Auf dem Buchrücken des Tigers

Ulrich Zieger fabuliert in seinem Roman „Durchzug eines Regenbandes“ über die Unzuverlässigkeiten des Erzählens und Erzählers

Von Bernd SchneidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Schneid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman „Durchzug eines Regenbandes“ des Dramatikers, Lyrikers und Schriftstellers Ulrich Zieger überzeugt durch eine weitreichende Erzähllust, die einen auf den ersten Blick an die vielen Geschichten von Boccaccios „Dekameron“ denken lässt. Vielleicht lauert auch hier irgendwo die Pest oder eine ähnliche Katastrophe. Genau sagen lässt sich das jedenfalls nicht, denn der Roman ist nicht einfach zusammenzufassen. Eine Krankheit wird jedenfalls schon zu Beginn mit einem Zitat von Eugène Ionesco heraufbeschworen. Sicher ist dieser Roman aber ein Ab- und Hochgesang auf die Literatur. Dazu dient nicht von ungefähr das sich in der Erzählung wiederholende Thema von „Fahrenheit 451“ und jener durch Ray Bradbury berühmtgewordenen Temperatur, bei der Papier zu brennen beginnt.

Ziegers Roman ist durch eine Dreiteilung strukturiert, die da heißt: (links), (Mitte), (rechts). Die Teile wechseln den Duktus vom unzuverlässigen Erzähler im Imperfekt über den Ich-Erzähler im Präsens wieder hin zum Präteritum des Ich-Erzählers. Der Inhalt gliedert sich folgendermaßen: Da ist der Journalist Norden, der von einem Fremden – der sich Weh-Theobaldy nennt – besucht wird und der ihm vom Königssturz des phantastischen Volksstammes der Lapislazuli erzählt. Nach dieser seltsamen Begegnung besucht Norden den befreundeten Maler Vektor Bollo und verliert sich in den Straßen der Stadt. Der zweite Teil spielt in einem etwas entrückten Dorf. Der 23-jährige Harro Mittwich ist hier der Erzähler und berichtet von seiner Familie und dem Tod seiner Mutter, die nicht so richtig betrauert werden kann. Im dritten Teil berichtet ein desillusionierter, delirierender und liebesbesessener Maler aus seinem Leben in einem schwer greifbaren Bewusstseinsstrom zwischen Zitaten zu Prominenten und Fernsehfiguren. Am Ende taucht fast nebenher wieder der Journalist Norden auf, der vielleicht ermordet wurde. Eindeutig beantwortet der Roman das nicht.

Auch wenn Ziegers Roman keine einheitliche Geschichte bietet, lässt er viele Interpretationsmöglichkeiten zu und ist ein spannendes Vexierspiel zwischen Sein und Schein. Es geht um Bewusstsein, Identität, Erinnerung, Erzählen, Selbst- und Medienreflektion. Die scheinbar falschen Eigennamensschreibungen weisen auf eine Zeit- und Identitätsentrückung hin, die kein Zufall ist. So wird beispielsweise Henrik zu Hendrik Ibsen und auch die Geliebte des letzten Erzählers Frau Pupp erinnert nicht von ungefähr an dessen Drama „Nora oder Ein Puppenheim“. Diese Namensverschiebungen und die Unzuverlässigkeit der Eigennamen stellen ständig die Frage nach dem Sinn von Identität(en) und dem Doppelgänger, der immer auch ein böser Zwilling und ein Mörder sein kann. Die verschiedenen Teile des Romans spiegeln dies und durchdringen sich in einer zeitenübergreifenden Erzählebene, als „Ballade von der Zeitreise, auf der man sich selbst überholt, sich dabei partiell vielleicht sogar verlorengeht“.

Man könnte noch so viel mehr sagen. Festzuhalten bleibt aber, dass „Durchzug eines Regenbandes“ ein gelungener Gegenwartsroman zum Wiederlesen und Phantasieren ist. Es ist die Geschichte vom Verlust der Heimat und ein Plädoyer für das unzuverlässige Subjekt des zeitgenössischen Erzählers. Ein der Romantik naher Diskurs mit der Sehnsucht nach der blauen Blume ist hier mit dem phantastischen Volk der „Lapislazuli“ eingewoben. Das Buch wird zudem auch medial selbstreflektiert, wenn es die von Friedrich Nietzsche geborgte Metapher vom Rücken des Tigers verwendet, der in Träumen hängt.  Zusammenfassend ist der Roman eine verwirrende, aber lohnenswerte Spurensuche nach einem Mörder, der nicht weiß, dass er einer ist.

Titelbild

Ulrich Zieger: Durchzug eines Regenbandes. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
683 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783100022677

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