
Als erster Punkt bildete sich in jenen Jahren ein europäisch geprägtes Krisenbewusstsein heraus. „Europa“ erschien einerseits als „Ort der Krise“, andererseits aber auch als „Moment der Hoffnung“. Die erlebten politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten wurden in den untersuchten Artikeln demnach als temporäre Erscheinungen gedeutet, die überwindbar waren. Im Ersten Weltkrieg war so ein europabezogener Problemhorizont entstanden, der auch nach Kriegsende erhalten blieb. An zweiter Stelle ist die Nutzung des Begriffs „Europa“ zur inneren und äußeren Abgrenzung und zur Selbstdefinition zu nennen. Dies konnte sich in einem Überlegenheitsdiskurs äußern – etwa gegenüber den Kolonialgesellschaften –, geprägt von Gegenüberstellungen wie Zivilisation und Barbarei oder Fortschritt und Rückständigkeit. Die dabei angenommene Einheit des Kontinents war eben keine geographische, sondern eine auf solche essentialistischen Kategorien bezogen. Sie umfasste bald auch die junge türkische Republik, was auf die vergleichsweise geringe Bedeutung religiöser Zuschreibungen verweist – allen Reden vom „christlichen Abendland“ zum Trotz, die eben nur einen Teil der Wahrnehmung widerspiegeln. Und ein dritter Aspekt: „Europa“ wurde laut Greiner demnach stets mit „Moderne“ bzw. „Modernisierung“ zusammengedachte, war „Modernität“ ein „Maßstab zur Messung von Europäizität“. Dies bezog sich etwa auf Veränderungen in den Bereichen Transport oder Kommunikation, aber auch auf zunehmend massenhafte Erscheinungen wie Tourismus und Sport.
Im Ergebnis der Arbeit wird festgehalten, „dass, entgegen der in vielen ideengeschichtlich ansetzenden Studien zum Europabewusstsein in den Jahren 1914 bis 1945 artikulierten Erkenntnisse, Europa keinesfalls ausschließlich in der Krise, sondern auch mit Stoßrichtung nach außen und – sowohl als ein politischer und wirtschaftlicher Hoffnungsträger als auch als eine der Moderne inhärente Konstante – mit Blick in die Zukunft Gestalt gewann“. Das wirkt nun ein wenig wie eine nach vorn verlängerte Anknüpfung an die teleologischen Deutungsmuster zu der Zeit nach 1945, von denen sich der Autor eingangs abgrenzt. Das Problem des Elitenbezugs der Europawahrnehmung wird durch die gewählte Methode, alle Bezüge auf Europa – in was für einer Form auch immer – einzubeziehen, zwar abgemildert, aufgrund des Zuschnitts der für die Analyse gewählten Blätter gleichwohl nicht ganz gelöst. Interessant ist in jedem Fall, dass weder das Jahr 1933 noch das Jahr 1945 eine Zäsur für europabezogene Artikulationen bildete, wie lange Zeit und oft unhinterfragt vorausgesetzt. Und auch wenn die Nation die zentrale Bezugskategorie war und blieb, so existierte in der Berichterstattung der Zeit doch eine Art „banaler Europäismus“, wie er sich jenseits aller normativ aufgeladenen Ansprüche wohl auch heute finden lässt. Dabei konnten „Lesarten des Nationalen und des Europäischen sich ebenso ergänzen wie widersprechen, miteinander interagieren oder mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehen“. All die aufgeregten Diskussionen um eine fehlende „europäische Öffentlichkeit“ und die Krise des „Versprechens Europa“ erscheinen vor diesem Hintergrund eher als Produkt einer Debattenkultur, der die Rückbindung an die praktische Erfahrung breiter Bevölkerungsschichten fehlt – eine der jüngeren Veröffentlichungen des Europahistorikers Karl Schlögel zum „Grenzland Europa“ kommt zu einem ähnlichen Befund.
Greiners Buch eröffnet eine neue Reihe „Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert“, die bei Wallstein von der Potsdamer Historikern Frank Bösch und Christoph Classen herausgegeben wird. Parallel zum Buch von Greiner erscheinen hier die Ergebnisse der Dissertation der ebenfalls in Potsdam tätigen Historikerin Ariane Brill, die sich unter dem Titel „Abgrenzung und Hoffnung“ mit den Bezugnahmen auf „Europa“ in der deutschen, britischen und amerikanischen Presse nach 1945 auseinandersetzt und so Greiners Untersuchungszeitraum ergänzt. Eingebunden waren beider Arbeiten in ein von mehreren wissenschaftlichen Einrichtungen getragenes Projekt „Lost in Translation? Europabilder und ihre Übersetzungen“, das sich ganz unterschiedlichen Aspekten der Europawahrnehmung widmete. Die Bilder und Vorstellungen von „Europa“ sind und bleiben widersprüchlich – es lohnt, sich mit ihnen zu befassen.
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