Der Philologe als Kritiker

Nils Fiebig legt gesammelte Essays, Vorträge und Aphorismen von Richard Moritz Meyer vor

Von Michael PilzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Pilz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Literaturwissenschaft und Literaturkritik vielfach gegebener Konvergenzen zum Trotz als zwei sorgsam zu trennende Teilgebiete der Literaturvermittlung aufzufassen sind, von denen das eine im akademischen Feld beheimatet ist, während sich das andere in den journalistischen Gefilden der Massenmedien etabliert hat, gilt hierzulande als ausgemachte Tatsache. Bekanntlich hat auch der weitaus egalitärere Begriff des „Literary Criticism“, wie ihn der angloamerikanische Sprachgebrauch kennt, im deutschsprachigen Raum keine adäquate Entsprechung gefunden. Die Positionierungskämpfe zwischen beiden Feldern sind dabei wohl so alt wie die Grenzen selbst, die zwischen ihnen gezogen wurden, und die Stimmen, die auf ihre Einhaltung pochen, haben sich schon relativ früh recht deutlich vernehmen lassen. Wie zum Beispiel diese hier:

„Es ist eine alte Geschichte: der Literarhistoriker lasse die Gegenwart aus dem Bereiche seiner Darstellung. […] Der Kritiker, nicht der Literarhistoriker hat es mit den Lebenden zu tun. […] Wenn sich Literarhistoriker […] mit allerneuester Literatur abgeben, hauen sie fast immer bös daneben. […] Ich kenne keinen großen Literarhistoriker, der zugleich ein großer Kritiker gewesen wäre; eher noch, aber selten, umgekehrt.“

Diese Meinung hat – nicht ohne eine abschließende Volte zugunsten der eigenen Profession – der Literaturkritiker Josef Hofmiller in seinem Aufsatz „Über die Grenzen von Literaturgeschichte und Kritik“ formuliert, der vor über hundert Jahren im 9. Jahrgang 1912 der „Süddeutschen Monatshefe“ erschienen ist und sich ganz offensichtlich einer Irritation verdankte, deren Ausgangspunkt recht klar benannt wird: Neuerdings nämlich habe sich „in manchen Universitätsseminaren“ die Mode breit gemacht, dass „unbärtige Jünglinge angeleitet werden, Romane und Dramen von vorgestern literarhistorisch zu präparieren“, statt wie gewohnt mit deutlich älteren Werken des literarischen Kanons zufriedengestellt zu werden. In Zeiten, in denen die universitäre Beschäftigung mit Literatur auch ihrem Selbstverständnis nach primär als eine historische Wissenschaft definiert wurde und folglich mit Literaturgeschichte weitgehend synonym zu setzen war, galt es also nicht nur vonseiten der akademischen Zunft, die Grenzen zu wahren. Auch die Literaturkritik, die grade dabei war, sich im Gefolge Alfred Kerrs mit überbordendem Selbstbewusstsein als eine ernst zu nehmende Kunstform zu definieren und sich damit einmal mehr der nicht-akademischen Literaturproduktion zuzuschlagen, hatte ihre auf Eigenständigkeit bedachte Position gegen drohende Übergriffe aus der wissenschaftlichen Welt zu verteidigen.

Für die Germanistik identifiziert Hofmiller diese übergriffigen Tendenzen an anderer Stelle ganz explizit als das Erbe der „Schererschule“ und nennt dabei – mit Blick nach Berlin – vor allem einen Namen: Richard Moritz Meyer, seines Zeichens zunächst Privatdozent, dann ao. Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, steht exemplarisch nicht nur für die Öffnung des philologischen Interesses auf die Gegenwartsliteratur von Gerhart Hauptmann bis Stefan George, sondern auch für die Popularisierung des neu generierten Wissens in publizistischen Foren jenseits der engeren Fachöffentlichkeit.

Wilhelm Scherer hatte es bereits vorgemacht, wenn er einzelne Abschnitte aus seiner berühmten Literaturgeschichte im Feuilleton der „Neuen Freien Presse“ vorabdrucken ließ oder die Form des Essays wählte, um in Rundschauzeitschriften wie Julius Rodenbergs „Deutscher Rundschau“ vor ein bildungsbürgerliches Publikum zu treten. Meyer nun, der sich durch vielfache Aktivitäten wie die Herausgabe von Scherers nachgelassener „Poetik“ oder die Stiftung des Scherer-Preises bis hin zur Namensgebung seines ältesten Sohnes Fritz Joachim Wilhelm als eifriger Verehrer und Sachwalter seines verstorbenen Lehrers profilierte, knüpfte auch an dessen publizistisches Engagement an, übertraf es in seiner Praxis als Literaturkritiker aber bei weitem: „Meyers enorme Produktivität spiegelt sich in über einem Dutzend Bücher, unzähligen Essays, Feuilletonbeiträgen und einer Flut von Buchrezensionen, die in so unterschiedlichen Organen wie der ‚Gartenlaube‘ oder der ‚Neuen Rundschau‘ erschienen. Im Mai 1905 schrieb er die 700., im Januar 1909 schon die tausendste Besprechung“, heißt es in Nils Fiebigs instruktivem Vorwort zum Band „Moral und Methode“, mit dem nun erstmals eine zwar schmale, aber durchaus charakteristische Auswahl aus Meyers verstreuter Publizistik vorgelegt wird.

Pünktlich zum 100. Todestag des Autors im Oktober 2014 erschienen, spiegeln die fünfzehn enthaltenen Texte in mehrfacher Hinsicht das breite Spektrum von Meyers essayistischer Tätigkeit wider. Die Liste der Publikationsorte, denen sie entnommen wurden, reicht dabei vom fachwissenschaftlichen „Archiv für Kulturgeschichte“ über Revuen wie „Die Nation“ und die „Deutsche Rundschau“ sowie Literatur- und Theaterzeitschriften wie das „Literarische Echo“ und „Bühne und Welt“ bis hin zur populären Jahresbilanz „Das Jahr 1913“, die „Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung“ des deutschen Kaiserreichs in Einzelessays zeichnen wollte und in der Meyer das einschlägige Kapitel über den aktuellen Stand der „Literarische[n] Kunst“ übernahm. Meyer schreibt über aktuelle Phänomene der Moderne wie „Großstadtpoesie“ oder die „Terminologie der Reklame“ ebenso wie über „Goethe in Venedig“, „Nietzsche und die Frau“ oder den „Struwwelpeter“. Er beweist damit einmal mehr die erstaunliche Vielseitigkeit eines Germanisten, der nicht nur als Fachwissenschaftler mit Arbeiten über die „Grundlagen des mittelhochdeutschen Strophenbaus“, Beiträgen zur Schlagwortforschung, einer dreibändigen Goethe-Biographie oder einer Darstellung zur „Weltliteratur im zwanzigsten Jahrhundert“ noch die gesamte Breite des Faches abdeckte – und damit wohl als einer der letzten seiner Zunft dessen Einheit gelebt hat. Dabei wechselte Meyer auch stilistisch mühelos zwischen einer Vielfalt an Textsorten und Schreibweisen, die vom anlassgebundenen Feuilletonporträt zum 50. Geburtstag Gerhart Hauptmanns bis zur Verschriftlichung eines populärwissenschaftlichen Vortrags reichen, den er „zum Besten des Stipendienfonds der Hochschule für die Wissenschaft des Judenthums“ am 13. Februar 1893 in Berlin gehalten hatte (und der kurz darauf in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ in Fortsetzungen abgedruckt worden war).

Selbst als ein Meister pointierter Form tritt Meyer in seinen „Philologischen Aphorismen“ von 1910/11 hervor, mit denen er die Ausdrucksmöglichkeiten einer explizit literarischen Gattung – mit entsprechenden Inhalten über die Praxis der Philologie gefüllt – kurzerhand in den wissenschaftlichen Fachdiskurs der „Germanisch-Romanischen Monatsschrift“ einspeiste. Mit solchen unkonventionellen Verfahren zur Literarisierung der Literaturwissenschaft lieferte Meyer praktische Exempel für die intendierte Relativierung, wenn nicht gar Aufhebung jener „Entzweihung“ zwischen Wissenschaft und Kunst, die er in seinem Essay über das Verhältnis von „Universität und Literatur“ im „Literarischen Echo“ von 1910 so beschreibt: „Die ‚Universität‘ als staatliche Organisation des wissenschaftlichen Betriebes, die ‚Literatur‘ als soziale Organisation des poetischen stehen sich fast wie zwei feindliche Kirchen gegenüber trotz aller persönlichen Berührungen, trotz gelegentlichen gemeinsamen Aktionen, – trotz übereinstimmenden Zwecken.“ Den einschränkenden Nachsatz freilich, es stehe „doch wohl anders und besser – beiden Teilen zum Heil!“, kann Meyer nicht zuletzt unter Verweis auf die befruchtende Wirkung formulieren, die das germanistische Seminar der Berliner Universität unter Lehrerpersönlichkeiten wie Scherer oder Erich Schmidt auf das literarische Feld ausgeübt habe: Wenn er etwa namentlich Otto Brahm und Paul Schlenther als „Schüler Scherers“ sowie Alfred Kerr, Max Osborn und Arthur Eloesser als „Schüler Erich Schmidts“ apostrophiert, um zu illustrieren, wie viele „Schriftsteller […] gerade neuerdings […] von den germanistischen Seminaren ausgegangen“ seien, führt er mit den genannten Autoren zugleich eine ganze Reihe führender Kritiker-Persönlichkeiten an, die von der Philologie zum Journalismus übergewechselt waren.

Das Terrain der Kritik wird für Meyer überhaupt zum idealen Begegnungsort für die separierten Sphären der Literatur und der Wissenschaft: „Am nächsten berühren sich beide, die sich sonst vor allen in der Darstellung berührt haben, gegenwärtig in der Kritik und Ästhetik“, heißt es abschließend in seinem Aufsatz „Literarische Kunst“, der darüber hinaus bereits die explizite Aufforderung an die Philologen zu einer Rezeptionsforschung ‚avant la lettre‘ enthält. Zumindest fordert Meyer – ganz Positivist im Sinne Scherers – von der Literaturwissenschaft, ihr Augenmerk nicht allein auf die literarischen Werke zu richten; sondern „auch was sonst von den Dichtern zu melden ist, und was sich aus öffentlichen Kundgebungen irgendwelcher Art für die Entwicklung des Publikums ergibt, sollte verzeichnet werden“. Die Literaturkritik wird ihm damit beides: Gegenstand literaturwissenschaftlicher Beobachtung, den er naturgemäß auch in die Darstellung seiner literarhistorischen Grundlagenwerke einbezieht; und eine selbst geübte Praxis „zwischen literarischen und wissenschaftlichen Aufgaben“, die er engagiert betreibt.

In der Rolle des Rezensenten im engeren Sinne freilich ist der Literaturkritiker Meyer in Fiebigs Auswahlband nur mit einer einzelnen Sammelbesprechung über „Vier große Romane“ aus dem Jahr 1910 vertreten, in der er Thomas Manns „Königliche Hoheit“ neben drei heute wohl zu Recht vergessenen Erzählwerken von Gustav Frenssen, Enrica von Handel-Mazzetti und Ernst Zahn behandelt. Allein Auswahl und Zusammenstellung dieser Rezensionsobjekte unter dem gemeinsamen Attribut der „Größe“ sagt von heute aus betrachtet viel über die Veränderbarkeit von Wertungsmaßstäben und über Perspektivenverschiebung bei wachsendem historischen Abstand und laufenden Kanonisierungs- und Dekanonisierungsprozessen aus. Auch insofern würde eine Auswahledition von Meyers Rezensionen, die er „im Dienst des Tages“ verfasst hat, einen interessanten Beitrag zur Geschichte der Literaturkritik und des literarischen Feldes im frühen 20. Jahrhundert liefern.

Der nun vorgelegte Band jedenfalls macht durchaus Lust auf mehr Meyer-Lektüre, wobei freilich anzumerken bleibt, dass künftigen Editionen etwas größere Sorgfalt bei Texterfassung und -wiedergabe zu wünschen wäre: Flüchtigkeitsfehler insbesondere in der Namensschreibung sowohl im Vorwort als auch in den abgedruckten Primärtexten häufen sich in störendem Ausmaß. Aus Ernst Curtius wird ein „Curius“, aus einem Schüler ein „Schüller“ oder – in buntem Wechsel mit der korrekten Schreibung – aus Michael Bernays ein Herr „Bernay“. Der Maler Arnold Böcklin wird gar zu einem „Böckling“ und Alfred Kerr zu „Alfred Kehr“ verballhornt. Das sind durch die Bank Schludrigkeiten, die sich durch ein genaueres Lektorat leicht hätten vermeiden lassen. Zumal Genauigkeit eine philologische Tugend ist, die der Edition von Texten eines so namhaften Philologen, wie es Meyer war, besonders gut zu Gesicht stehen würde – auch und gerade, wenn es sich dabei um Texte journalistischer Provenienz handelt.

Titelbild

Richard M. Meyer: Moral und Methode. Essays, Vorträge und Aphorismen.
Hg. von Nils Fiebig.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
320 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315457

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