Die gegenwärtige Vergangenheit als poetisches Motiv

In „Etwas, das im Himmel wohnt“ erneuert Cardenal unser Bewusstsein, indem er Vergessenes und Verdrängtes zum literarischen Thema macht

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Alan Pauls El pasado (2003, deutsch: Die Vergangenheit) löst sich Sofia, die frühere Liebe des Protagonisten, von ihren Ketten der Vergangenheit, um in Form eines Rachegespenstes wieder in die Gegenwart zu dringen. Während in El pasado das Vergangene das Antlitz des Schreckens trägt und der Protagonist aufgrund der ständigen Vergegenwärtigung der vergangenen Liebe in ein vernichtendes Spiel aus emotionaler Erpressung, Verrat und Drogen gezogen wird, strebt Ernesto Cardenal in Etwas, das im Himmel wohnt (2014) gerade nach jener Vergegenwärtigung der Vergangenheit, anstatt diese – wie der Protagonist von Pauls – zu verdrängen. Denn die Rückwendung zur Geschichte hat, so Helmut Koch in Ernesto Cardenal (1992), für den „Propheten Nicaraguas“ eine fundamentale Bedeutung: „Es geht ihm um die Selbstvergewisserung der eigenen Herkunft, um vergessene und verdrängte Vergangenheit mit all ihren offensichtlichen Brüchen und Kontinuitäten, um die Suche nach der verlorenen, zerstörten Identität und deren mühevolle Rekonstruktion, um Kritik an der Geschichte und um die Gewinnung neuen Selbstbewusstseins und neuer Kraft, die die jahrhundertealte Geschichte des Leids, der Erniedrigung, aber auch des Widerstandes in eine Zukunft geglückter Selbstbestimmung verwandelt.“

In dem dritten Gedicht von Etwas, das im Himmel wohnt, das den Titel Humboldt trägt, werden die Eindrücke, die Lateinamerika auf den – von Bolívar als den wahren Entdecker Amerikas bezeichneten – begeisterten Naturforscher ausübten, von Cardenal in einer solchen Unmittelbarkeit dargestellt, dass eine regelrechte Gegenwärtigkeit des Vergangenen evoziert wird: „Jetzt / auf dem Balkon mit dem Blick auf die Seine / erhält er Nachrichten von Bolívar“. Warum Cardenal Humboldt zum Thema dieses Gedichtes macht, wird deutlich, wenn er schreibt: „Für Humboldt lag der Wohlstand Amerikas / darin, die Zivilisation mit den Indios zu teilen.“ Denn auch für den ehemaligen Kulturminister Nicaraguas liegt in einer Rückwendung zu Werten wie Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit, die seiner Meinung nach in den indigenen Gesellschaften stark ausgeprägt sind, ein Weg in eine bessere Welt begründet. Die Vermischung von moderner Zivilisation und indigenen Gesellschaften – mit einer Hegemonie der westlichen Kultur – ist somit, wie es der nicaraguanische Schriftsteller Erick Aguirre Aragón beschreibt, eine poetische Vision Cardenals.

Die indigenen Welten werden von Cardenal in Humboldt jedoch– wie vorher schon in El estrecho dudoso und Homenaje a los indios americanos – überhöht und idealistisch dargestellt, wenn er schreibt: „Die große Zahl indianischer Rassen / alle frei / sich selbst regierend“.

Nicht nur in Humboldt, sondern auch in dem Gedicht Der Ursprung der Arten wendet sich der Gründer der kontemplativen Gemeinschaft Solentiname dem Vergangenen in seiner ursprünglichsten Form zu, indem er den Ursprung des Universums zum Thema dieses lyrischen Textes macht. Wie in seinem Cántico cósmico sinnlich erfahrbar wird, kommt auch in diesem Gedicht Cardenals Auffassung zum Ausdruck, dass das Prinzip der Harmonie und das Urgesetz der Liebe jene Gesetzmäßigkeiten seien, die den Ursprung des Universums, aber auch die physische Welt bestimmten. So heißt es in Der Ursprung der Arten: „wir alle sind eine Modifikation eines anderen“ und „Wir gleichen uns so sehr / dass wir in Wirklichkeit / Variationen des gleichen Themas sind“.

Die Rekurrenz Cardenals auf die Vergangenheit soll also stets eines leisten: Bewusstsein schaffen für die zahlreichen Möglichkeiten, die sich jenseits des eingeschlagenen Pfades der Kommerzialisierung, der Individualisierung, der Loslösung vom Glauben, von Bräuchen, Lebensformen und Mythen realisieren könnten, wenn man ihnen erlauben würde aus dem Licht der Vergangenheit oder aus dem Verharren in der Marginalität herauszutreten. Der Mitgestalter der Rebellion gegen den nicaraguanischen Diktator Somoza möchte nämlich vor allem – und dies zeigt sich auch ganz klar in dieser Auswahl an neueren Gedichten – unser Bewusstsein erneuern. Hierfür zeigt er Alternativen, aber auch falsch eingeschlagene Richtungen, wie das unreflektierte Benutzen eines Handys, für dessen Herstellung Krieg um Coltan im Kongo geführt wird, auf. So kann seine Ästhetik als funktionale charakterisiert werden, die ihren Fokus – mit Roman Jakobson formuliert – nicht auf die poetische, sondern auf die appellative Funktion legt.

Die lateinamerikanische Dichtung war schon immer dadurch bestimmt, dass in ihr soziale und politische Themen überwogen, und auch dieser Gedichtband Cardenals – wie auch weite Teile seines Werkes überhaupt – weist eine deutliche Tendenz zum sozialen Engagement auf, wobei es auch Episoden der puren Freude einer ästhetischen Perzeption der Wirklichkeit gibt, wie zum Beispiel in dem Gedicht Sehnsucht nach Venedig: „herrliche Paläste, an denen die Farbe abblättert / der Putz abbröckelt / leicht zur Seite geneigt / doppeln sich im Wasser die Paläste / […] / Paläste in der Farbe von Melonen / Mandarinen Schokolade“.

Lutz Kliche hat in Etwas, das im Himmel wohnt eine Zusammenstellung von neueren Gedichten Cardenals übersetzt, die thematisch die ganze Bandbreite des nicaraguanischen Dichters noch einmal vor Augen führen und sich gleichzeitig als Resümee und als Fortschreibung seines Lebenswerkes lesen lassen. Dieser Lyrikband beschränkt sich nicht auf „poetische Themen“, sondern ist eine „littérature engagée“, die zwar nicht mehr auf Flugblättern weitergereicht werden wird – wie es innerhalb der Widerstandsbewegung UNAP (Unidad Nacional de Acción Popular) gegen Somoza der Fall war – aber dennoch Denkanstöße gibt, Informationen vermittelt und vielleicht ja sogar doch einige Handlungsimpulse setzt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Ernesto Cardenal: Etwas, das im Himmel wohnt. Neue Gedichte.
Übersetzt aus dem Spanischen von Lutz Kliche.
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2014.
98 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783779505112

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