Zusammen und allein

Zwei reiche Inspirationsquellen von Katja Kraus und Ina Schmidt mit Geschichten und Gedanken zur Freundschaft

Von Alexandra HildebrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Hildebrandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gute Geschichten

„Menschliches Erleben findet in der Welt der Bedeutungen, der Konversation und des Erzählens statt. Das Individuum ist konzipiert als Erzähler, der sich durch Erzählungen Wirklichkeit erschafft, verständlich macht und seine Stellung in der Gesellschaft bestimmt. Erst damit, erst dadurch entwickeln wir Identität. Der Wert von Geschichten liegt in der Bedeutung, die sie generieren.“ Das sagte der Publizist Manfred Bissinger auf dem Deutschen Medienkongress 2015.

Wir brauchen gute Geschichten und Bücher, die immer eine Bedeutung haben und so geschrieben sein sollten, dass sie Sinn schaffen, andere angehen und dazu bringen, das Wesentliche und Einzigartige zu erkennen – auch als Wegweiser zum inneren Leben.

Der Psychologe Gary Klein spricht sogar von einer „Macht“, die von ihnen ausgeht. Eine Gestaltungskraft für ein gelingendes Leben. Das erfordert eine Scheidekunst, die Fähigkeit, wählen zu können, die auch mit Verantwortung verbunden ist – und mit Macht. Denn „Fürsein“, also „für“ etwas verantwortlich zu sein, ist auch eine Machtbeziehung.

Das doppelsinnige Wort Potenz gehört hierher, weil es auf die Kraft des Menschen (seine Potenz), aber auch auf das Mögliche (das Potenzielle) verweist. Dass sich die Autorin Katja Kraus nach ihrem ersten Buch „Macht. Geschichten von Erfolg und Scheitern“ nun dem Thema Freundschaft gewidmet hat, erscheint vor diesem Hintergrund wie eine logische Folge.

In ihrem neuen Buch „Freundschaft. Geschichten von Nähe und Distanz“ geben namhafte Vertreter/innen aus Politik, Kultur und Sport Auskunft über ihr Verständnis von Freundschaft, deren Bedeutung in ihrem Leben, aber auch über den Umgang mit Brüchen in persönlichen Beziehungen. Es widmet sich unter anderem den Fragen: Gibt es die „Freundschaft fürs Leben“? Wie ist es, wenn eine Freundin plötzlich zur Konkurrentin wird? Und was ist das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz?

Dazwischen-Sein

Die Begriffe Nähe und Distanz im Titel des Buches von Katja Kraus deuten an, wie wichtig es der Autorin ist zu zeigen, dass wahre Freundschaft den Spielraum zum Anderen hin erhalten und fördern muss – das „Dazwischen“ (Martin Buber), in dem das Bewusstsein von Eigenständigkeit und die Entfaltung von Verschiedenheiten gedeihen. Freundschaft braucht Luft: Sie muss einatmen (engl. to inspire, auch „inspirieren“) und ausatmen (engl. to expire, auch „sterben“) können.

Das gelingt nur durch Nähe und Distanz und zeigt sich besonders beeindruckend im Kapitel über den Schriftsteller Benjamin Lebert. Er zitiert im Gespräch mit Katja Kraus zwei Sätze, mit denen er das Freundschaftsgefühl am trefflichsten beschrieben sieht: „Das erste Fundstück ist ein Lied von Roger Waters aus den Siebzigern. Der singt darin die Zeile ‚If I were a good man, I’d understand the spaces between friends‘. ‚Sich nicht alleine fühlen, Räume überbrücken, aber zugleich die Zwischenräume achten‘, deutet er den Songtext für sich als ideale Koexistenz von Nähe und Distanz.“

Auch Egon Bahr, für den Willy Brandt ein Lebensfreund noch nach dessen Tod ist, verbindet Freundschaft vor allem mit dem Respektieren der jeweiligen persönlichen Grenzen: „Es sei nun mal so gewesen, dass man Brandt nur nahe kommen konnte, wenn man ihm nicht zu nah kam.“

Das kluge Ausbalancieren von Nähe und Distanz, die Ferne des Gegenübers erst einmal anzuerkennen und sich dann für Freundschaft zu entschließen, ist heute keine Selbstverständlichkeit. Mit Blick auf sein Buch über die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller sagte Rüdiger Safranski einmal sehr treffend, dass wir oft entweder Beziehungslosigkeit haben oder klebrige Nähe.

Katja Kraus verwebt den behandelten Stoff immer auch mit ihrer eigenen Geschichte. Nähe und Distanz erhalten auf diese Weise einen eigenen Bedeutungshorizont. So beschreibt sie nach einer beruflichen Veränderung „eine wackelige Phase der Neuorientierung“, in der auch enge Freunde „eine Zeit der Sortierung gebraucht“ haben, oder die Zeit nach dem Tod ihres Vaters, die sie auf eine Weise verändert hat, „die alles Dagewesene berührt, alles in Frage stellt. Und in der Trauer nach Verbindungen mit Menschen suchen ließ, die einen solchen Verlust kennen, weil nur darin das Gefühl von uneingeschränktem Verständnis liegt. Fremde sind mir in dieser Zeit ganz nah gekommen und Vertraute fremd geworden. Mir selbst wurde dabei offenbar, wie fern ich Freunden trotz aller Nähe geblieben bin, wenn sie in einer vergleichbaren Situation gewesen sind. Wenn sie etwas erschüttert oder mindestens beschäftigt hat, was ich nicht selbst erfahren habe.“

Ihr Buch ist ein Produkt der Liebe und nicht mehr (ihrer anfänglichen) Verliebtheit (ins Schreiben). Das zeigt sich auch am Thema selbst, denn Freundschaft kommt der Liebe am nächsten – aber ohne Verführbarkeit durch eine alles verzehrende Leidenschaft. Der Kulturhistoriker und Publizist Hermann Glaser bezeichnet Freundschaft deshalb als „Liebe mit Verstand“. In Katja Kraus‘ Buch sagt Egon Bahr: „Freundschaft ist unauslöschliche Liebe ohne Sex.“

Gespräch und Dialog sind hier wie in ihrem ersten Buch Gattung und Darstellungsform, die dem dialogische Credo Nietzsches folgt, dass „die Wahrheit zu zweit beginnt“. Ihre Reihenfolge entspricht der Kapitelstruktur des Buches: Egon Bahr, Marina Weisband, Jürgen Klopp, Jürgen Flimm, Bettina Böttinger, Christoph Metzelder, Claudia Roth, Ali Mahdjoubi, Jean Remy von Matt, Sylvia Bovenschen, Maria Höfl-Riesch, Gregor Gysi, Herbert Hainer, Barbara Auer, Andrea Fischer, Benjamin Lebert, Rene Adler, Sahra Wagenknecht, Manfred Bissinger, Roger Willemsen und Joseph Vogl. Jedes in sich abgeschlossene Kapitel belichtet einen Teil von Freundschaft.

Katja Kraus‘ Lesereise zu folgen bedeutet auch, vom Wunsch nach fertigen Antworten Abschied zu nehmen. Es wirft an vielen Stellen mehr Fragen auf als Antworten gegeben werden. Das entspricht vielleicht ihrer Überzeugung, dass jede Antwort nicht differenziert genug, anmaßend oder voreilig wäre.

Am Ende ihres Buches ankommen bedeutet, sich zu finden in eigenen gedanklichen Rahmenbildungen, die allerdings kein fertiges Bild ergeben. Denn das Buch lässt sich nicht in ein schlichtes Entweder-oder-Schema fügen, wie es vor allem für Ratgeberliteratur charakteristisch ist.

Viele Freundschaftsbücher sind umfangreicher, detaillierter, philosophischer und wissenschaftlicher als das von Katja Kraus. Aber all das ist nicht wichtig, wenn ein Buch wie ein Freund ist. Es öffnet sich dem, der darin etwas sucht und deshalb auch mehr findet.

Was Freundschaft hervorbringt

Das Buch von Katja Kraus ist im besten Wortsinn ein Beziehungswerk, das zugleich zeigt, dass Lesen, Schreiben und Freundschaft auch Arbeit ist, die sich durch Übung, Wiederholung, Konzentration und neue Facetten und Kombinationen auszeichnet. Und Gestaltung.

So heißt es im Kapitel über Roger Willemsen, dass das größte Glück in seinem Leben mit dem Hervorbringen zusammenhängt: „Die Selbsthervorbringung durch seine Bücher und das Erschaffen seiner Freundesbeziehung. Die Zugehörigkeit von Freunden, die sich nie gesehen haben und doch durch ihn zu einem Verbund werden.“

Der Inhalt bestimmt auch die Gestaltung des Buches: Auf dem Titelblatt sind im Hintergrund gefüllte Weingläser sichtbar – davor ein roter Kreis, der wie ein vergrößerter Blutstropfen anmutet. Blut und Wein verleihen dem Thema eine starke symbolische Kraft, denn Blut ist Leben und Wein ein Urbild für den Menschen, Quelle des Daseins und des Todes.

Er muss wie die Freundschaft immer wieder gepflegt, beschnitten und veredelt werden, um in Fülle Früchte und Blüten zu tragen. Seine Botschaft reift an den Rebstöcken. Wer sie kennt, kennt den Grund des Daseins. Um Wein zu gewinnen, müssen die Trauben erst den Winter überstehen und ausgepresst werden. Auch Freundschaft ist eine ständige Transformation.

Der Kreis auf dem Titelblatt ist deshalb so viel mehr. Er erinnert auch an den Satz von Botho Strauß: „Alles Runde tröstet, die eine Spitze tötet. Der Kreis wurde nur zu unserem Trost erfunden.“

Dass Freundschaft auch trösten und Schutzräume bieten kann, frei von Ängsten und überzogenen Erwartungen, zeigt das Buch auf vielfältige Weise. Es setzt die verschiedenen Spielarten von Freundschaft und deren Bedeutung in unserem Leben in Beziehung.

Ich möchte es hier in Beziehung setzen zu einem anderen neuen Freundschaftsbuch. Dabei kann und soll jedes für sich stehen. Doch erst in der Verbindung zum anderen zeigt sich die Qualität, die von einem solchen Thema ausgeht, in seiner Breite und Tiefe.

Die Qualität der Freundschaft

Aristoteles hat in seiner Philosophie mit dem Begriff der „praxis“, im Unterschied zu dem der „poesis“, ein Handeln bezeichnet, dessen Zweck nicht außerhalb dieses Handelns liegt, sondern in ihm selbst. Es geht darum, die Qualität der Freundschaft, die weder zielführend noch ergebnisorientiert ist, im eigenen Tun immer wieder aufs Neue sichtbar werden zu lassen.

Während sich Katja Kraus den Geschichten zum Thema Freundschaft widmet, fragt die Philosophin Ina Schmidt in ihrem Buch nach dem, was diese Geschichten in einem Phänomen vereint, und nach den Problemen, die sich im manchmal sehr schwierigen Umgang mit Freundschaft zeigen.

Freundschaft scheint für sie heute „eine mögliche Antwort auf die fragmentarischen Lebensformen und Rollenbilder zu sein, denen wir nach Auflösung vieler traditioneller Lebenszusammenhänge in unserem Leben begegnen, eine Möglichkeit, die auch einen sozialen Brückenschlag von der analogen zur digitalen Wirklichkeit machbar erscheinen lässt.“

Das, was Freundschaft ihrer Ansicht nach braucht, ist zum einen die gefühlte Nähe zu einem anderen Menschen, der die Welt ähnlich zu sehen imstande ist wie man selbst. Dabei ist er nicht nur Gefährte, sondern auch Gegenüber, nicht nur Unterstützer, sondern auch Herausforderer, so dass sich beide als wahrhaft gleichwertige Partner in einer Freundschaft verstehen können.

Das ist selten und kostbar. Davon gibt es verschiedene Spielarten, wie sie auch im Buch von Katja Kraus beschrieben sind, die jedoch nicht darin verkommen dürfen, dass wir diesen ursprünglichen Anspruch vollständig aus den Augen verlieren. Die Qualität der Freundschaft ist für Ina Schmidt eine hochethische Angelegenheit. Wenn sie es nicht ist, dann haben wir es mit Bekanntschaften, Komplizen, Kontakten oder Kumpels zu tun, die sicher auch wichtig im Leben sind, aber nicht mit Freunden verwechselt werden sollten.

Das Buch enthält sechs Kapitel, in denen es um die großen Fragen geht, die Freundschaft greifbar werden lassen: Was ist ein Freund? Was ist der Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft? Woran ist Freundschaft erkennbar? Auf welche geistigen und kulturellen Wurzeln greift unsere Idee von Freundschaft zurück? Wie wählen wir unsere Freunde aus? Was macht einen Menschen für uns anziehender als einen anderen? Gibt es so etwas wie eine Grenze der Freundschaft? Woraus entsteht der Wunsch sich zu befreunden? Was ist ursächlich und was die Folge?

Ina Schmidt setzt diese und weitere Fragen in ein nachhaltiges Verhältnis und zeigt, dass ein wahrer Freund jemand ist, „der uns hilft, wenn wir uns unseres eigenen Wertes nicht mehr sicher sind. Weil er uns kennt und weil er an dieser Stelle nicht verhandelt, sondern gemeinsamen Prinzipien folgt“. Freundschaft beinhaltet für sie aber auch Ernsthaftigkeit, die auf einer geistigen Verwandtschaft beruht und dennoch in Form von Umfangsformen sichtbar ist.

Sie weist aber auch nach, dass der Philosoph (philos) als Freund der Weisheit (sophia) die Freundschaft in verschiedenen Ansätzen bereits in seiner traditionellen Bestimmung verankert findet. In der Philosophiegeschichte ist freundschaftliche Zugewandtheit in der Regel die Basis für Erkenntnis, die sich besonders gut in der Unterhaltung, im Dialog entwickeln kann.

Im zweiten Kapitel widmet sie sich der Freundschaft im Wandel von der Antike zur Moderne, im dritten den Social Networks und der Ökonomisierung der Freundschaft. Der berühmten Frage von Max Frisch „Sind Sie sich selbst ein guter Freund“ geht sie im vierten Kapitel nach. Die beiden letzten stellen die Praxis der Freundschaft in den Mittelpunkt sowie Wege des Gelingens.

Freundschaft ist für Ina Schmidt nicht nur eine besondere Form der Liebe (wie Montaigne sagt), sondern auch eine ganz eigene geistige Qualität, die sich im Augenblick einer „sympathischen“ Begegnung zeigen kann und dann aber eine Entscheidung von uns fordert, sich um dieses „Potenzial“ zu kümmern. Sie vergleicht es mit dem Bild eines Gartens, eines Samens, der aufgehen kann, aber nicht muss.

Der Garten und seine Pflege, das Umgraben, Umwenden, Eingraben, Auflockern und Einebnen ist nicht nur ein schönes Sinnbild für Freundschaft, sondern auch für das Zusammenspiel von Lebensinhalt und –form. Erst über die Einsamkeit des Gartens, sagt Horaz, der zusammen mit seinem Carpe Diem ein „Lebe im Verborgenen“ zur Maxime erhob, ist es möglich, „den Tag zu pflücken“, was angesichts der Todesgewissheit und mancher Alltagssorgen elementarstes Prinzip eines glücklichen Lebens ist. Die Bücher von Katja Kraus und Ina Schmidt sind für alle, die sich mit solchen Gedanken „befreunden“, eine reiche und nie versiegende Inspirationsquelle, weil sie beim Lesen „mehr“ werden.

Titelbild

Ina Schmidt: Auf die Freundschaft. Eine philosophische Begegnung oder Was Menschen zu Freunden macht.
Ludwig Verlag, München 2014.
240 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783453280458

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Katja Kraus: Freundschaft. Geschichten von Nähe und Distanz.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
256 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100021960

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch