Alles sehen, nichts verstehen

Michael Wildenhain schreibt mit „Das Lächeln der Alligatoren“ einen Roman über Liebe, Schuld und den Deutschen Herbst

Von Ina WestermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ina Westermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Kind stößt Matthias seinen kleinen Bruder beim Spielen vom Bett – ein Unfall, der zu einer nicht heilbaren geistigen Behinderung des Bruders führt. Der Vater verlässt die Familie, der Bruder wird von nun an von einem Pflegeheim ins nächste geschoben, und Matthias wächst bei seiner Mutter auf. Einige Jahre lang lebt der Bruder in einem Pflegeheim auf Sylt. In einem Sommer, Matthias ist bereits ein Teenager, besuchen er und seine Mutter ihn dort.  Matthias verliebt sich in die Pflegerin seines Bruders, Marta. Er entwickelt eine regelrechte Besessenheit, stellt ihr nach, beobachtet sie beim Duschen mit dem Fernglas. Diese jugendliche Faszination von der Erotik Martas wird auch später nicht nachlassen, und auch die Position des unbeteiligten Beobachters wird Matthias nicht aufgeben.

Jahre später ist Matthias Student der Informatik in West-Berlin und lebt bei seinem Onkel. An der Uni trifft er Marta wieder und beginnt eine Affäre mit ihr. Er lernt ihr soziales Umfeld kennen, ihre linke Kommune, sieht sich mit ihr Pasolini-Filme an, die ihn jedoch abschrecken. Er nimmt mit ihr an Demonstrationen teil und fordert die Freilassung der ersten RAF-Generation aus der Isolationshaft. Zum politischen Klima hat er aber eigentlich keine Meinung; das Gerede von Martas ‚Kiffer-Kommune’ nervt ihn. Ihm geht es nur darum, in ihrer Nähe zu sein. Dabei bleibt er immer am Rande, immer noch der junge Matthias, der versucht, durch ein Fenster einen Blick auf Marta zu erhaschen. Doch trotz der Einblicke, die er bekommt, sieht er nicht, wie radikal Marta und ihre Freunde sind, sieht es erst, als es zu spät ist.

Die Perspektive des Erzählers ist die eines erwachsenen Mannes, der rückblickend versucht, die Geschichte seiner Kindheit und Jugend zu rekonstruieren. Im Vordergrund steht dabei nicht das nachträgliche Verstehen einer politisch krisenreichen Zeit, sondern die subjektive Wahrnehmung der eigenen Geschichte. Dass diese Wahrnehmung lückenhaft und teils verfälschend sein kann, ist dem Leser bewusst. Denn auch Wildenhains Sprache ist die Sprache der subjektiven Erinnerung. Kleinigkeiten werden detailliert geschildert, wichtige Ereignisse wiederum werden grob umschrieben. In der Darstellung der Liebe des Erzählers zu Marta und in der Beschreibung seiner Familie ist der Erzähler wortreich. Andere Ereignisse wiederum, vor allem solche, die sich der ‚großen’ Geschichte zuordnen lassen und mit Schuld behaftet sind, etwa Terrorismus und Nazivergangenheit, werden vom Erzähler nur schattenhaft angedeutet. Insofern ist die Sprache aber auch authentisch, denn so funktioniert das Gedächtnis, die Erinnerung.

Der Roman behandelt zwei altbekannte Themen: ‚Boy meets girl’ und die Gewalt der deutschen Geschichte. Beides haben die LeserInnen schon oft gelesen und gesehen. Und ja, Das Lächeln der Alligatoren ist ein Roman des Erinnerns, nicht mehr und nicht weniger. Auch wenn das Thema der politischen Radikalisierung ein aktuelles ist, bleibt Wildenhain in der Vergangenheit. Der Roman unterscheidet sich dennoch von den zahlreichen anderen Büchern und Filmen zur deutschen Zeitgeschichte. Er versucht nicht, an das kollektive Gedächtnis zu appellieren und das universale Bild einer Zeit zu malen, sondern erzählt die gewaltreiche Geschichte Deutschlands aus der Perspektive eines Mannes, der nie wirklich in die Gewalt involviert war, immer nur von außen versucht hat in ein Inneres zu blicken. Dessen Liebes- und Familiengeschichte, die Wildenhain zu erzählen versucht, ist jedoch unvermeidlich von dieser Gewalt durchtränkt. Gerade das macht den Roman so spannend: Er erzählt ein Stück Zeitgeschichte aus der Sicht derjenigen, die sich nie beteiligt haben und trotzdem mitschuldig sind, und die die Gewalt niemals verstehen. Ob die rückblickende Aussage des Erzählers, „vielleicht ist Verstehen nichts anderes als eine subtile Form von Gewalt“, als Weisheit oder als Wegsehen gelesen werden soll, liegt im Auge des Betrachters.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michael Wildenhain: Das Lächeln der Alligatoren.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015.
242 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783608939736

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