Wider kulturelle Differenzschreibungen
Rudolf Käser und Beate Schappach widmen sich in einem kulturwissenschaftlich positionierten Sammelband dem Interdiskurs von Literatur, Geschlecht und Medizin
Von Katharina Fürholzer
„Wie und mit welcher Wirkung stellt Literatur die kulturspezifisch geprägte Erfahrung von Krankheit und Tod dar? Welche Funktion hat Literatur, verstanden als Spur gesellschaftlicher Kommunikation, bei der Etablierung und Transformation von Wertgefühlen, die den gesellschaftlichen Umgang mit dem Pathologischen steuern?“ Es sind diese Fragen, die den zentralen Angelpunkt des von dem Literaturwissenschaftler Rudolf Käser und der Theaterwissenschaftlerin Beate Schappach edierten Sammelbands Krank geschrieben. Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin bilden. Als Schnittmenge des umfassenden Interdiskurses von Literatur und Medizin dienen spezifische Verhandlungsweisen des Geschlechtlichen. Mit dem Ziel kontextualisierter Textanalysen mittels einer Literaturwissenschaft nach dem cultural turn vereint der Sammelband Beiträge von WissenschaftlerInnen, die vor allem in den Sprach-, Literatur-, Medien- und Theaterwissenschaften beheimatet sind. Größtenteils hervorgegangen aus der vom Arbeitskreis „Literature – Medicine – Gender“ veranstalteten Tagung „Krank geschrieben. Rhetoriken im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin“ (Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturwissenschaften, Collegium Helveticum der Universität und ETH Zürich, 13.–14. November 2009), rekurriert das Gros der Arbeiten dabei auf den westeuropäischen, und hierbei insbesondere deutschsprachigen Kulturraum des 18. bis 20. Jahrhunderts.
Einem von Käser vorangestellten Abriss theoretischer und methodologischer Ansätze zum allgemeinen Forschungsfeld von Medizin und Literatur folgen in vier übergeordnete Abschnitte subsumierte Näherungen an die kulturell geprägten Differenzpaare „gesund vs. krank“ und „weiblich vs. männlich“:
- „Konstruktion weiblicher und männlicher Identitäten“
Mittels exemplarischer Kasuistiken problematisieren Susanne Balmer, Rahel Leibacher, Rudolf Käser, Gaby Pailer, Gabriela Schenk und Virginia Pinto in diesem Kapitel soziale Konstruktionen der Gender-Differenz.
- „Einschlüsse und Ausschlüsse“
Der Zugriff institutionalisierter Diskurse auf pathologisierte Personen bildet das vordergründige Interesse der hier versammelten Abhandlungen von Martin Stingelin, Lotti Wüest und Dave Schläpfer.
- „Eskalation und Konsolidierung“
Übergehend von einer personalen auf die gesellschaftliche Ebene fokussieren Marco Pulver, Beate Schappach, Ruth von Rotz und Vera Landis auf epidemische Diskursmuster, wobei HIV und AIDS-definierenden Erkrankungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
- „Popularisierung und Breitenwirksamkeit“
In der Auseinandersetzung mit der Rolle medialer Genres (bspw. TV-Dokumentationen oder Berater-Kolumnen in Boulevardzeitungen) bei der Diskursivierung des Pathogenen stehen bei Ingrid Tomkowiak, Annika Wellmann und Sarah Lüssi breitenwirksame Popularisierungen von Wissen im Vordergrund.
Um vom Facettenreichtum der in Käsers und Schappachs Band versammelten Beiträge einen Einblick zu vermitteln, seien – der kasuistischen Vorgehensweise des Bandes folgend – drei Falluntersuchungen exemplarisch hervorgehoben, darunter zunächst Ingrid Tomkowiaks stringente Studie „Mad Scientists im Dienst eines uralten Menschheitstraums? TV-Dokumentationen über Forschungen zur Lebensverlängerung“: Um naturwissenschaftliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu erklären, werde, so Tomkowiak, in fernsehjournalistischen Reaktionen auf gentechnologische Neuerungen immer wieder auf Figuren und Motive aus Literatur und Mythologie rekurriert, die vor allem bei der Überschreitung von als natürlich definierten Grenzen zwischen Tod und Leben als „Sprachrohr kollektiver Einstellungen“ dienten. Wie Tomkowiak in ihren Darstellungen, in welchen Fragen des Geschlechtlichen eher im Hintergrund stehen, zeigt, werden durch einen solchen Rückgriff Grenzen zwischen Fakt und Fiktion überspielt und auf diese Weise genau dort archaische Empfindungen produziert, wo rational begründbare Entscheidungen gefordert wären. Es sei dieses Amalgam von Fakten und Fiktionen, so Tomkowiaks erhellender Schluss, das es für den Zuschauer schwer bis unmöglich mache, zwischen Wissenschaft und Mythos zu trennen – wodurch ein Rückfall in überwunden geglaubte Unmündigkeit drohe.
Wenn auch nicht stets in explizierter Form, schwingen in den versammelten Aufsätzen Fragen des Ethischen stets mit. So legt beispielsweise Gabriela Schenk Anknüpfungspunkte für Forschungen zur Care-Ethik frei, wenn sie Ärztinnen in populärer Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in kurzweiliger Manier eine „Lust am Scheitern“ attestiert. Obgleich die berufliche Orientierung der von ihr betrachteten Protagonistinnen eigentlich einen Widerspruch zu gängigen Genderstereotypien bedeutet, gelinge der Bruch mit Tradiertem nicht; meist um der der Liebe oder aber der Karriere eines Mannes willen scheiterten sie in Studium, Beruf und/oder Privatleben. So konstatiert Schenk mit Blick auf den beruflichen Alltag der literarisierten Ärztinnen beispielsweise eine kaum überwindbare Analogie zwischen Kranken- und Kinderpflege: „Sie kümmern sich um Kinder und wechseln Verbände – und: sie werden bestimmt keine Männer behandeln!“ Scheitern, so Schenks bemerkenswerter Kniff, erweise sich dabei jedoch letztlich als ambivalente Bewältigungsstrategie im Kampf um eine Geschlechtsidentität, welche den verschiedenen und widersprüchlichen Anforderungen an Weiblichkeit und Professionalität gerecht werde.
Einen Schlüssel zur Freud’schen Krankheitsmetaphorik bietet schließlich Martin Stingelin an, wenn er mit Blick auf den „Grenzverkehr zwischen metaphorischen Bildfeldern und demjenigen, was die Psychoanalyse im griechischen Wortsinn von θεωρία (theoría) darin zu erschauen wähnt“, Sigmund Freuds Scheu vor einer poet(olog)ischen Autoreflexion der eigenen literarischen Verfahren demonstriert. Am Beispiel von Daniel Schreber verdeutlicht Stingelin den „Kredit“, welchen Freud bei seinem berühmten „Fall“ aufnahm, indem er durch die metaphorische Lektüre von Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken die darin festgestellten Symptome eines paranoischen Wahnsystems in das psychoanalytische System rückübertrug. Abgerundet durch ein umfassendes Literaturverzeichnis erweisen sich Stingelins Ausführungen als eine konzise und bestechende Perspektive auf die Rhetorik Freuds, dessen Arbeiten ja einen wahren Fundus für die vom Sammelband angerissenen Problemfelder darstellen.
Konzipiert als primär literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektive bilden die im Band versammelten Untersuchungen (die in ihrer Qualität bisweilen etwas schwanken, wobei sich jedoch stets der jeweilige akademische Status quo der AutorInnen vor Augen gehalten werden muss) insgesamt kurzweilige und bereichernde Gedankensplitter zum diskursiven Konglomerat von Medizin, Geschlecht und Literatur. Angesichts der inhärenten Interdisziplinarität dieses Interdiskurses zeigt sich dabei die drängende Notwendigkeit auch einer dezidiert medizinwissenschaftlichen Perspektive und eines anschließend zusammenführenden Dialogs. Das beziehungsreiche Spektrum der im Band aufgeworfenen Fragestellungen lässt somit hoffen auf rege und reziproke Anschlussforschungen, die einzelwissenschaftliche Disziplingrenzen überschreiten.