Vom Verschwinden

Peter Neitzke schreibt über einen, der Andere in Luft auflöste

Von Michael KurzmeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Kurzmeier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Morelli verschwindet ist, so der Klappentext, ein „zeitdiagnostisch kluges, dringliches und poetisches Buch über das Verschwinden“. Soweit ist das richtig, behandelt der Roman doch das Verschwinden des windigen Autors und Aushilfsarchitekten Frantz Morelli. Doch natürlich bleibt es nicht dabei, denn in diesem Buch verschwindet nicht nur Morelli, sondern noch viel mehr. Zuerst natürlich auch Morellis Auftraggeber und späterer Verfolger, der um seinen Vorschuss geprellte Barpianist Gregor Hellmann. Er taucht jedoch im Verlauf der Geschichte immer wieder auf, damit er dem Leser von den Dingen berichten kann, die vor seinen Augen verschwunden sind. Das sind nämlich Geschichte und Geschichten, ihre Interpretationen und auch die Verhältnisse, die sie hervorgebracht haben. Der aus der Zeit gefallene Barpianist jagt so dem wegrationalisierten Architekten und mit einer Schreibblockade geplagten Autor nach, erfährt mehr oder weniger nützliches aus dessen Vergangenheit und trifft ihn schließlich in Dubai wieder. Das ist einer der Orte, an dem Verschwunden geglaubtes wieder auftaucht: aus Frankfurt lang verschwundene Tagelöhner, Leiharbeiter ohne Pässe, Gastarbeiter in eingezäunten Baracken. Sie ließ der Bauboom zurück, ebenso wie die Wüste der leerstehenden Bürotürme in Frankfurt und Dubai. Frantz, so lernt der Leser, ist dabei etwas mehr als nur ein Aushilfsrädchen in der Maschine. Er lässt die Verantwortlichen dieser Zustände verschwinden – ganz wortwörtlich lösen sich die Manager einfach in Luft auf. Wie genau man so etwas anstellt, wird natürlich verschwiegen.

Ist dieses Buch unkonventionell? Bricht es mit Konzepten der Körperlichkeit und lässt die Protagonisten ihre Umgebung transzendieren? Nein, das tut es beides nicht. Morelli verschwindet ist ein nostalgisches Buch, das mit einem bekannten und bewährtem Personen- und Ortsregister eine bekannte Geschichte erzählt. Man kann es mit den Werken von William Gibson vergleichen, nur dass hier eben zwei „analogue Outlaws“ unterwegs sind. Diese Geschichte von zwei, die für ihre Umwelt quasi schon verschwunden sind, weil die Grundlage ihrer Existenz schlechthin nicht mehr existiert, wird klassisch ausstaffiert: Da findet sich ein alter Opel Kapitän, Schreibmaschinenseiten, ein Telefonregister und allerhand andere Relikte aus der analogen Welt. Allein die Vorstellung, jemand könne komplett unerreichbar sein und müsse persönlich an einem exotischen Ort gesucht werden, zeigt die Ausrichtung des Titels recht deutlich. Dabei macht diese Konventionalität und Nostalgie den Roman sicher nicht zu einem schlechten Buch, denn sie wird konsequent und ohne Kitsch durch die Erzählung hindurch Aufrecht gehalten. Die beiden Artefakte einer alten Gesellschaft lehnen alle vermeintlichen Segnungen des Informationszeitalters ab, glauben nicht an eine digitale Transzendenz und frönen so der Körperlichkeit. Das Buch endet übrigens mit einer Schlägerei der beiden Protagonisten.

Die Erzählweise passt sich so der konventionell unkonventionellen Handlung an. Es gibt natürlich Sprünge und lose Enden, Einschübe und Anmerkungen im Text, aber die Handlung bleibt doch größtenteils stringent, die einzelnen Personen unterscheidbar. Da wirkt es ironisch, wenn Morellis alter Mentor diesem selbst den Rat gibt: „Du musst den Antiroman schreiben, ohne jede geschlossene Ordnung. Musst deine Leser zu Komplizen machen. Ihnen so etwas wie eine Fassade mit Türen und Fenstern geben, nicht mehr. Dahinter werden sie jede Menge unaufgelöster Widersprüche finden.“ Nun ist dieses Gespräch so ernst oder ironisch wie jedes andere im Roman, zum Antiroman wird er dadurch aber sicher nicht. So bleibt nach dem Lesen der Eindruck zurück, Morelli verschwindet habe weniger eingelöst als anfangs versprochen. Durch seine poetische Dichte und Eindringlichkeit ist das Buch aber durchaus eine Hommage an eine analoge Vergangenheit, an Barpianisten und schrullige Autoren, klassische Ermittlungsarbeit und den Glauben, in Dubai sei alles ganz anders als in Frankfurt.

Titelbild

Peter Neitzke: Morelli verschwindet. Roman.
Hablizel, Lohmar, Rheinl 2015.
139 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783941978195

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